Fremde Federn

China-Connection, CO2-Speicherung, Criti-Hype

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Der Skandal von Arm und Reich in Bildern, wie erpressbar Deutschland durch China ist und auf welchem Weg deutsche Steuergelder die Kasse des Assad-Regimes füllen.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Wie erpressbar ist Deutschland durch China?

piqer:
Sven Prange

Manche Fehler macht man zweimal. Hat Deutschland gerade erst seine komplette Energieversorgung unter enormen Kosten komplett umgestalten müssen, weil Wirtschaft und Politik über Jahre einem naiven Glauben an die Partnerschaftsfähigkeit Russlands nachhingen, begibt man sich nun in die nächste Abhängigkeit. Von China. Im Vergleich zu den wirtschaftlichen Verflechtungen mit diesem Land war die Energieabhängigkeit von Russland geradezu vernachlässigter – dazu reicht ein Blick in die Bilanzen der größten deutschen Industriekonzerne.

Und ob China nicht am Ende ähnlich skrupellos in das internationale Gefüge platzt wie Russland vor einem Jahr durch seinen Überfall auf die Ukraine, ist nicht ausgeschlossen. Die Folge müssten eigentlich ähnliche Sanktionen sein wie heute gegen Russland – nur: Kann Deutschland sich diese leisten? Während die USA derzeit rigide versuchen, ihre Wirtschaft von der chinesischen zu entflechten, ist derlei Bestreben in Europa und Deutschland eher verhalten erkennbar. Weil Deutschland nicht will – oder nicht kann? Dieser Frage geht dieser Film nach.

Nun fällt die Antwort auf die im Titel gestellte Frage nicht ganz so schwarz-weiß aus, wie der Ton vielleicht unterstellt. Doch die Dringlichkeit ist eindeutig: Ändern weite Teile der deutschen Industrie nicht ihr Geschäftsmodell, gerät Deutschland endgültig in die ökonomische Abhängigkeit eines Landes, dessen Ziele in der internationalen Politik zumindest nebulös sind.

China in der neuen (alten) Weltordnung

piqer:
Thomas Wahl

An China hängt die Zukunft der Welt, könnte man vermuten? Wie sich China entscheidet, wie, wohin es sich entwickelt, wird in jedem Fall die nächsten Jahrzehnte wesentlich prägen. Es hat riesige wirtschaftliche, technische und kulturelle Potenziale, aber auch riesige Probleme. Wie auch immer man die dortige Führung bewertet, sie ist nicht zu beneiden. Hier dazu einige Punkte aus drei relevanten Artikeln.

Aktuell hat Chinas gescheiterte Null-Covid-Politik zwar einen enormen volkswirtschaftlichen Schaden angerichtet. Aber es gilt auch: In den letzten

Jahrzehnten ist Chinas Wirtschaft enorm gewachsen. China ist jetzt ein Land mit mittlerem Einkommen, muss aber weiter Armut bekämpfen. Das für die bisherigen Erfolge verantwortliche Wirtschaftsmodell ist in eine Schieflage geraten. Gegen eine Abflachung der Wachstumsraten ist die Lösung grundlegender struktureller Probleme unabdingbar.

Der Export war bisher der treibende Faktor, der das Land von der globalen Nachfrage abhängig macht.

Seit 2000 belaufen sich die Exporte als Anteil am Bruttoinlandprodukt auf 24 Prozent und mehr, mit Spitzenwerten von über 35 Prozent in den Jahren 2005 und 2006.

Gerade für eine so große Volkswirtschaft waren das sehr hohe Werte, die durch die weltweite Konjunkturabschwächung, durch den Handelskrieg mit den USA sowie den Corona-Problemen einbrachen. 2021 betrug der BIP-Anteil der Exporte nur noch 19 Prozent. China muss also im Interesse seiner wirtschaftlichen Stabilität die Binnennachfrage stark und schnell ausbauen.

Das grösste Hindernis für mehr Konsum ist die hohe Hypothekenverschuldung der chinesischen Haushalte. Chinesen sparen viel und legen ihr Erspartes vor allem in Wohnungen, also im Immobiliensektor, an und handeln nicht selten damit.

