Fremde Federn

Geplantes Wunder, Kissinger, Kolonialismus

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wie Bremer und Hamburger Kaufleute vom Kolonialismus profitierten, Deutschland allein zu Haus und wie China der Schocktherapie entkam.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Wie China der Schocktherapie entkam

piqer:
Achim Engelberg

Einer der bis heute nachhallenden Fehler am Ende des Kalten Krieges waren die „Wirtschaftsreformen“ im Osten, die diesen zerfurchten und den Westen anschließend unsozialer machten. Oder sollte man von neoliberalen Raubzügen sprechen, die bewusst von Anhängern einer Wirtschaftslehre eingesetzt wurden, die erstmals nach dem Militärputsch in Chile 1973 umgesetzt worden sind?

Die damit verbundenen Demütigungen und Landnahmen, Enteignungen und Privatisierungen führen bis zum Krieg in und um die Ukraine.

In Russland gab Jelzin 1992 alle Preise frei und öffnete den Weg in die Hölle. Dass der Markt wie ein Deus ex Machina alles schaffen würde, was er brauchte, war eine neoliberale Illusion, die träge mafiotische Oligarchenherrschaft das Resultat. Die Idee, dass Preise der Kern des marktwirtschaftlichen Heils sind, der Rest Beiwerk, hat eine fast religiöse Anmutung. In Moskau hörte man auf die neoliberalen Sirenengesänge, in Peking nicht. „Die Schocktherapie ist kein Rezept für den Aufbau, sondern für Zerstörung“, so Weber.

Stefan Reinecke ist sich in seiner taz-Besprechung sicher, dass mit Isabella M. Webers „Das Gespenst der Inflation. Wie China der Schocktherapie entkam“ ein herausragendes Stück Wirtschaftsgeschichte vorliegt. Das Werk erschien gerade in deutscher Übersetzung von Stephan Gebauer bei Suhrkamp und zeigt für den Rezensenten

beispielhaft, dass die Integration in die globale Marktwirtschaft nur gelingt, wenn man sich dem Markt nicht unterwirft. Und dass wie ein Zauberlehrling scheitert, wer eine unsteuerbare Marktdynamik entfesselt. Gerade das Zögern der Pragmatiker hat die Grundlagen für das chinesische Wirtschaftswunder geschaffen, das viele im Westen lange als Sieg des Marktes bestaunten und das sie nun zu fürchten beginnen.

In diesem Beitrag stellt Isabella M. Weber ihr Buch in einem Longread vor. Am Ende des Kalten Krieges war die Sowjetunion, ja auch Russland, wirtschaftlich stärker als das sich gerade öffnende China; nach der Schocktherapie war es anders. Allerdings greift es zu kurz, hier die dummen Russen, dort die klugen Chinesen zu schreiben. In gewissen Augenblicken war der sogenannte Neoliberalismus, die Terrorherrschaft der Ökonomie, kurz vor der Umsetzung auch im Reich der Mitte.

Die 1987 in Nürnberg geborene Isabella M. Weber ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der University of Massachusetts Amherst. Sie bemerkt zur chinesischen Entwicklung überaus Erhellendes und Überraschendes, was enorme Bedeutung für die Welt hatte und hat:

Angesichts der rückständigen Entwicklung in China hätte eine Schocktherapie wahrscheinlich noch mehr menschliches Leid in China als in Russland verursacht. Gewiss hätte sie auch die Grundlage für Chinas wirtschaftlichen Aufstieg untergraben, wenn nicht sogar zerstört. Doch ist nur schwer vorstellbar, wie der globale Kapitalismus heute aussehen würde, wenn China den Weg Russlands eingeschlagen hätte. Trotz der Folgen dieser Politik wird die Schlüsselrolle, die die Marktreformdebatte in Chinas spielte, weitgehend ignoriert. In meinem Buch »How China Escaped Shock Therapy« blicke ich deshalb auf die 1980er Jahre zurück und frage mich, mit welchen Argumenten China der Schocktherapie entkam. Eine Untersuchung der chinesischen Marktreformdebatte offenbart nicht nur die wirtschaftlichen Hintergründe von Chinas Aufstieg, sondern auch die Ursprünge von Chinas traditioneller Beziehung von Staat und Markt.

