In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Sinkende Arbeitslosigkeit in der EU – Glück oder Problem
piqer:
Thomas Wahl
Hurra, die Arbeitslosigkeit in der Eurozone ist am Verschwinden. Sie liegt mit 6,7 % der Erwerbsbevölkerung auf dem niedrigsten Stand seit 30 Jahren. In der EU sind es sogar nur 6,1 %.
Die Vollbeschäftigung ist bereits in 10 Mitgliedstaaten Realität: Sie weisen eine Arbeitslosenquote von weniger als 5 % auf, die von Ökonomen allgemein als Schwelle für die Erreichung dieses Grals angesehen wird. Dies gilt für Österreich, Dänemark, Irland, Deutschland, Niederlande, Slowenien und auch für Polen.
Natürlich sollte man Vollbeschäftigung nicht nur auf die Arbeitslosenquote reduzieren.
Damit dieser Rückgang der Arbeitslosigkeit wirklich positiv ist, muss er mit einem Anstieg der Beschäftigungsquote verbunden sein. Ist dies nicht der Fall, kann es bedeuten, dass eine gewisse Anzahl von Menschen entmutigt aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden ist und somit die Arbeitslosenquote künstlich senkt.
Auch diese Tendenz scheint momentan in Europa vorhanden zu sein – der Rückgang der Arbeitslosigkeit geht einher mit einem Anstieg der Beschäftigungsquote. Auf den ersten Blick sehr erfreuliche Nachrichten. Dennoch stagniert die Produktion, die gute Entwicklung des Arbeitsmarkts steht in starkem Widerspruch zu der schwachen Wirtschaftstätigkeit im Europa. Wie ist das möglich?
Zunächst ist da eine Variable, die auch der Artikel übersieht. Die Arbeitszeit pro Arbeitnehmer im Euroraum sinkt ebenfalls. Die erfreuliche Entwicklung bei der Beschäftigungsquote fällt also
mit einem deutlichen Rückgang der zur Verfügung gestellten Arbeitszeit pro Arbeitnehmer:in zusammen. Da der Anstieg des Arbeitszeitvolumens seit 1995 deutlich geringer als der Anstieg der Beschäftigung im Euroraum ausfällt, ergibt sich ein Rückgang der durchschnittlichen jährlichen Arbeitszeit pro Arbeitnehmer:in um rund 6 Prozent bzw. ca. 90 Stunden. In Österreich ist die durchschnittliche jährliche Arbeitszeit sogar um 11 Prozent bzw. 180 Stunden gesunken, übertroffen nur von der Slowakei.
Auch für Deutschland gilt:
Die Zahl der Erwerbstätigen stieg in den letzten Jahren deutlich an. Jedoch ging das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen, das die Summe aller Arbeitsstunden der Erwerbstätigen in einem Jahr erfasst, leicht zurück und stiegt erst seit dem Jahr 2005 wieder an. Das Arbeitsvolumen hat sich somit durch Arbeitszeitverkürzung auf mehr Personen verteilt – wodurch sich der Rückgang der Arbeitsstunden pro Erwerbstätigen erklärt.
Nicht zu vergessen auch die großen Unterschiede bei der Arbeitslosigkeit in der Eurozone zwischen Akademikern und Nichtakademikern, wo die Quote immer noch doppelt so hoch ist wie im Durchschnitt (11,7 % im dritten Quartal 2022). Auch wenn die Quote bei den weniger Qualifizierten seit dem Ende der Pandemie stark zurückgegangen ist.
Der Artikel nennt als einen weiteren Faktor für die mögliche „Scheinblüte“ der niedrigen Arbeitslosigkeit die Demografie. Die arbeitsfähige europäische Bevölkerung nimmt ab.
Im Jahr 2021 ist die Bevölkerung im Alter von 15 bis 64 Jahren in der Eurozone um 0,6 % und in der Europäischen Union um 0,7 % zurückgegangen. Besonders ausgeprägt ist dieses Phänomen in Italien und Slowenien (-1,9 %), aber auch in Polen (-1,2 %) und Deutschland (-0,5 %); auch Frankreich bleibt nicht verschont (-0,3 %).