Weltweit ist wohl keine Volkswirtschaft so vom Wohnungsbau abhängig. China sitzt auf einer riesigen Immobilienblase, auf einem großen Wohnungsleerstand, was beträchtliche Teile der Vermögen der Bürger bindet und gefährdet.

Die kommunistischen Planer haben es zugelassen, dass am Bedarf vorbei gebaut wurde. China verfügt bereits heute über viel zu viele Immobilien. Pro Einwohner steht die gleiche Wohnfläche wie in Deutschland zur Verfügung, während die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung auf einem Viertel des Niveaus in Deutschland liegt. In China stehen derzeit rund 65 Millionen Wohnungen leer.

Dazu kommt (neben der Demografie) noch eine andere problematische wirtschaftliche Entwicklung. Der komparative Vorteil Chinas gegenüber dem Westen bei den Arbeitskosten wird sich weiter verringern und damit das langfristige Wachstumspotenzial Chinas senken.

Der Artikel formuliert es so:

Das hohe Wachstum Chinas auf der Grundlage von Investitionen, kostengünstiger Produktion und Exporten hat seine Grenzen weitgehend erreicht sowie zu wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Ungleichgewichten geführt.

Eine weitere von Chinas Herausforderungen liegt in der Frage „Why is China so Obsessed With Food Security“?

In China lebt zwar ein Fünftel der Weltbevölkerung, aber es besitzt nur etwa 7 % der weltweiten Anbauflächen. Und der Prozentsatz der für den Anbau geeigneten Flächen in China schrumpfte von 19 % im Jahr 2010 auf nur noch 13 % im Jahr 2020, angetrieben durch die Verstädterung und der weit verbreiteten Verschmutzung von Boden und Wasser. Bemerkenswerterweise gelingt es China immer noch, 95 % seines Bedarfs an Primärgetreide (Weizen und Reis) zu produzieren, was zum Teil auf eine effiziente Produktion zurückzuführen ist. Chinas Weizenproduktion pro Hektar ist fast 50 % höher als die der Vereinigten Staaten (wenn auch fast halb so hoch wie die des weltweit effizientesten Landes, der Niederlande).

Allerdings, selbst mit dem kleinen relativen Defizit von 5% ist China immer noch einer der größten Weizenimporteure der Welt. Was auch für den Maisimport gilt. Hier werden zwar nur 10% des nationalen Bedarfes importiert. Doch damit wird das Land zum größten globalen Maisimporteur. Ebenso bei Gerste und Ölsaaten. Ebenso verbraucht China jährlich fast 120 Millionen Tonnen Sojabohnen (beinahe die Menge der US-Sojabohnenernte). Davon muss es über 100 Mio. Tonnen einführen, etwa 62 % aller international gehandelten Sojabohnen. Und ohne Soja würde Chinas Schweinefleisch-Industrie – die größte der Welt – zusammenbrechen. Damit würde Chinas wichtigste Proteinquelle ausfallen.

Daher befindet sich China in einem strategischen Dilemma:

Die überwiegende Mehrheit dieser Lebensmittelimporte (wie auch 80 % des chinesischen Erdöls und ein Großteil der anderen Ressourcen) gelangen auf dem Seeweg nach China, nachdem sie lange Lieferwege über den Pazifik oder durch den Indischen Ozean zurückgelegt haben. Dadurch wäre es außerordentlich einfach, sie zu blockieren oder anderweitig zu unterbrechen.

Das zeigt, dass China so ziemlich das Gegenteil von Russland ist. Es importiert gezwungener Maßen Unmengen von Energie, Lebensmittel und andere Rohstoffe, produziert und exportiert dafür aber einen großen Teil der Industriegüter dieser Welt. Es ist also noch weniger autark als Russland – aber für die Weltwirtschaft sehr viel wichtiger. Allerdings, man höre,

wenn China wegen Taiwan oder einer anderen Frage in einen Krieg mit den USA eintreten würde, wären Millionen von Chinesen in kürzester Zeit vom Hungertod bedroht, ungeachtet des Schadens, den ein Abschneiden Chinas von der Weltwirtschaft auch für seine Feinde bedeuten würde. Peking muss dieses Problem lösen, bevor es solche Abenteuer wagen kann.

