In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Ein Jahr Atomausstieg: Eine Erfolgsgeschichte – mit etwas Schatten
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Ralph Diermann
Energiewirtschaft und Umweltverbände, die Kommentatoren der seriösen Medien und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sowieso: Sie alle ziehen ein Jahr nach Abschalten der letzten Atomkraftwerke eine überaus positive Bilanz. Die Versorgung ist sicherer denn je, CO2-Emissionen und Börsenpreise sind gesunken – ein großer Erfolg, heißt es unisono.
ZEIT-Redakteurin Anja Stehle gießt nun etwas Wasser in den Wein, indem sie deutlich macht, dass nicht alles Gold ist, was da glänzt. Zum einen weist sie darauf hin, dass das Energiesystem viel zu komplex ist, um die Entwicklung bei den Börsenpreisen und den Emissionen so eindeutig auf den Atomausstieg zurückführen zu können. Auch lasse sich nicht leugnen, dass mit dem Abschalten der letzten AKWs eine klimafreundliche Technologie aus unserem Energiesystem verschwunden ist. Mit der Atomkraft wäre der Strommix heute noch sauberer (was die Autorin aber nicht als Plädoyer für die Rückkehr der Kernenergie verstanden wissen will).
Vor allem aber: Jenseits des Atomausstieges gibt es bei der Energiewende noch so viele ungelöste Aufgaben. Vor allem steht viel zu wenig Geld zur Verfügung, kritisiert Stehle. Der Bund müsse weit mehr Mittel bereitstellen – etwa für den Stromnetzausbau, die Finanzierung der EEG-Umlage, den Aufbau der Wasserstoffwirtschaft und die Installation von Backup-Gaskraftwerken. Auch brauche es eine ehrliche Diskussion darüber, ob die Lasten der Energiewende fair verteilt sind. Davon hänge auch deren Akzeptanz ab: Die finde der Umbau des Energiesystems nur, wenn er auch ökonomisch ein Erfolgsmodell wird und sozial verträglich bleibt.
Klimaschutz als europapolitisches Wahlkampfthema
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Jürgen Klute
Klimaschutz wird schwierig, sobald er konkret wird. Denn dann wird deutlich, dass er nicht kostenlos zu haben ist und dass er konkrete und mitunter auch unangenehme Verhaltensänderungen erfordert sowie Veränderungen der vorhandenen Infrastruktur, die auf der Nutzung fossiler Energieträger basiert. Das führt zwangsläufig zu Konflikten. Diese Konflikte machen sich Parteien der extremen Rechten in Europa zu nutze, um ihren Stimmenanteil im Europäischen Parlament bei der nächsten Europawahl im Juni 2024 auszuweiten. Ihre Chancen stehen dabei gar nicht mal schlecht. Sie sind zwar nach wie vor weit entfernt von einer Mehrheit.
Problematisch wird ein – wenn auch begrenzter – Erfolg extrem rechter Parteien bei der Europawahl dadurch, dass sich die konservative EVP (EPP) im Europäischen Parlament unter der Leitung des CSU-MdEP Manfred Weber seit längerem zur extremen Rechten hin öffnet, um aus wahltaktischen Gründen die ursprünglich sehr ambitionierte Klimaschutzpolitik der ebenfalls konservativen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auszubremsen. Zu Lasten der nachkommenden Generationen.
Nora Laufer hat in ihrem Beitrag für den Wiener Standard die Positionen der rechtsextremen Parteien in verschiedenen EU-Mitgliedsländern zum Klimaschutz dargestellt und eine Einschätzung von deren Einfluss auf eine wirksame Klimaschutzpolitik in der kommenden Legislaturperiode vorgenommen.
Zur nicht überraschenden Beschleunigung der globalen Erwärmung
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Dominik Lenné
Es gab in letzter Zeit etliche Beiträge, die betonten, wie unerwartet für die Wissenschaftler der Temperatursprung in 2023 war und wie sie darum ringen, ihn zu erklären. Siehe etwa hier oder hier.
Diesmal geht es um einen Beitrag des Klimawissenschaftlers Zeke Hausfather auf der sehr empfehlenswerten Site carbonbrief.org, der sich nicht mit diesem Sprung, sondern mit der Beschleunigung des Trends befasst. Der Beitrag ist länger und nicht einfach zu lesen, da sehr faktenreich und gespickt mit Links. Ein ebenfalls empfehlenswerte lesefreundlichere Darstellung mit guten Grafiken findet sich in der Washington Post.