Demgegenüber wuchs in den 1980er Jahren die erwerbsfähige Bevölkerung ziemlich stark, jedes Jahr um 0,7 %.
Um die Arbeitslosenquote zu senken, mussten also umso mehr Arbeitsplätze geschaffen werden, um dies zu kompensieren. Bei einer schrumpfenden oder stagnierenden Bevölkerung braucht man weniger neue Stellen, um die Arbeitslosigkeit zu senken.
Zu diesem Phänomen kommt noch ein tendenzieller oder sogar realer Rückgang der Produktivität (gemessen in BIP pro Arbeitsplatz) hinzu. Letzterer in wirtschaftlich besonders relevanten Ländern wie Deutschland, Frankreich oder die Niederlande. Damit sinkt die Menge an Arbeit, die zur Herstellung einer Ware oder Dienstleistung benötigt wird, weniger schnell als früher bzw. steigt sogar an. Die Produktivitätssteigerung leistet also kaum noch einen Beitrag zum Wachstum.
Dies erleichtert die Schaffung von Arbeitsplätzen: Wenn ein Arbeitgeber seine Produktion steigern will, kann er sich nicht allein auf die höhere Effizienz seiner Arbeitnehmer verlassen, sondern muss seine Arbeitskraft durch Neueinstellungen vergrößern.
Auch wenn der Ausfall bei der Produktivität für die meisten Wirtschaftswissenschaftler noch rätselhaft ist – man sollte sich dabei nicht auf mögliche Messfehler, Verzerrungen oder gar auf eine von selbst verschwindende Erscheinung verlassen. Dazu dauert m.E. die nachlassende Dynamik der Produktivität und die Suche nach den Ursachen schon zu lange.
Wir leben also in einer Zeit der Ungewissheiten. Scheinbar gute Nachrichten haben ihre düsteren Seiten. Der Wunsch nach weniger Arbeit bei vollem Lohnausgleich ist verständlich. Und angesichts der Knappheit an Arbeitskräften werden viele Unternehmen versuchen, darauf einzugehen. Wie das bei sinkender Zahl an arbeitsfähigen Bürgern und stagnierender Produktivität volkswirtschaftlich gehen soll, erschließt sich mir nicht. Dazu kommen gewaltige Aufgaben wie Energiewende, steigender Renten- und Pflegebedarf, Integration der Migranten, notwendige Verteidigungsanstrengungen und auch die wachsende globale Konkurrenz. Sicher muss und kann man einen Teil des dazu erforderlichen Fachkräftebedarfes durch gezielte Einwanderung abfangen. Aber gemütlicher wird es in der EU nicht.
Wie die Schattenwirtschaft die Demokratie ausbluten lässt
piqer:
Jürgen Klute
In diesem ursprünglich auf dem Portal Foreign Policy (The Dirty Secrets of Capitalism Are Undermining Democracy) erschienenen Beitrag von Charles G. Davidson und Ben Judah geht es um die destruktiven Auswirkungen der Schattenwirtschaft auf die Demokratie.
Die beiden Autoren richten einerseits den Blick auf die immensen Geldmengen, die im Bereich der Schattenwirtschaft weltweit an den Finanzämtern souveräner Staaten vorbei transferiert werden. Zum anderen richten sie den Blick auf das staatliche Nicht-Handeln, wenn es um die Bekämpfung der oft kriminellen Praktiken im Bereich der Schattenwirtschaft geht. Hier sehen die Autoren vor allem die USA, Großbritannien und die Europäische Union in der Verantwortung. Und schließlich fragen die Autoren nach den Wirkungen aus dieser Kombination von Schattenwirtschaft und staatlichem Nichthandeln. Ihr Fazit:
„Kapitalismus mit Geheimhaltung – mit anderen Worten, Kapitalismus ohne Transparenz, Integrität und Rechenschaftspflicht – untergräbt die liberale Demokratie.“
Wie die Lücken im Klimafond gefüllt werden können
piqer:
Jürgen Klute
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts über den Nachtragshaushalt 2021, der 60 Milliarden Euro, die für die Pandemie nicht benötigt wurden, in den Klimafond transferieren sollte, hat eingeschlagen wie eine Bombe. Juristisch ist das Urteil nicht zu kritisieren, wie David Schwarz auf dem Verfassungsblog darlegt: „Die Repolitisierung des Politischen“. Die Konsequenz, die Schwarz aus dem Urteil zieht, heißt: Repolitierung der Haushaltspolitik – mit anderen Worten, das Parlament muss nun lernen, Aushandlungsprozesse um die politischen Prioritäten zu führen.