Die Aussicht auf eine Schocktherapie hatte die Grundlagen der chinesischen Gesellschaft im Jahr 1988 erschüttert. Als 1989 die chinesische Bürgerrechtsbewegung auf dem Tian’anmen-Platz niedergeschlagen wurde, kamen die Reformen dann vorübergehend zum Stillstand. Als China 1992 die Marktwirtschaft wieder in Gang brachte, war die Schocktherapie keineswegs vom Tisch. Im Gegenteil, in den 1990er Jahren errangen die Neoliberalen in China große Siege. Der Grundmodus der schrittweisen, experimentellen Marktöffnung war jedoch bereits in den 1980er Jahren festgelegt worden. Obwohl er in den folgenden Jahrzehnten neu verhandelt, in Frage gestellt und abgewandelt wurde, konnte er nicht zurückgedreht werden.

Angesichts der deutschen Übersetzung von „Das Gespenst der Inflation“ findet man einen Podcast mit Laura de Weck auf der Verlagsseite von Suhrkamp zum Buch.

Europa, das globale System und die Idee rationaler Akteure

piqer:
Thomas Wahl

Herfried Münkler steckt hier noch einmal den großen Rahmen ab, in dem sich deutsche und europäische Politik bewegt und zukünftig wahrscheinlich bewegen wird. Interessant finde ich seine Sicht auf den Glauben an den „rationalen Akteur“ bzw. die Annahme, andere agierten nach unseren Vorstellungen von Rationalität, Logik oder Vernunft. Oder eben der Vermutung, unsere Kontrahenten würden auf vergleichbare Situationen reagieren wie wir selbst.

Sicher haben mehrere Faktoren zum aktuellen Chaos beigetragen. Der „Hüter“ der globalen Ordnung, die USA, ist seiner Rolle nicht gerecht geworden (was vielleicht von vornherein zum Scheitern verurteilt war) und hat sich dabei überdehnt. Auch der Glaube, die wirtschaftliche Verflechtung führe automatisch zu am Wohl der Menschheit orientierter politischer Kooperation, war naiv. Und der Westen hat das Denken, die Logik revisionistischer Mächte gründlich missverstanden. Man hat versucht, die Idee der liberalen Gesellschaft durch Appelle und über vertrauensbildende wirtschaftliche Verflechtung durchzusetzen. Oder im Notfall durch militärische Intervention die Grundlagen für demokratische Systeme zu schaffen. Russland gegenüber versuchte man z.B. klarzumachen, dass ein Angriffskrieg auf die Ukraine nicht im russischen Interesse sei:

Man ging davon aus, dass man es mit rationalen Akteuren zu tun hat, die am Wohlstand ihrer Bevölkerung orientiert sind, also mit Homines Oeconomici. Die Überraschung war, dass Putin sich mehr von post-imperialen Phantomschmerzen, also runtergeschluckter Wut, hat lenken lassen als von einer kühlen Abwägung der Kosten und Nutzen.

Dann ergibt sich eine Konstellation, wie sie etwa Krastev formuliert:

Das Paradoxe der derzeitigen Situation ist, dass die Mehrheit der Russen der festen Überzeugung ist, in einem Krieg gegen den Westen zu sein. Während die meisten Amerikaner und Europäer nicht glauben, in einem Krieg gegen Russland zu sein.

Ein ziemlich grundsätzliches wechselseitiges Missverstehen. Die gesamte Ordnung nach 1990 beruhte aus der Sicht des Westens auf der Annahme, die anderen Akteure folgen unserer eigenen Rationalität, unseren Welt- und Wertvorstellungen. Typen wie Putin, Kim Jong-Un, die Taliban, die Hamas etc. waren in der dominierenden westlichen Denke nicht wirklich vorgesehen. Andersherum sind wohl diese Autokraten und Teile ihrer Bevölkerung davon überzeugt, dass das Reden von universellen Menschenrechten nur ein Trick des Westens ist.

Es hat sich gezeigt, dass diese Ordnung zu anspruchsvoll ist angesichts der Diversität politischer Systeme. Unter diesen Umständen steht eine Weltordnung auf sehr wackeligen Beinen.

