Fremde Federn

Tankrabatt, Eurobarometer, Lavender

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wie das Finanzministerium per Tankrabatt Ölkonzerne gepampert hat, ein verhalten positiver Blick auf die Europawahlen und warum die Erderhitzung Wohlstand kostet.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Wie das Finanzministerium per Tankrabatt Ölkonzerne gepampert hat

piqer:
Ralph Diermann

Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine stiegen die Energiepreise in Europa stark an. Um die Bürger zu entlasten, gewährte die Bundesregierung den Ölkonzernen 2022 einen milliardenschweren Rabatt auf die Mineralölsteuer, befristet von Anfang Juni bis Ende August – verbunden mit der Maßgabe, den Nachlass an die Kunden weiterzugeben.

Das haben die Fossilkonzerne jedoch nur zu einem Teil getan, viel von dem Geld floss über den Umweg der Autofahrer in ihre eigenen Kassen. Fragdenstaat.de hat nun das Bundesfinanzministerium mit Verweis auf das Informationsfreiheitsgesetz gezwungen, die Regierungsdokumente zur Genese des Tankrabatts einschließlich ampelinterner Mails zur Verfügung zu stellen.

Mit deren Auswertung können die Rechercheure von Fragdenstaat.de belegen: Dem Ministerium war natürlich völlig klar, dass es den Abfluss von Mitteln zu den Ölkonzernen nicht verhindern kann. Statt nun die Idee wieder einzustampfen, hat sich das Lindner-Ressort für einen dreisten Move entschieden: Es hat die Verantwortung für die Weitergabe des Rabatts dem Bundeskartellamt und damit dem grün geführten Bundeswirtschaftsministerium – dort ist die Behörde angesiedelt – auferlegt. Warum Habeck dem im Bundeskabinett zugestimmt hat, ist dann allerdings nochmal eine andere Frage.

FragdenStaat.de ist kein journalistisches Medium. Dieser Beitrag erfüllt aber dennoch die Anforderungen an einen Piq, da die Autoren journalistischen Standards gerecht werden. So haben sie etwa das Finanzministerium mit den Ergebnissen ihrer Arbeit konfrontiert. Auch haben sie die erhaltenen Dokumente online gestellt, so dass sich ihre Interpretationen überprüfen lassen.

Ein verhalten positiver Blick auf die Europawahlen im Juni 2024

piqer:
Jürgen Klute

Am 16. April 2024 hat das Europäischen Parlaments im Rahmen einer Presskonferenz die Ergebnisse der Frühjahrs-Umfrage des „Eurobarometer“ vorgestellt. Es wurden allerdings nicht allein Zahlen präsentiert. Die Umfrage bezog sich einerseits auf das Interesse an den Europawahlen, die vom 6. bis 9. Juni 2024 in den EU-Mitgliedsländern stattfinden. Zum anderen wurden auch Einschätzungen und Haltungen von Wählerinnen und Wählern zur EU und speziell zum Europäischen Parlament abgefragt. Insgesamt haben Bürgerinnen und Bürger nach dieser Umfrage ein zunehmend positives Bild von der EU und dem Europäischen Parlament.

Michael Stabenow hat für das deutschsprachige belgische Portal Belgieninfo, das sich vor allem an in Belgien lebende deutschsprachige „Expats“ richtet und auch an die deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens in den belgischen Ostkantonen, die Ergebnisse der Frühjahrsumfrage zusammengefasst – und dabei natürlich auch einen Blick auf das Verhältnis der Belgier und Belgierinnen zur EU gerichtet.