Theoretisch gibt es dazu auch konkrete Lösungsvorschläge. Die Kunst besteht nun darin, für das Parlament diese denkbaren und durchaus nachvollziehbaren Vorschläge politisch mehrheitsfähig zu machen.
Einen ersten konkreten Vorschlag für eine Auffüllung des 60-Milliarden-Euro-Lochs im Klimafonds hat die Ökonomin Claudia Kempfert (DIW) gemacht. taz-Wirtschaftsredakteurin Anja Krüger hat Kempferts Vorschläge in einem Artikel kurz und knapp vorgestellt. Im Kern der Vorschläge von Kempfert steht die Ausrufung des Klimanotstands. Kempfert hat aber auch noch weitere Vorschläge zur Diskussion gestellt, die Krüger in ihrem Artikel vorstellt.
Ausblick auf Chinas Emissionen – der Silberstreif am Horizont
piqer:
Dominik Lenné
Lauri Myllyvirta ist China-Spezialist bei dem finnlandbasierten Klima-Analyse-Thinktank Centre for Research on Energy and Clean Air (CREA). Sein neuester Beitrag auf der sich durch längere, fundierte Artikel auszeichnenden Plattform Carbon Brief verspricht nichts weniger als eine Sensation: die begründete Erwartung, dass die chinesischen CO₂-Emissionen von nächstem Jahr an abnehmen werden.
Wenn sich dies bewahrheitet, rollt ein riesiger Stein von der Brust aller, die sich mit der Klimakrise befassen. Die Meldungen aus China waren ja nicht gerade ermutigend: nicht nur, dass die Emissionen global den bei weitem größten Einzelbeitrag darstellen und in den letzten vierzig Jahren massiv angestiegen sind (bis auf eine Wachstumskrise in 2015/16 und die Covid19-Zeit), sondern auch, dass eine enorme Anzahl neuer Kohlekraftwerke im Bau bzw. genehmigt sind – obwohl Staatschef Xi 2021 die gegenteilige Absicht äußerte.
Ein Chinese verbrauchte 2022 mit 670 W etwa die gleiche mittlere elektrische Leistung wie ein Deutscher. Die steigende jährliche pro-Kopf-CO₂-Emission Chinas überholte die sinkende Deutschlands 2021 mit einem Wert von 8,1 t. Allerdings hat China ungefähr 18 Mal mehr Einwohner, d.h. Entscheidungen der chinesischen Führung sind 18 Mal wichtiger! Der Anteil des emissionsarmen Stroms war in China 34 %, in Deutschland 46 %. Mit diesen Emissionswerten erzeugte China jedoch nur ein Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt von 17.600 $, das sind 33 % des deutschen. Das heißt, dass die chinesische Wirtschaft extrem Emissions-ineffizient arbeitet.
Wie geht der Kohle-Ausbau mit der Prognose einer Emissionssenkung zusammen? In zwei Absätzen:
- Der enorme Zuwachs an emissionsarmer Stromerzeugung, d.i. Sonnen-, Wind-, Wasser- und Kernenergie, wird erstmals das zu erwartende Wachstum der gesamten Stromerzeugung von ungefähr 5 % p.a. übersteigen. Einen Beitrag dazu leistet auch das Ende der Trockenzeit, die die Stromproduktion der beträchtlichen chinesischen Wasserkraft verminderte – die Stauseen sind gut gefüllt. (Natürlich muss man immer etwas um die Niederschläge bangen.)