Wir sollten bei allen Problemen Chinas nicht seine Stärken übersehen. So meinte etwa die NZZ kürzlich, dass China laut einer australischen Denkfabrik bei 37 von 44 Schlüsseltechnologien die USA überholt habe. Nun macht eine Studie noch keinen Beweis, aber Völker hört die Signale.

Offensichtlich sind die Zukunft des chinesischen Riesen und auch seine realen militärischen, politischen sowie wirtschaftlichen Potenziale schwer einzuschätzen. Mir ist völlig unklar, ob das Glas für eine friedliche Kooperation halb voll oder halb leer ist. Wir müssen viel genauer hinschauen und vielleicht auch mehr Chinesisch lernen, um Originalquellen studieren zu können. Dass wir, wie oft bei Putin, die Originaltöne im Inneren überhören, sollte uns mit dem chinesischen Giganten nicht passieren.

CO2 unter die Erde pumpen? Dänemark startet ein Pilotprojekt

piqer:
Leonie Sontheimer

Die Menschheit hat zu viel CO2 in die Atmosphäre entlassen. Sehr naheliegend, einen Teil davon wieder unter die Erde zu bringen. Und – wenn man sich die Szenarien des Weltklimarates anschaut – auch notwendig. Gut also, dass es Pilotprojekte gibt. Gestern wurde eins in Dänemark feierlich gestartet. Allerdings habe ich heute verzweifelt nach vernünftigen Einordnungen in den Medien gesucht.

Im Radiobeitrag „Der Tag“ von Deutschlandfunk hat das Thema immerhin zehn Minuten bekommen und es gibt einige Hintergründe vom Forschung-aktuell-Redakteur Ralf Krauter. Das Gespräch beginnt bei Minute 10:00 und die Bebilderung des Beitrags bezieht sich auf den ersten Teil der Sendung, in dem es um die Ermittlungen zum Anschlag auf die Nordstream-Pipelines geht. (Ironischerweise wird dadurch aber auch ein Teil des CCS-Beitrags bebildert: Das ist die Angst, dass das CO2 wieder entweichen könnte. Bloß wäre das Bild dafür völlig falsch.)

Im DLF-Gespräch sowie in den Berichten, die ich auf tagesschau, Spiegel und Co. gelesen habe, wird die Kritik von Umweltverbänden an dem CCS-Verfahren wiedergegeben (CCS steht für Carbon Capture and Storage, Storage ist das, was in Dänemark jetzt getestet wird). Beim Spiegel steht dazu:

Unter Umweltverbänden und Klimaschützern ist CCS dagegen umstritten. Sie fürchten, dass die Technologie den Ehrgeiz beim Klimaschutz und beim Ausbau erneuerbarer Energien dämpft und warnen vor Gefahren für die Umwelt, zum Beispiel durch Leckagen von Kohlendioxid.

Es ist ein Reflex der Nachrichtenagenturen, bei einem Bericht über eine technologische Lösung noch die Kritik von Umweltverbänden anzufügen. Dabei müsste man hier deutlich differenzieren. Und vor allem müssten die Medien klarstellen, dass die Mengen, die bis 2030 eingelagert werden sollen, eben nicht den großen Durchbruch im Klimaschutz bedeuten. Bis April sollen erst mal 15.000 Tonnen CO2 gelagert werden. 13 Millionen Tonnen pro Jahr sollen es 2030 sein. Allein Dänemark stößt aber ca. 32 Millionen Tonnen pro Jahr aus. Woher der dänische Kronprinz die Sicherheit nimmt, folgende Aussage zu treffen, wird im Artikel der tagesschau z. B. nicht erklärt:

„Dänemarks Boden bietet die Möglichkeit, deutlich mehr CO2 speichern zu können als wir selbst jemals produzieren werden.“

Schön wärs!

UND: Wer setzt bitte mal ins Verhältnis, was Wintershall Dea jährlich an Emissionen produziert und wie viel durch das Projekt gebunden werden?