Unstrittig ist, dass die Erwärmung sich in den letzten 15 Jahren beschleunigt hat, auch wenn es nicht ganz klar ist, um wie viel. Von 1980 bis 2008 hatten wir eine recht konstante Erwärmungsrate von 0,18 °C/Dekade; danach stieg diese auf das 1,7-fache, wenn auch mit einem großen Unsicherheitsbereich.
15 Jahre sind für die sichere Einschätzung von Erwärmungstrends nur aus Temperaturdaten zu kurz. Das zeigte sich bei dem „Hiatus„, einer vermeintlichen Pause der Erwärmung von 1998 bis 2012, die sich später als eine Mischung aus Messfehlern und bloßer Fluktuation entpuppte.
Es gibt aber mehrere Argumente dafür, dass es sich diesmal nicht um eine reine Fluktuation handelt: Satellitenbasierte Messungen der absorbierten und re-emittierten Strahlung der Erde zeigen eine Zunahme der Wärmeaufnahme, der sogenannten Earth Energy Imbalance (EEI), die wahrscheinlich durch die geringere Luftverschmutzung und auch durch die dadurch verringerte Wolkenbedeckung verursacht wird.
Dies passt zu der durch viele Temperaturmessungen in verschiedenen Tiefen festgestellten Erhöhung der Wärmeenergie der Ozeane. Das ist deshalb relevant, weil 90% der vom Globus aufgenommenen Wärmeenergie in den Ozeanen landet.
Schließlich – und das ist die Kernaussage des Artikels – passt die Beschleunigung auch zu den Computermodellen, wenn man die erhöhten EEI-Werte und die nicht verminderte Emission von Treibhausgasen dort einbezieht.¹
Dies entspricht dem sogenannten „Shared Socioeconomic Pathway“ SSP2-4.5. Die SSPs sind Szenarien für Klimasimulationen, in die Annahmen über Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum sowie Entschiedenheit und Erfolg der Dekarbonisierungsmaßnahmen eingegangen sind. Das SSP2-Narrativ nennt sich „middle of the road“: Wir dekarbonisieren, aber so zögerlich, dass die globalen Emissionen erst spät sinken. Dies würde die Welt 2100 zwischen 2,1 und 3,5 °C über Basislinie landen lassen, wenn sich das Klima verhält wie einprogrammiert. Das Pariser Abkommen wäre damit Makulatur.
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¹ Tatsächlich stiegen 2023 die globalen CO₂-Emissionen durch fossile Brennstoffe und die Konzentration des Gases auf ihre bisherigen Höchstwerte.
Guter Deep Dive: Kippt der „Golfstrom“ oder nicht?
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Rico Grimm
Der Text, den ich heute empfehle, ist keine leichte Kost, gebe ich zu. Aber nicht, weil er unverständlich wäre. Sondern weil der Klimaforscher Stefan Rahmstorf darin unser aktuelles Wissen über die schwächer werdende Atlantische Umwälzströmung (Atlantic Meridional Overturning Circulation, AMOC) zusammenfasst und aufbereitet. Es ist ein Deep Dive, der für wirklich interessierte Laien gerade die richtige Mischung aus Tiefe und Kürze hat. Bookmarkwürdiger Text!
Die AMOC ist umgangssprachlich als „Golfstrom“ bekannt. Der ist aber nur ein Teil eines größeren Systems – und dessen Versagen wäre eine Katastrophe für die Welt und insbesondere auch Europa, wo die Temperaturen in wenigen Jahren um mehrere Grade im Schnitt sinken dürften.
Rahmstorf führt uns ein in:
- die Entdeckung des AMOC
- Geschichte früherer AMOC-Veränderungen
- die Frage, ob Klima-Modelle AMOC-Veränderungen gut erfassen können
- Kipppunkte in diesem System
Sein Fazit:
Es geht nicht darum, 100 % oder auch nur 50 % sicher zu sein, dass der AMOC in diesem Jahrhundert seinen Kipppunkt überschreiten wird; das Problem ist, dass wir gerne 100 % sicher wären, dass dies nicht der Fall sein wird.