Über die zerplatzten Illusionen des ökoemanzipatorischen Projektes

piqer:
Thomas Wahl

Soziopolis bringt einen instruktiven Auszug aus dem Buch von Ingolfur Blühdorn „Unhaltbarkeit. Auf dem Weg in eine andere Moderne“ sowie eine Rezension dazu. Zur Einstimmung auf den Buchausschnitt schreibt Soziopolis:

„Ja, mach nur einen Plan / Sei nur ein großes Licht / Und mach dann noch ’nen zweiten Plan / Gehn tun sie beide nicht.“ Diese bekannte Strophe aus Bertolt Brechts „Lied von der Unzulänglichkeit des menschlichen Strebens“ beschreibt gewissermaßen in a nutshell die dilemmatische Zeitdiagnose, von der Ingolfur Blühdorns Buch „Unhaltbarkeit. Auf dem Weg in eine andere Moderne“ seinen Ausgang nimmt. Dieser Diagnose zufolge befinden sich nicht nur die westlichen Gesellschaften gegenwärtig in einer tiefen, ihre politische Freiheit und ihren wirtschaftlichen Wohlstand bedrohenden Krise, sondern auch die ökoemanzipatorischen Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Gruppen, die Ende der Siebzigerjahre angetreten waren, um diese Gesellschaften zu transformieren.

Die Frage, warum die emanzipatorischen großen Utopien des letzten Jahrhunderts in der geplanten Umsetzung dann so gründlich schief gingen und warum auch die sozialökologische Wende nicht gelingen will, treibt ja viele engagierte Menschen um. Was stimmt einerseits an den zu Grunde liegenden Theorien nicht und warum halten dann so viele Aktive an schon überholten theoretischen Mythen fest?

Natürlich war und ist auch die sozioökologische Transformation (SÖT) nicht durch eine einheitliche Bewegung getragen, sondern ist, wie Blühdorn in seinem Buch schreibt,  eher „eine sozialwissenschaftliche Abstraktion, ein regulatives Ideal“. Die verschiedenen Strömungen in dem ökoemanzipatorische Projekt (ÖEP) werden durch verschiedene konstitutive Elemente und Strategien charakterisiert.

Einige Strömungen verfolgten radikale, fundamentalistische und revolutionäre Strategien, andere setzten eher auf reformerische Ansätze und eine Politik der kleinen Schritte. Aber das Leitbild, das Bekenntnis, war allemal der ökologische und soziale Umbau der Gesamtgesellschaft, der letztlich ein gutes Leben für alle in einer ökologisch intakten Umwelt sichern sollte. Das Ziel war eine demokratisch verhandelte, kontrollierte, verantwortliche Transformation, keine durch Katastrophen und Notstände erzwungene; eine Transformation durch Design, nicht durch Desaster.  (Ingolfur Blühdorn: „Unhaltbarkeit. Auf dem Weg in eine andere Moderne; E-Book, Position 660 von 1118)

Auch wenn wir wissen, dass die existierende Ordnung ökologisch und sozial nicht nachhaltig ist, dass ein »Weiter so« nicht funktionieren kann, die gegenwärtige Weltordnung tatsächlich unhaltbar geworden ist:

Der Glaube und die Hoffnung, dass sich die neue, transformierte, sozial, militärisch und ökologisch befriedete (Welt-)Gesellschaft tatsächlich verwirklichen lassen wird, sind ins Wanken geraten. Mehr noch: Zentrale Werte wie Demokratie, Gleichheit oder universelle Rechte stehen selbst zur Diskussion. (E-Book, ebda)

Es schwindet der Glaube, das Ökologie- und Klimathema könne die gesamte Menschheit zu einer kollektiv handelnden Gemeinschaft wandeln. Hatten doch gerade die Ökobewegungen

stets geglaubt und gehofft, auch eine pluralisierte, differenzierte und multikulturelle Welt werde – und müsse – in globalen Risiken und Bedrohungen wie dem Klimawandel einen gemeinsamen normativen Bezugspunkt erkennen, zu einer gemeinsamen globalen Vernunft finden und zu einer Risikogemeinschaft verschmelzen.