- Der Konflikt zwischen Kohleverstromung und den Erneuerbaren ist real. Die Kohle hatte in China immer schon Probleme mit Überkapazitäten und extrem niedrigen Kraftwerksauslastungen von nur 46 %. Ein Grund dafür ist die Macht der Regionalregierungen: sie haben die Entwicklung eines effektiven nationalen Strommarkts verhindert. Letztlich dürften einige der geplanten Kraftwerke doch nicht gebaut und etliche der existierenden Kraftwerke stillgelegt werden, vermutlich von den weniger effizienten älteren. Die Verbleibenden werden teilweise als Backup vorgehalten und bekommen dafür viel Geld. Eine ähnliche Entwicklung sehen wir auch in Deutschland.
Interessant ist, wie Myllyvirta beschreibt, dass der phantastische Ausbau der Produktionskapazitäten für Photovoltaik, Windkraft, Batterien und E-Autos ursächlich mit dem Ende des Baubooms zusammenhängt, das u.A. durch den Bankrott des Bau-Giganten Evergrande erzwungen wurde. Die treibende Kraft waren die Regionalregierungen, die neue Investitionen ankurbeln mussten, um ihre Einnahmen zu sichern.
Diese Produktionskapazitäten im PV-Bereich sind so astronomisch, dass auch im Erneuerbaren-Bereich eine Überproduktionskrise droht. Der Weltmarkt kann die Zahl der produzierten Module nicht so schnell absorbieren und deren Preise sind im Keller – kaum jemand kann noch Geld damit verdienen. Deshalb sind auch im Solarbereich einige Pleiten und Firmenzusammenschlüsse nicht unwahrscheinlich.
Der Ausbau im Herstellungssektor für Erneuerbare hat noch eine weitere spannende Wirkung: ein neuer, starker Faktor im innerchinesischen Einfluss-System ist entstanden, der die Dekarbonisierung aus rein wirtschaftlichem Interesse vorangetrieben sehen möchte – und zwar national und auch global. Außenpolitisch passt das der Regierung gut in den Kram, kann doch so das internationale Image Chinas aufpoliert werden. Zum Schutz des Erdsystems, das nicht zuletzt für China selbst von großer Bedeutung ist, kommt nun eine ökonomische und politische Motivationsdynamik hinzu. Das ist auch ein Kipp-Punkt der globalen Energiewende.
Ein Blick in die (nachhaltige) Zukunft der Landwirtschaft
piqer:
Ole Wintermann
Die Landwirtschaft, so wie sie sich die letzten Jahrtausende entwickelt hat, hatte lange Zeit nur ein Ziel im Blick: Die Steigerung der Produktivität und damit des Ertrags je Fläche. Aber bereits seit Jahrzehnten wurde diese Form der Industrialisierung der Nahrungsmittelerzeugung zunehmend kritisch gesehen. Der sich beschleunigende Klimawandel wirft nun auch immer mehr die Frage auf, wie die Treibhausemissionen des Sektors einerseits minimiert und gleichzeitig die Nahrungsmittelversorgung der Welt in Zeiten zunehmender Dürren und Überschwemmungen sichergestellt werden kann. Abermals beschleunigt hat sich die problematische Lage der konventionellen Landwirtschaft mit der Verteuerung der Kunstdünger infolge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine.
Der Beitrag in der Washington Post zeigt, dass es nicht die eine Art von Antwort auf diese Herausforderung gibt, sondern dass sich derzeit verschiedene Möglichkeiten, mit der Herausforderung umzugehen, herausbilden: Es gibt ein „Weiter so“ mit dem Ziel, den Pfad des Produktivitätsfortschritts unbeirrt weiter zu gehen, ein Verharren in Schrecken und Hoffen auf Besserung und eine Flucht nach vorn mit der Neudefinition von „Landwirtschaft“ mit Hilfe von KI, Robotik, Genetik und vertikaler Landwirtschaft.
Der Long Read in der WP gibt den Lesenden einen beeindruckend tiefen Einblick in die aktuellen Entwicklungen in der Landwirtschaft und unterlegt dies mit Fotos, die einen einfach nur staunend zurücklassen.