Der Skandal von Arm und Reich in Bildern

piqer:
Antje Schrupp

Atemberaubend und eindrücklich sind die Bilder, die der Fotograf Johnny Miller mithilfe von Drohnen aufnimmt. In seiner Reihe „Unequal Scenes“ zeigt er aus der Vogelperspektive die Unterschiede zwischen den Orten, in denen Reiche wohnen, und den Slums der Armen, ob in Indien, Brasilien, Südafrika oder den USA.

Wobei „Ungleichheit“ eigentlich ein viel zu milder Ausdruck für das ist, was man hier zu sehen bekommt. Ungleichheit ist ja nichts Schlimmes, wie langweilig wäre die Welt, wenn wir alle gleich wären, wenn unsere Häuser alle gleich aussähen!

Nicht Ungleichheit ist hier zu sehen, sondern himmelschreiende Ungerechtigkeit: Während die einen sich in Hütten im Staub drängen, lassen die anderen den Rasen ihres Golfplatzes immer schön bewässern. Und nicht selten trennen fein säuberlich gezogene Mauern oder Elektrozäune die Bereiche voneinander und stellen sicher, dass nichts diese skandalöse Ordnung durcheinanderbringt.

Tatsächlich sagen Bilder manchmal mehr als tausend Worte.

Wie deutsche Steuergelder die Kasse des Assad-Regimes füllen

piqer:
Lars Hauch

Die Bundesrepublik gehört zu den größten Geberinnen für humanitäre Hilfe. In Syrien geht es um Milliarden. Die Hilfe wird dringend benötigt. 9 von 10  SyrerInnen leben unter der Armutsgrenze. Mehr als 50 Prozent der Menschen wissen regelmäßig nicht, woher sie die nächste Mahlzeit bekommen sollen. Neben Nahrungsmittelpaketen fallen unter humanitäre Hilfe aber auch Dinge wie die Renovierung von Schulen und die Instandsetzung von Wasserpumpen und Abwassersystemen.

Leider verdient daran auch das Assad-Regime Milliarden. Es sind Milliarden deutscher Steuergelder, die in die Kassen einer für unzählige Menschenrechts- und Kriegsverbrechen verantwortliche Diktatur fließen.

Ein Grund mehr, genauer hinzuschauen, wie die humanitäre Hilfe organisiert wird. Das passiert ganz wesentlich über die Vereinten Nationen (UN). Nun gilt bei humanitärer Hilfe der alte Spruch: „Bisschen Schwund ist immer“. Machthabern betroffener Gebiete gelingt es stets, sich ein beachtliches Stück des Kuchens zu sichern. Die Konsequenz daraus darf allerdings nicht sein, den Kopf in den Sand zu stecken. Ein bisschen Schwund mag dazu gehören. Extremer Schwund ist hingegen nicht akzeptabel. Umso weniger, wenn die humanitären Operationen nicht nur finanziell gemolken werden, sondern für politische und sogar militärische Ziele missbraucht. Noch einmal: Es geht hier um Steuergelder. Die UN haben leider kein magisches Sparschwein.

Die Financial Times befasst sich im gepiqden Artikel mit einem bekannten Phänomen: Massenhaft Verwandte von sanktionierten Regime-Mitgliedern arbeiten in den syrischen Landesbüros internationaler Hilfsorganisationen. Die UN sagen, sie überprüfen BewerberInnen gründlich. Dennoch arbeitete beispielsweise die Tochter eines berüchtigten Geheimdienstchefs bei UN CERF (ein Nothilfefonds) in Damaskus. Immer wieder machen Mitglieder des Regimes Druck:

An aid worker based in the Middle East said: “I can’t tell you the amount of times where a Syrian government official has walked into our offices and pushed us to hire their kid.”