Die Menschheit als Ganzes verfügt über keine eigenen Ressourcen, um eine neue Ordnung zu gestalten. Die USA sind mit ihren Kräften eher auf dem Rückzug aus der globalen Arena. China übernimmt – so Münkler – keine globale Verantwortung,

es erweitert lediglich seine Einflusszone, sodass die Vorstellung eines chinesischen Zeitalters illusionär ist. Die Ordnung, die im Entstehen begriffen ist, hat keinen Hüter, der über die Einhaltung der Regeln wacht, sondern eine Mechanik. Sie wird eine normative Unterdeckung haben gegenüber der alten Weltordnung. Es wird weniger politische Philosophie der internationalen Beziehungen geben und mehr geopolitische Analysen.

Es bildet sich für Münkler eine auf das quasi physikalische Spiel der Kräfte konzentrierte Mechanik heraus, die eine möglicherweise relativ robuste Weltordnung grundiert.

Es wird vermutlich eine Pentarchie sein, und die Stabilität beruht auf der wechselseitigen Anerkennung der Großen, also USA, China, Russland, Indien und vermutlich Europa. Sie leisten Ordnungsarbeit in einem umgrenzten Raum und versuchen, die zweite und dritte Reihe einzubinden.

Diese zweite Reihe, Länder wie z.B. Argentinien oder Indonesien, wird aufgewertet. Es entsteht also ein Mechanismus, der der europäischen Ordnung bis zum Ersten Weltkrieg vergleichbar ist. Das ist allerdings keine Friedensordnung mehr,

sondern eine, in der das Militär eine größere Rolle spielt. Das wurde den militärunwilligen Europäern durch das russische Agieren in der Ukraine aufgezwungen.

Es scheint, die Idee, man könne mit immer weniger Waffen und Soldaten den Frieden garantieren, ist erstmal widerlegt. Auch die wirtschaftliche Macht als Mittel internationaler Politik ist in der Realität stark relativiert worden. Die westlichen Länder haben kein industrielles Quasi-Monopol mehr und Rohstoffe kaufen auch andere gern.

Man hatte die Abhängigkeiten einseitig gedacht und übersehen, dass auch wir von unseren Handelspartnern abhängig sind, von russischem Erdgas und Erdöl, das nun nicht mehr fließt. Wohlstandsgesellschaften mit demokratischer Beteiligung sind hier sogar verwundbarer als eine Mangelwirtschaft, deren Bevölkerung an Kargheit und Knappheit gewöhnt ist.

Für Münkler kommt es nun zunehmend auf das „Zünglein an der Waage“ zwischen den großen und mittleren Mächten an. Eine Macht also, die das Gleichgewicht zwischen den großen Akteuren herstellt, damit das System nicht in Richtung einer Hegemonie oder in einen großen, globalen Konflikt kippt. Historisches Vorbild sei

Großbritannien, das die europäische Pentarchie ausbalancierte. Heute sehe ich Indien in diese Rolle hineinwachsen. Es steht zwischen den Mächten. Auf der einen Seite ist es die größte Demokratie der Welt, andererseits zeigt Narendra Modis Hindu-Nationalismus eine Distanz zum Westen an. Doch auch zu China hält es Abstand, die Beziehungen zu Russland sind klassischerweise gut, zum Westen jedoch ebenfalls.

Es bleibt die Frage nach Rolle und Status Europas in diesem Zukunftsmodell. Wird es der Union gelingen, ein Stück weit aus ihrer Regelwirtschaft und der Zerstrittenheit herauszukommen? Um als geschlossene und schnelle politische Handlungsmacht globale Prozesse entsprechend mitzugestalten? Die Imperative des internationalen Kräfte-Systems drängen uns sicher in diese Richtung. Brauchen wir dazu gemeinsame Kernwaffen, wie viel unserer Wertschöpfungsketten können oder sollten wir in die Union zurückholen. Wir müssen uns aber auch klarmachen,

die Zeitspanne zwischen der Auflösung der alten Weltordnung und der Formierung einer neuen Weltordnung ist eine Zeit vermehrter und intensivierter Kriege, weil viele Akteure ihre Position im Hinblick auf die entstehende neue Ordnung verbessern wollen. In einer solchen Phase befinden wir uns zurzeit; es ist anzunehmen, dass deswegen noch eine Reihe von weiteren Kriegen entstehen werden.