Understanding the OpenAI-Chaos
piqer:
René Walter
Am Wochenende kam es zu einem schweren Erdbeben in der KI-Industrie, dessen Konsequenzen noch nicht abzusehen sind.
Die Ereignisse in Folge:
- Freitagnachmittags feuert der Vorstand von OpenAI ihren CEO Sam Altman in einem firmeninternen Coup, orchestriert von Chef-AI-Researcher Ilya Sutskever. Mira Murati übernimmt Altmans Job. Microsoft als größter Investor wurde von diesem Coup überrascht und nur Minuten vor der Bekanntgabe unterrichtet.
- Samstags sickern Gerüchte um eine Rückkehr des CEOs und einen Rücktritt des Vorstands an die Öffentlichkeit. Investoren, Mitarbeiter und Manager innerhalb der Firma hatten sich für Altman und den in Solidarität zurückgetretenen Direktor Greg Brockman eingesetzt. Altman fordert eine Restrukturierung des Vorstandes und gibt ihnen bis 5 Uhr nachmittags darauf einzugehen.
- Die Verhandlungen scheitern, neuer CEO von OpenAI wird Twitch-CEO Emmett Shear
- Microsoft heuert Sam Altman und Greg Brockman für ein neues AI-Research Team an.
Um dieses Chaos, in das einige der führenden Köpfe der KI-Industrie verwickelt sind, zu durchblicken, muss man zuerst die Firmenstruktur von OpenAI verstehen.
OpenAI Inc. wurde 2015 als Non-Profit mit dem Ziel gegründet, „zum Wohl der gesamten Menschheit“ KI-Forschung mit Fokus auf Sicherheit und das sogenannte KI-Alignment zu betreiben, die nicht von Profitstreben und kommerziellen Interessen geleitet ist. Gleichzeitig gibt es Open AI LLC, eine Firma, die kommerzielle Anwendungen entwickelt. Microsoft als größter Geldgeber ist Minority Owner dieses kommerziellen Arms.
Sam Altman steht für OpenAIs kommerziellen Arm und pushte seit dem globalen Siegeszug von ChatGPT für eine immer schnellere Produktentwicklung und deren kommerzielle Ausbeutung, während Ilya Sutskever Sicherheitsbedenken äußerte und die Entwicklung von Genereller KI (AGI) in naher Zukunft am Horizont sah. Innerhalb der Firma bildeten sich zwei von Altman in einer 2019er Mail selbst sogenannte „Tribes“: Ein Teil von Mitarbeitern und Managern legte den Fokus aus kommerzielle Ausbeutung, die andere Gruppe folgte dem ursprünglichen Ziel der sicheren Entwicklung von Genereller KI (AGI). Der Coup folgte also aus einem firmeninternen Machtkampf zweier Fraktionen, und während es oberflächlich so aussehen mag, als ob die Safe-AGI-Fraktion gewonnen hat, ergibt sich insgesamt wohl eher ein gegenteiliges Bild.
Denn einerseits hat der Vorstand mit Altmans Rauswurf seine Rolle in der auf Sicherheit fokussierten ursprünglichen Firmenmission erfolgreich untermauert. Andererseits aber dürften viele Investoren und Geldgebern von den tumultartigen Ereignissen abgeschreckt werden, was das eigentliche Ziel – die Entwicklung von AGI – gefährden dürfte: Es ist nicht bekannt, ob OpenAI bereits profitabel ist oder die laufenden Kosten für Server und GPUs die beachtlichen Einnahmen von derzeit 80 Millionen Dollar im Monat wieder auffressen, vor allem angesichts der durchaus massiven Nutzerzahlen. OpenAI ist auch als Nonprofit auf Geld von Investoren angewiesen und seine Zukunft ist nach dem Debakel fraglich.
