Donald Trump wirft seine Schatten voraus. Auch auf der Münchner Sicherheitskonferenz war er der „Elefant im Raum“. Zwar sind es noch fast neun Monate bis zur US-Wahl und natürlich ist es keine ausgemachte Sache, dass Trump tatsächlich ins Weiße Haus zurückkehrt. Aber längst dämmert es den politischen Entscheidungsträgern nicht nur, aber vor allem in Europa, dass sich schon bald die Weltlage noch einmal in geradezu dramatischer Weise verändern könnte. Europa würde dann zum zweiten Mal nach 2016, als der Doppelschock von Brexit und Trump den Kontinent in seinen Grundfesten erschütterte, unsanft aus seinem Schlaf der Gerechten gerissen werden.
Der Grund für die Aufregung sind die jüngsten Äußerungen Trumps, er würde Nato-Verbündete, die ihren finanziellen Verpflichtungen nicht nachkommen, im Falle eines Angriffs trotz der Bündnisverpflichtung die Hilfe verweigern. Tatsächlich hatte Trump in seiner Präsidentschaft insbesondere Deutschland immer wieder ermahnt, die Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts anzuheben. Das wird in diesem Jahr zwar zum ersten Mal seit über 30 Jahren der Fall sein, ebenso wie für weitere 17 von insgesamt 31 Nato-Mitgliedstaaten. Dennoch wackelt das Verteidigungsbündnis, das wesentlich auf glaubwürdiger Abschreckung beruht. Denn Zweifel am Zusammenhalt der Nato könnte Russland ermutigen, seine neo-imperialistische Strategie fortzuführen – womöglich bald sogar gegen Nato-Staaten.
Neue geopolitische Bedrohungslage erfordert sicherheitspolitische Reaktion
Die EU muss sich vor diesem Hintergrund in den nächsten Jahren auf eine womöglich völlig veränderte Welt ausrichten – und hätte dies seit vielen Jahren, spätestens aber seit 2016, viel konsequenter tun müssen. Denn die Zeiten, in denen die EU von einer regelbasierten Weltwirtschaft, billiger Energie, dem militärischen Schutz durch die USA und vom schier unendlichen Wachstum Chinas profitierte, sind unwiederbringlich vorbei. Auf etwas anderes zu hoffen, wäre naiv und gefährlich. Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte zu Lebzeiten immer wieder gemahnt, dass es für Europa im 21. Jahrhundert um nicht weniger als seine Selbstbehauptung ginge.
Um diese Selbstbehauptung Europas ist es schlecht bestellt. Die USA werden sich angesichts des Aufstiegs Chinas zu einer neuen Hegemonialmacht und zum mächtigsten Systemkonkurrenten der Amerikaner ihren sicherheitspolitischen Fokus von Europa in den indopazifischen Raum verlagern – und zwar völlig unabhängig von Trump. China selbst verfolgt nicht mehr ausschließlich wirtschaftliche Interessen, sondern verknüpft diese zunehmend mit eben jenen hegemonialen Ansprüchen. Derweil stellt Russland mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine Frieden und Freiheit in ganz Europa aufs Spiel. Die Welt befindet sich mithin in einem Zustand äußerster Instabilität. Gezielte Destabilisierungen werden unter diesen Umständen zu einem brandgefährlichen Mittel der Politik, das von Trump, Putin und Xi gleichermaßen eingesetzt wird. Die größte Gefahr für die Welt liegt unter diesen Bedingungen darin, dass plötzlich Dynamiken eintreten, die niemand mehr kontrollieren kann.
Der diesjährige Sicherheitsreport der Münchner Sicherheitskonferenz ist dazu passend überschrieben mit der Frage „Lose-lose?“. Es geht offenbar nicht mehr um ein handelspolitisches Positivsummenspiel, sondern um ein machtpolitisches Nullsummenspiel. Wenn also nicht länger Kooperation, sondern Konfrontation das politische Mittel der Wahl ist, wenn nicht mehr die Stärke des Rechts, sondern das Recht des Stärkeren gilt, dann kommt es auf Macht und Verhandlungsmacht an, die Macht, Interessen durchzusetzen, Werte zu verteidigen und Frieden zu sichern. Macht wiederum drückt sich in ökonomischer Leistungsfähigkeit, in technologischer Führerschaft und nicht zuletzt in militärischer Verteidigungsfähigkeit aus. In allen drei Bereichen weist die EU erhebliche und wachsende Defizite auf. Es geht daher für die nächste Kommission nach der Europa-Wahl darum, in den nächsten Jahren die strategische Souveränität der EU zügig und gezielt zu stärken. Das bedeutet, die geoökonomische Resilienz zu erhöhen, die technologische Führungsposition zurückzugewinnen und militärische Kapazitäten aufzubauen. Nur dadurch lässt sich das geopolitische Gleichgewicht der nächsten Weltordnung zugunsten von Europa verschieben.