Mehrheit der Anwohnenden akzeptiert Solar- und Windenergie

piqer:
Ole Wintermann

Die Los Angeles Times hat vor kurzem eine Umfrage unter KalifornierInnen durchführen lassen, in der es um die Akzeptanz von Windkraftanlagen, Stromtrassen und Solaranlagen in der Nachbarschaft sowie von Windkraftanlagen in Sichtweite des Strandes ging. Ergebnis: All diese Anlagen werden von der Mehrheit der Befragten („registrierte Wähler“) – auch in der Nachbarschaft – befürwortet. Die LAT ging der Frage nach, wieso der Eindruck in der öffentlichen Debatte aber ein anderes Bild zeichnet.

Die Fossilindustrie investiert große Summen, um Desinformationen zu streuen oder aber um Widerstand einiger weniger gegen lokale #EE-Anlagen zu finanzieren. Diese Bemühungen der wenigen, den Fortschritt zu verhindern, ist nichts anderes als die Missachtung des demokratischen Mehrheitswillen, das Zeitalter der fossilen Energieträger zu beenden, so die AutorInnen. Zudem handelt es sich – wie schon bei den ehemaligen Ansiedlungen von Kohlekraftwerken – um eine Art des Rassismus und der Verstärkung der sozialen Ungleichheit. Dies liegt darin begründet, dass nicht-weiße Communities nicht über die dieselben finanziellen Ressourcen verfügen, um eine Ansiedlung in der Nachbarschaft zu verhindern. In der Vergangenheit hatte dies bereits dazu geführt, dass nicht-weiße Communities eine deutlich erhöhte Luftverschmutzung infolge der Kohlekraftwerke zu verzeichnen hatten.

Anhand eines Beispiels der Ansiedlung einer Solaranlage in der Wüste von Südkalifornien zeigen die AutorInnen die abstruse Argumentation einiger GegnerInnen des Projektes. Während Grundwasserpumpen der örtlichen Landwirte die letzten Wasserreserven des Staates leerpumpen, beziehen sich dieselben Menschen bei ihrem Protest gegen Solarparks auf den Schutz der Natur.

In diesem und in einem weiteren Beispiel, in dem es um den Bau einer Stromleitung geht, wird mal wieder deutlich, dass die einzige Möglichkeit, gegen Desinformation und „False Balance“ vorzugehen, darin liegt, hochwertige Informationen anzubieten und transparent über das Vorhaben zu kommunizieren.

Deutschland allein zu Haus

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Jürgen Klute

Deutschland ist das nach EinwohnerInnen und wirtschaftlicher Leistung größte Land der Europäischen Union. Große Länder neigen gelegentlich zum Provinzialismus, sind sich also selbst genug und verzichten schon mal auf den Luxus, über den Tellerrand – also über die eigenen Grenzen – hinweg zu schauen. In dieser Disziplin übt sich derzeit nicht nur das Bundesverfassungsgericht, das einer unverzichtbaren Klimapolitik erst einmal einen juristischen Riegel verpasst hat. Nach dem Motto: Wir stürzen uns zwar gerade in den Abgrund, aber juristisch bleiben wir dabei auf Linie!

Allerdings betrifft der deutsche Provinzialismus nicht allein die Bundesrepublik, sondern er wirkt weit über deren Grenzen hinaus. Daran und an Reaktionen aus der EU und Nachbarländern erinnert Daniel Max in seinem Kommentar in der taz.

Ein Relikt einer Zeit, die vorüber ist, aber nicht vergehen will

piqer:
Achim Engelberg

Auf allen Kontinenten wurde der Tod von Henry Kissinger verkündet und in vielen Beiträgen schwankt sein Bild zwischen Friedensnobelpreisträger und Kriegsverbrecher. Bis zuletzt war er aktiv und unterwegs: Zu seinem 100. Geburtstag besuchte er im Juni seine fränkische Geburtsstadt Fürth, aus der er fliehen musste und in die er als US-Soldat zurückkehrte, danach besuchte er auf diplomatischer Mission mit Xi Jinping den chinesischen Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas, einem Land, bei dessen Öffnung er als amerikanischer Außenminister eine Rolle spielte. Zuletzt kommentierte der Shoah-Überlebende die Massaker und den neuen Krieg im Nahen Osten. Eine geplante Berlin-Reise musste er absagen, nun ist er in seinem Haus in Connecticut verstorben.