Zudem hat Microsoft mit der Einstellung von Altman und Brockman deutlich gemacht, dass sie weiterhin aggressiv am Ausbau von KI-Technologie arbeiten werden – ob mit OpenAI oder seinen Wettbewerbern bleibt dabei offen. Microsoft pusht AI in sämtliche Produkte, vom Betriebssystem Windows über ihre Office-Produkte bis hin zu Github Copilot – die Marktmacht hinter Microsofts AI-Bestrebungen ist immens, vor allem dank ihrer Cloud Computing Plattform Azure, auf der OpenAIs AI-Produkte laufen und die ihre Einnahmen alleine im dritten Quartal 2023 um 29 % steigern konnte.
Noch am Donnerstag vor seinem Rauswurf hatte Altman auf der APEC CEO Summit neue Durchbrüche in der KI-Entwicklung angekündigt und damit den Druck auf die Teile der Firma erhöht, deren Prioritäten auf AI-Safety liegen. Mit Altman nun Chef eines neuen Teams für KI-Forschung von Microsoft, die wiederum Anteilseigner von OpenAI LLC sind, hat Microsoft nun alle Trümpfe in der Hand, kontrolliert als größter Investor nicht nur OpenAIs Geldfluss, sondern hat mit Altman und Brockman nun auch zwei charismatische Führungspersönlichkeiten an Board. Eine Entwicklung, die den Split innerhalb von OpenAI weiter forcieren dürfte.
Oberflächlich betrachtet ist der nun offenbar endgültige Rauswurf von Sam Altman ein Gewinn für die sichere Entwicklung von KI. In Wirklichkeit aber ist Microsoft der wahre Gewinner dieses Coups und beflügelt von den massiven Einnahmen dank OpenAIs kommerziellen Arm, werden sie ihre KI-Entwicklung enorm ausbauen, ob mit OpenAI-Produkten oder einer neuen Open Source-Strategie wie Facebook ist offen. Gerade als Gegner von Open Source-AI-Development bereitet mir diese Entwicklung durchaus Sorge.
Im Abschluss hier die Filmtipps zum Drama: Knives Out und, selbstverständlich, Game of Thrones. Automatisiertes AI-Popcorn inklusive. (In meinem Newsletter verfolge ich die Entwicklungen mit Updates.)
Social Media Sieger: AfD
piqer:
Marcus von Jordan
Politologe und Social Media Berater Marcus Bösch berichtet im WDR über die Strategien der Rechten auf Social Media. Dort ist die AfD nämlich Marktführer auf allen Kanälen, außer auf Insta (sind die Grünen noch vorne). Vor allem TikTok ist AfD-Revier.
Auf TikTok sind 21 Millionen Deutsche angemeldet. Die Plattform spricht von 95 Minuten täglicher Nutzungsdauer. 70% der Nutzer’innen sind zwischen 16 und 24 Jahre alt (16%-19% erreichte die AfD in dieser Zielgruppe zuletzt bei den Wahlen in Bayern und Hessen). Alice Weidel hat hier 113 Tausend Follower. Unter den politischen Top Ten sind 5 AfD-Politiker’innen.
Interessanterweise ist der zentrale Account der AfD schon lange gesperrt bei TikTok. Bösch erklärt, wie die Partei sich hilft, mit einer „Fan-Army“ und mit massenhaft Accounts mit teils extremen Inhalten, die immer an der Grenze kommunizieren, immer wieder gesperrt werden und immer wieder neu entstehen (teilweise einfach mit durchnummerierten Account-Namen). Von hier aus werden dann auch Telegram-Gruppen befüllt.
Bei allem hilft das Narrativ vom „eigentlichen Volk“, das eben bei den etablierten Medien nicht stattfindet und sich deshalb in den neuen Medien wehren muss, gegen die linke, queer-woke Bubble.
Türkischen Mitbürgern wird gezielt gesagt, dass sie sich keine Sorgen machen brauchen, dass ihre Söhne in der Schule irgendwie umgedreht werden – da kümmert sich die AfD drum.
Die anderen Parteien sind weniger aktiv und machen nachhaltig den Fehler, die „Player“ der AfD immer wieder medial aufzubauen mit ihrer Empörung.
Eine absolut dramatische Situation. Und ich wundere mich schon lange, wie medial unterbeleuchtet das Thema ist und bleibt.