Der lange Weg in eine Europäische Sicherheitsunion
Vor diesem Hintergrund ist die Diskussion um eine Europäische Sicherheitsunion wieder eröffnet worden, jüngst von Emmanuel Macron und Donald Tusk. Doch dafür braucht die EU eine politische Kraftanstrengung und vor allem einen Paradigmenwechsel im geopolitischen Verständnis der EU. Die Nato bleibt zwar in allen Szenarien das wichtigste Verteidigungsbündnis für Deutschland und die EU. Aber klar ist auch, dass die mit großem Abstand wichtigste Militär- und Atommacht in der Nato, nämlich die USA, zunehmend eine eigene sicherheitspolitische Agenda verfolgt, die sich weniger auf Europas Sicherheit als vielmehr auf den eigenen Einfluss im indopazifischen Raum fokussiert. Die Sicherheitsinteressen der USA sind zwar noch in weiten Teilen, aber eben nicht mehr vollständig kongruent mit den Sicherheitsinteressen der EU.
Völlig unabhängig von den Äußerungen Trumps gilt daher, dass die EU eine eigene sicherheitspolitische Agenda dringend benötigt. Doch ein stabiles Verteidigungsbündnis hat zwei wesentliche Bedingungen: Es muss erstens gemeinsame Sicherheitsrisiken internalisieren, und es darf zweitens kein Free-riding geben, d.h. das gemeinsame öffentliche Gut „Sicherheit“ muss gemeinsam finanziert werden. Betrachtet man die bisherigen Ausgaben der EU-Mitgliedstaaten zur Unterstützung der Ukraine, dann müssen entweder die europäischen Sicherheitsinteressen als sehr unterschiedlich empfunden werden, oder einige Länder entziehen sich ihrer finanziellen Verantwortung. Deutschland gehört hier übrigens, anders als oft behauptet, zu den Ländern, die am meisten tun (anders als Frankreich, Italien oder Spanien).
Eine eigene autonome Verteidigungsfähigkeit der EU nicht außerhalb, sondern innerhalb der Nato hat weitreichende politische und institutionelle Folgen für die EU. Denn innerhalb der Lissabon-Verträge wird man sie kaum herstellen können, zumal Verteidigungspolitik immer im Kontext gemeinsamer Außenpolitik gedacht werden muss. Eine schnelle Änderung der Lissabon-Verträge wiederum ist unter den gegebenen politischen Bedingungen unrealistisch. Positiv gewendet könnte man argumentieren, dass die neue geopolitische Bedrohungslage eine historische Chance ist, die Kern-EU weiterzuentwickeln, und zwar zu einer Sicherheits- und Verteidigungsunion. Die Internalisierung neuer geopolitischer Risiken könnte neue politische Integrationskräfte in Europa entfalten.
Das ist jedoch leichter gefordert als umgesetzt. Denn eine funktionierende Verteidigung hat ihre eigenen Logiken, die politisch und institutionell in der EU derzeit nicht abbildbar sind, darunter die Möglichkeit einer atomaren Abschreckung. Dafür müsste eine Europäische Sicherheitsunion zum einen eine klare Kommandostruktur definieren, zum anderen müssten konventionelle Kapazitäten aufgebaut werden. Denn die atomare Drohung funktioniert nur dann als letzte Option, wenn es in glaubwürdigen Eskalationsszenarien vorher hinreichende konventionelle Kapazitäten gibt. Wenn sich Frankreich und Deutschland aber nicht einmal auf gemeinsame Systeme in der Luftabwehr verständigen können und die EU innerhalb von zwei Jahren nicht ausreichend Munition produzieren kann, ist der Weg dorthin noch sehr weit – womöglich zu weit, um rechtzeitig verteidigungsfähig zu werden.
Ein Verteidigungskommissar, wie von Kommissionspräsidentin von der Leyen auf der Münchner Sicherheitskonferenz ins Spiel gebracht, kann ein erster Schritt sein. Die Probleme lösen aber könnte er auch nicht. Die EU ist derzeit von den geopolitischen Realitäten und ihren sicherheitspolitischen Anforderungen noch weit entfernt. Hoffnung kann keine Strategie sein. Denn sollte Russland siegen, wäre dies für Europa das Ende der Welt, wie wir sie kannten.
Zum Autor:
Henning Vöpel war Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI) und ist Vorstand des Centrums für Europäische Politik (cep).