Ähnlich erweist sich auch die Hoffnung auf eine kollektive vernunft- und moralgeleitete Selbstbegrenzung mit dem Ziel des »guten Lebens für alle« als illusorisch. Weil auch die allseitig informierten, urteilsfähigen, mündigen und verantwortlichen Bürgerinnen und Bürger nicht wirklich existieren, um in zivilgesellschaftlicher Kooperation das gute Leben für alle zu organisieren. Die real existierenden Menschen passen offensichtlich mehrheitlich nicht zu den Gesellschaftskonzepten.

Ebenso erweist sich die Überzeugung als unhaltbar, dass mehr Demokratie unbedingt zu mehr Nachhaltigkeit führe. In der Annahme, die Zivilgesellschaft und insbesondere sie selbst würden das wahrhaft Vernünftige vertreten, hatten die Bewegungen immer fest daran geglaubt, dass eine Ausweitung der Möglichkeiten zur politischen Partizipation und insgesamt eine Demokratisierung der Demokratie der aussichtsreichste Weg zu einer umfassenden Nachhaltigkeitswende seien.

Was wir beobachten ist aber eher, dass die demokratische Teilhabe Druck auf die politischen Eliten aufbaut, die Externalisierung sozialer und ökologischer Kosten des etablierten Energie- und Industriesystems fortzuführen. Oder auch aussichtsreiche Technologien wie Kernkraft oder Gentechnik zu verbieten oder zu verzögern. Zwar zeigt sich auch, dass Autokratien etc. mit begrenzten demokratischen Rechten die ökologische Nachhaltigkeit noch weniger im Blick haben.

Tatsächlich sind aber Demokratien qua Demokratien in besonderem Maße verantwortlich für die rasante Beschleunigung des Rohstoffverbrauchs und der Umweltzerstörung seit den fünfziger Jahren. Der emanzipatorische Kampf für mehr Gleichheit, Teilhabe und Selbstbestimmung ist eine wesentliche Ursache für die davonlaufende Umweltkrise. Und gerade im Strudel der aktuellen Krisen wird die Demokratie zur »gläsernen Decke« der transformativen Politik und zum wesentlichen Legitimationsinstrument für die fortgesetzte Nicht-Nachhaltigkeit.

Demokratie scheint also die Geschwindigkeit der Transformation dramatisch zu verlangsamen? Was wohl auch für den überwundenen Realsozialismus gegolten hat. Und In dem man diesem Scheitern einfach einen Namen gibt (Neoliberalismus, Kapitalismus etc.) und damit einen simplen Ursache-/Wirkungs-/Schuld-Zusammenhang unterstellt, erklärt man ebenfalls wenig und versteht auch die Komplexität der Entwicklung moderner Gesellschaften nicht. Wir erleben also im Zusammenprall mit der Wirklichkeit eine Mehrfachkrise unserer Selbstbilder und Narrative.

Doch genau wie in der spätmodernen Konstellation der Mythos der globalen Führungsrolle und Überlegenheit moderner westlicher Gesellschaften zusammenbricht, zerfällt innerhalb dieser Gesellschaften eben auch der Mythos von der Führungsrolle und Überlegenheit der Pioniere des ÖEP.

Wir stehen also in der Tat vor einer Wende oder zumindest vor einer Erkenntnis, in der wir mit Formeln wie »Ende oder Wende!«, »Weiter so ist keine Option« oder »Wir stehen am Abgrund« nicht weiterkommen. Wie Blühdorn in seinem Buch schreibt (E-Book, Position 512):

Es ist nicht die Wende, die Erhard Eppler sich einst vorgestellt hatte,  und auch nicht das, was in sozialwissenschaftlichen und Bewegungskreisen heute als »sozialökologische Transformation« firmiert. Auch ein Ende ist deutlich erkennbar. Aber es ist nicht der Untergang der Menschheit oder die Unbewohnbarkeit des Planeten, vor denen Aktivistinnen und Aktivisten seit Jahrzehnten warnen. Beides sind mögliche Szenarien, aber beides scheint nicht unmittelbar akut. Beendet scheint vielmehr die Konjunktur des ökoemanzipatorischen Projekts und des Glaubens an die von Eppler einst beschworene Machbarkeit des Notwendigen.