Für die Grundversorgung ist das ZDF-Special nützlich; hier seine Selbstdarstellung auf seiner Webseite; hier ein Auftritt im Kalten Krieg; Stimmen zu seinem Tod und einige wichtige Links findet man hier; in diesem Feature von Marcus Pindur im Deutschlandfunk gibt es nicht nur viele O-Töne, sondern es gibt Wissenwertes wie Kissinger von großer europäischer Politik des 19. Jahrhundert wie der von Bismarck oder Metternich gepägt war und diese im 20. Jahrhundert, etwa bei Helmut Schmidt, selbst prägte. Last but not least der Beitrag „Gewalt. Macht. Hegemonie. Zur Aktualität von Henry Kissinger“ von Bernd Greiner, der sich lohnt und den es nicht kostenfrei gibt. Meine Überschrift ist der leicht abgewandelte Schlusssatz. Hier die Zwischenüberschriften:

Die Liaison von Macht und Geist

Der Urgedanke bis heute: Amerikas Vorherrschaft ist unverzichtbar

Nixons Dreiecksdiplomatie mit Moskau und Peking

Kissinger als Einpeitscher

Wie sich die »Realpolitik« gegenüber der Realität abschottet

Wider Kissingers Willen: Die unbeabsichtigte Entspannungspolitik

Eine Klasse für sich – als Werbetexter und Impresario seiner selbst

»Das nationale Interesse ist bisweilen wichtiger als das Gesetz«

Das Motto des Beitrags stammt von Kissinger:

Wie soll man denn Diplomatie ohne die Androhung von Eskalation betreiben? Ohne diese Drohung gibt es keine Grundlage für Verhandlungen.

Die brutale Seite von Kissinger stellt Stefan Schaaf in der taz in seinem Beitrag Der Kriegs-Nobelpreisträger dar.

Henry Kissinger war nicht nur ein geschickter Stratege der US-Außenpolitik. Für die Interessen seines Landes ging er immer wieder über Leichen.

Wer sich jenseits der Nostalgie mit Kissinger beschäftigt, kommt in den schmutzigen, lauten Maschinenraum der Weltpolitik mit streng geheimen Aktionen. Hier ist zu erleben, wie Politik zur Geschichte gerinnt. Das ist die erhellende, aber auch abstoßende Seite dieser reich entwickelten Persönlichkeit; anziehend macht ihn seine Ironie und sein Humor:

Gefragt, ob er lieber als Mr. Kissinger oder Dr. Kissinger angesprochen werden wolle, antwortete er: ‚Ich kenne mich mit dem Protokoll nicht aus. Nennen Sie mich einfach Exzellenz, das genügt.‘

Als er in seiner Zeit als aktiver Politiker einmal in Rom landete, erfuhr er, dass der Papst gerade zwei Menschen heiliggesprochen hatte. Worauf Kissinger fragte: ‚Wer ist der andere?'“

Wie Bremer und Hamburger Kaufleute vom Kolonialismus profitierten

piqer:
Dirk Liesemer

In der taz hat Benno Schirrmeister einen engagierten Essay über einen Teil unserer Geschichte verfasst, der immer mehr in den Blickpunkt der politischen Debatten rückt: die Ausbeutung der einstigen deutschen Kolonien und den Stand der heutigen Aufarbeitung. Dies erörtert er am Beispiel von Hamburg und Bremen, wo im 19. Jahrhundert gewichtige Kaufmannsfamilien das Verbot der Sklaverei ignorierten und beim Kolonialhandel kräftig mitverdienten.

Manches ist zwar recht robust formuliert (einen Bildersturm zu verdammen sei „barbarisch“), auch muss man nicht jedem Urteil folgen (fraglich bleibt für mich etwa, wie bedeutend denn nun die beiden Städte im Vergleich etwa mit London oder Kopenhagen waren), aber zum einen finde ich, dass ein Essay nicht in alle Richtungen perfekt abwägend sein muss – und zum anderen stimme ich seiner Schlussbemerkung zu: Dass die Erinnerung erst einen Anfang markiert.

Nicht übersehen sollte man eine Frage, die Schirrmeister gegen Ende seines Textes formuliert: „Aber sollte der Staat überhaupt allein richten, was seine zivilen Kaufleute angestoßen und betrieben haben?“ Man könnte also auch fragen: Sollte man den Nachfahren ihr Schweigen einfach so durchgehen lassen?