Wie KIs uns alle zu Teamleitern machen
piqer:
Rico Grimm
KIs werden uns nicht alle arbeitslos machen. Sie werden aber die Rolle von Menschen deutlich verändern: weg von Machern hin zu Managern. Das ist die Argumentationslinie dieses Textes, der lesenswert in knapp sechs Minuten durchdenkt, was genau KI-Coding-Tools für Software-Entwicklung bedeuten.
Er argumentiert, dass es schon seit Jahrzehnten „Low-Coding“-Werkzeuge und Tools wie Excel gibt, die die Schwelle gesenkt haben, um mit Computern zu arbeiten und eigene kleine Programmierlogiken zu entwerfen. Trotzdem sind Software-Ingenieure nicht ausgestorben. Im Gegenteil: Sie sind rar und begehrt und werden es auch bleiben, aber ihr Aufgabengebiet wird sich verändern.
In der Zukunft wird es wichtiger sein, die Anforderungen des jeweiligen Software-Projektes in eine Sprache zu übersetzen, die KIs verstehen und mit der sie arbeiten. Übertragen auf andere Gebiete und Fachbereiche: Wir müssen lernen, KIs so zu nutzen, als wären sie eine weitere Fachkraft in unserem Team, das wir zielgerichtet managen müssen.
Nutzung von KI in der Wissenschaft: Flucht nach vorn antreten?
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Ole Wintermann
Wird (Nach-)Denken infolge der Nutzung von KI zu einer Service-Dienstleistung? Ich erlebe derzeit auch im eigenen beruflichen Umfeld eine unglaublich dynamische Zunahme der Nutzung von GPT und anderen KI, um kreative und auch wissenschaftliche Inhalte zumindest probeweise zu erstellen. Auch ich habe schon Papiere probeweise einer SWOT-Analyse durch KI unterzogen und war erstaunt, wie die KI fähig ist, Argumentationsmuster und Strategien der Argumentation zu identifizieren und zu bewerten. Genau diese Fähigkeit scheinen sich in der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft immer mehr Wissenschaftler:innen im Zuge von Peer Review-Verfahren zunutze zu machen, so eine in NATURE vorgestellte Studie.
17% der für ausgewählte Konferenzen geschriebenen Peer Reviews waren laut Studie demnach aller Wahrscheinlichkeit nach mit maßgeblicher Hilfe von GPT et al. verfasst worden. Herausgefunden wurde dies mit der Messung der Häufigkeitsverteilung bestimmter Adjektive und Adverbien, die in der Vielzahl nicht hätten verwendet werden dürfen, wenn die Texte von einem Menschen geschrieben worden wären.
In einer NATURE-Umfrage aus dem Jahr 2023 gaben zudem 30% der befragten Wissenschaftler:innen an, GPT et al. bei der Erstellung wissenschaftlicher Texte genutzt zu haben. Bei einer ex-post-Analyse von 25.000 Peer Reviews aus NATURE-Beiträgen der Jahre 2019-2023 wurde hingegen keine Abweichung der Zahl ausgewählter Adjektive und Adverbien festgestellt.
Neben der Frage, ob die Nutzung von GPT et al. die Texte und Studien auf- oder abwertet, sind derzeit v.a. auch Trensparenzfragen (welches Tool wird in welchem Kontext für welche Tätigkeit genutzt?) und Urheberrechtsthemen (Upload von noch nicht veröffentlichten Studien zu GPT et al.) tangiert, die derzeit noch schwerer wiegen.
Aus meiner eigenen Erfahrung mit der Nutzung von GPT et al. sollten wir uns an die systematische Nutzung der KI gewöhnen, hier die neuen Realitäten akzeptieren und besser die „Flucht nach vorn“ antreten, indem klare Regeln des Umgangs gefunden werden und Transparenz hergestellt wird. Wir sollten es akzeptieren, dass KI im wissenschaftlichen Bereich angekommen ist und in vielen Bereichen einfach besser und schneller als der Mensch tätig sein kann. Und ja, der Mensch muss am Ende noch alles kontrollieren (wenn er meint, den mit Hilfe der KI steigenden Output überhaupt noch kontrollieren zu können).