Was folgt möglicherweise daraus für den weiteren Weg? Peter Wagner interpretiert (und zitiert) in seiner o.g. Rezension „Zeitenwende, einmal anders“ Blühdorn wie folgt:

Die Erfahrungen, die mit der ökologischen Wende, der Demokratisierung der Demokratie und der Ausweitung individueller Freiheit gemacht wurden, ziehen Einsichten nach sich, die zum Umdenken bewegen. „[D]ie Selbstbeschreibung und das Selbstverständnis moderner Gesellschaften als liberaler, demokratischer, gerechter, inklusiver, ökologischer und weltgesellschaftlich orientierter offener Gesellschaften“ sind dabei, „nachjustiert“ zu werden (S. 111), weil die Nebenfolgen des Erfolgs zu bearbeiten sind.

Dabei warnt Blühdorn laut Wagner vor der Hoffnung,

dass die selbstzerstörerischen Tendenzen des Kapitalismus zu dessen Überwindung führen können. Es ist seines Erachtens plausibler, anzunehmen, der Erhalt des westlichen Kapitalismus mit seiner auf Wohlstand und Sicherheit basierenden Lebensform führe zu einer Anpassung der grundlegenden Werte – „aus freier Entscheidung und im Namen der Sicherung und Verteidigung ihres eigenen Wohlstands“ (S. 156). Dies kennzeichnet den gegenwärtigen Übergang von der zweiten in die dritte Moderne: „Emanzipatorische Bemühungen um Ökologisierung, mehr Selbstbestimmung und mehr Demokratie bewirken stabilisierte Nicht-Nachhaltigkeit, die Verabschiedung des autonomen Subjekts und die Dysfunktionalität der Demokratie.“ (S. 330)

Das würde vermutlich bedeuten, dass die sich entwickelnde zukünftige Gesellschaft

„nicht nur weiterhin kapitalistisch und gemessen an hergebrachten Nachhaltigkeitsnormen weiterhin nicht-nachhaltig sein wird, sondern drittens auch autokratisch-autoritär – und zwar nicht nur, weil das von außen erzwungen würde, sondern ebenso, weil sich von innen ein entsprechendes Verlangen herausbildet.“ (S. 136)

Das wird vielen von uns nicht gefallen. Aber vielleicht hat Blühdorn recht, wir sollten den Übergang von der zweiten in die dritte Moderne als Unterminierung des Bestehenden und nicht direkt als Scheitern, als Ende der Menschheit verstehen. Die Zukunft ist offen und nicht das Ende der Welt …

Erderhitzung kostet unseren Wohlstand

piqer:
Nick Reimer

Dieser Zug ist abgefahren: Selbst wenn die menschlichen Treibhausgas-Emissionen ab heute drastisch reduziert werden würden, muss die Weltwirtschaft durch die Klimaerhitzung bis 2050 einen Einkommensverlust von 19 Prozent verkraften. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, in der auf der Grundlage von empirischen Daten der letzten 40 Jahre die zukünftigen Auswirkungen veränderter klimatischer Bedingungen auf das Wirtschaftswachstum berechnet wurde: unvorstellbare 38 Billionen US-Dollar weniger – und zwar jedes Jahr.

Die Probleme sind vielfältig: Dürren oder Starkregen raffen zum Beispiel Ernten oder Infrastruktur dahin. Die zunehmende Hitze führt zu Erschöpfung bei Beschäftigten, was die Arbeitsleistung verringert. Dürren führen zu weniger Flußwasser, was die Wirtschaft austrocknet, etwa weil Lieferketten unterbrochen werden oder Kühlwasser für Kraftwerke fehlt. Neue Krankheiten belasten die Gesundheitssysteme und erhöhen den Arbeitsausfall. Steigende Meeresspiegel verschlingen Unsummen zum Bau von höheren Deichen – die ja doch nichts nützen, weil die Pegel immer weiter steigen.

Nicht die erste Studie mit diesem Ergebnis. Expert:n­nen des Versicherers Allianz hatten zum Beispiel 2023 berechnet, dass die verminderte Produktivität einer einzigen sommerliche Hitzewelle im Zuge der Erderhitzung in den Vereinigten Staaten, Südeuropa und China im Schnitt 0,6 Prozentpunkte des Bruttoinlandsprodukts kostet. Die Bundesregierung bilanzierte, dass allein in Deutschland mindestens 145 Milliarden Euro Schäden zwischen 2000 und 2021 durch die Folgen der Erderhitzung entstanden sind. Je nachdem, wie der Klimawandel fortschreitet, liegen die zukünftigen Kosten bis 2050 hierzulande zwischen 280 und 900 Milliarden Euro.

Die Tendenz ist also eindeutig. Anders Levermann, Leiter der Forschungsabteilung Komplexitätsforschung am PIK und Autor der Studie:

Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird der Klimawandel zu katastrophalen Folgen führen. Die Temperatur des Planeten kann nur stabilisiert werden, wenn wir aufhören Öl, Gas und Kohle zu verbrennen.

Klimaklagen bringen Klimaschutz voran

piqer:
Ole Wintermann

Klimaklagen von NGO und Regierungen gegen Unternehmen, die entweder ihre Klimaschutzbemühungen nicht ernsthaft verfolgen, ihre offensichtlich klimaschädlichen Aktivitäten ungebremst fortsetzen oder aber Greenwashing betreiben, scheinen einer Auswertung von NATURE nach in Summe Erfolg zu haben. Gleiches gilt auch für Klagen gegen vorgebliche politische Klimaschutzversprechen, die sich auf noch nicht ausgereiften Techniken wie dem Entzug von CO2 aus der Atmosphäre beziehen.

Die Wirkungen werden auf verschiedenen Ebenen erreicht. Zum ersten gibt es die Gerichtsurteile selbst, die Unternehmen (s.a. Shell) oder Regierungen (s.a. Niederlande) verbindlich verpflichten, ihre Klimaschutzbemühungen zu verstärken.

Zum zweiten gibt es die negativen Folgen für Unternehmen allein durch das Anstrengen eines Prozesses, die sich in fallenden Aktienkursen und Reputation deutlich machen.

Zum dritten führen die Prozesse global zu Vernetzungen der Bemühungen von Regierungen und NGO, um den Klimaschutz flächendeckend voranzubringen.

Seit 1986 wurden 2.340 Prozesse gegen Unternehmen und Regierungen initiiert, wovon zwei Drittel nach Abschluss des Pariser Klimaabkommens angeschoben worden sind.

Ein Text, der dir hilft, jede Dekarbonisierungsidee zu bewerten

piqer:
Rico Grimm

Woran erkennst du einen wirklich guten Text? Daran, dass er große Ideen und Strukturen in wenigen Worten knapp auf den Punkt bringt. Dieser Blogpost des britischen Energieexperten Ben James ist so ein Text.

James gibt uns Lesern eine Analysestruktur an die Hand, um die zahllosen technischen Ideen zu sortieren, die zur Dekarbonisierung herumgeistern:

Fast jede Technologie für eine umfassende Kohlendioxidreduzierung ist auf eine von drei kritischen Komponenten angewiesen, um zu funktionieren: Saubere Elektrizität, Biomasse oder Kohlenstoffabscheidung bzw. Kohlenstoffentfernung.

Was nicht in diese Struktur passt, wolle fast immer die Nachfrage senken, bspw. wenn weniger Lebensmittel verschwendet werden sollen. Die Nachfrage lässt sich aber nicht unendlich senken.

Und, das war es auch schon, das war die ganze Struktur. James dekliniert sie in seinem Post an mehreren Beispielen durch. Wichtig dabei: Seine drei kritischen Komponenten sind alle begrenzt.

Man könnte alle Eier (Bioenergie) für ein Omlett (Düsentreibstoff) verwenden, aber dann bliebe nichts mehr übrig, was man für andere Dinge (Chemikalien, Stahl usw.) verwenden könnte.

Wie Israels KI-System „Lavender“ Gaza bombardiert

piqer:
René Walter

Im Januar schrieb ich hier über den sich abzeichnenden AI-Military-Complex und bereits dort erwähnte ich auch ein in diesem Gaza-Krieg erstmals angewandtes AI-basiertes Zielsystem der israelischen Armee. Das „Gospel“ genannte AI-System analysiert alle verfügbaren Daten, „einschließlich ‚Drohnenaufnahmen, abgefangene Kommunikationen, Überwachungsdaten und Informationen aus der Beobachtung von Bewegungen und Verhaltensmustern von Einzelpersonen und großen Gruppen‘. Damit konnte die IDF die Zahl der generierten Ziele von 50 pro Jahr auf 100 pro Tag erhöhen, bei denen es sich um ‚Personen, die autorisiert sind, ermordet zu werden‘, handelt.“

Nun hat das palästinensisch-israelische +972 Magazine einen neuen Bericht über weitere Bestandteile des israelischen AI-Systems veröffentlicht: „Lavender“ und „Where’s Daddy“ wurden gerade in den Anfangstagen des Krieges ausgiebig genutzt, nicht nur um tausende von neuen Zielen für Bombardierungen festzulegen, sondern auch um automatisch den Aufenthaltsort der einzelnen Zielpersonen zu verfolgen und einen Bombenangriff zu starten, sobald die Menschen ihre Häuser betraten.

Desweiteren bestätigt der Bericht Befürchtungen, dass AI-basierten Zielsystemen von Soldaten und Entscheidern zu viel Vertrauen entgegengebracht wird und eine technologisch bedingte Erosion von ethischen Bedenken einsetzt: Grade in den frühen Phasen des Kriegs hat die Armee anscheinend praktisch alle ai-generierten „Kill Lists“ von „Lavender“ durchgewunken, ohne die Daten zu prüfen oder die Entscheidungen der Maschine zu evaluieren. Menschliche Entscheider hätten nur noch als „Abstempler“ für Maschinenentscheidungen gedient, obwohl die Armee wusste, dass das Zielerfassungssystem eine Fehlerquote von bis zu 10% aufweist.

Im Januar schrieb ich dazu: „Eine Studie von 2022 ergab, dass Menschen KI-Systemen in ethischen Entscheidungsprozessen übermäßig vertrauen, während eine wissenschaftliche Vorveröffentlichung aus dem Oktober 2023 eine „starke Neigung zum übermäßigen Vertrauen in unzuverlässige KI bei lebensentscheidenden Entscheidungen unter unsicheren Umständen“ feststellte, in einer Reihe von Experimenten, die „Vertrauen in die Empfehlungen künstlicher Agenten bezüglich Entscheidungen zum Töten“ untersuchten.“

Es ist die Banalität des Bösen, aktualisiert um Künstliche Intelligenz und Algorithmen. Waren es bei Hannah Arendt noch Sprache, Bürokratie und Befehlskette, die das Böse vor der Selbstwahrnehmung der Mörder verschleierte, ist es im Fall des Israel-Hamas-Krieges eine Auslagerung der Entscheidung selbst an eine synthetische „Kill List“, die nur noch halbformal abgenickt wird, um den Mord an der Zivilbevölkerung auch vor sich selbst zu rechtfertigen.

Israels Vergeltungskrieg für den Überfall der Hamas und das Massaker am 7. Oktober kostete bislang 34.000 Menschen das Leben, davon 33.091 auf Seiten der Palästinenser, rund 70% der palästinensischen Todesopfer sind Frauen und Kinder. Fehlerquote „circa 10%“.