Natürlich ist das bloß ein kleines Element in der Trickkiste des Regimes. Zum Beispiel wird internationalen Hilfsorganisationen ein künstlicher Wechselkurs aufgezwungen, der viele Millionen in die Staatskasse spült. Aus Sicht des Assad-Regimes ist all das legitim: Immerhin ist sie die anerkannte syrische Regierung und damit auf dem Papier souverän. Hilfsorganisationen sind in ihrer Arbeit nicht frei, sondern werden vor Ort koordiniert. Hauptsächlich vom Syrischen Arabischen Roten Halbmond und vom Syria Trust for Development. Geleitet werden diese Institutionen von Asma al-Assad, der Frau des Präsidenten, sowie Khaled Hboubati, einem engen Vertrauten. Dabei gehen millionenschwere Verträge für Logistik u.v.m. regelmäßig an syrische Unternehmen, die eigentlich auf Sanktionslisten stehen.

Wie gesagt: Ein bisschen Schwund ist immer. In Syrien sind die Zustände allerdings untragbar. Weder die UN noch Geberländer wie die Bundesrepublik drängen jedoch auf ernsthafte Reformen. Man akzeptiert die unglückliche Situation stillschweigend, trotz unzähliger Absurditäten: 81,6 Millionen US-Dollar Miete haben die UN seit 2014 bezahlt, damit ihre MitarbeiterInnen im Four Seasons Hotel in Damaskus unterkommen können. Das Hotel gehört Samer Foz, einem vom Regime hofierten Geschäftsmann, der unter US-Sanktionen steht. Hinterfragt wird das nicht.

Die westlichen Geber und die UN haben den Schlüssel für eine der größten humanitären Operationen weltweit dem Assad-Regime und Russland in die Hand gedrückt, und das erschreckend bereitwillig. Im Zusammenhang mit dem verheerenden Erdbeben wurde das einmal mehr deutlich: Anstatt multilateral humanitäre Hilfe in Gebiete außerhalb der Kontrolle des Regimes zu transportieren, wartete man auf Genehmigungen aus Damaskus. Viele Menschen haben für solche Entscheidungen mit ihrem Leben bezahlt.

Beachtlicher Schaden ist bereits angerichtet, aber noch ist es nicht zu spät für einen Kurswechsel. Wenn mächtige Geberländer wie Deutschland ernsthaft Druck ausüben, können die UN sich emanzipieren. Sollte das nicht oder zu langsam passieren, kann die Bundesregierung stattdessen mehr auf multilateraler Ebene tun. It’s about time.

Neuer Anlauf für die Nutzung von KI bei der Personalauswahl

piqer:
Ole Wintermann

Die im Bereich der hochqualifizierten Tätigkeiten zu beobachtende Tendenz zur mobilen Arbeit sowie die angesichts des Fachkräftemangels steigenden Kosten der Anstellung einer neuen Fachkraft (oder aber der hohen Fluktuation solcher Fachkräfte in einem Unternehmen) lassen den Bedarf an digitalen Werkzeugen ansteigen, die dazu dienen, Unsicherheiten beim Recruiting zu reduzieren.

Waren es vor einigen Jahrzehnten noch die Unterschriftsproben, die Arbeitgebern vorgelegt werden mussten, um den „Charakter“ der Bewerbenden „vorhersagen“ zu können, sind es heute Werkzeuge der künstlichen Intelligenz, die eine Scheinsicherheit vorgaukeln. Der Vorteil der digitalen Werkzeuge: Im Zweifel ist es die KI, die eine falsche Entscheidung getroffen hat und nicht der Personalchef. Kosten in Form falscher Entscheidungen werden an die KI externalisiert, obgleich noch nicht einmal deren „richtige“ Auswahl empirisch belegt worden ist. Wie soll eine KI auch die Komplexität eines menschlichen Charakters und Verhaltens in einem wechselnden personellen, örtlichen und projektspezifischen Umfeld richtig einschätzen können und Vorhersagen zur Effizienz des Arbeitens treffen können?

Vor Jahren gab es einen Erfahrungsbericht einer Google-Führungskraft im New Yorker Magazin zu lesen, in dem der Autor sehr plausibel gezeigt hat, wie Google mit einer datenbasierten Auswahl von Teammitgliedern gescheitert ist und am Ende die simple Erkenntnis stand: Die Menschen müssen ganz einfach miteinander auskommen. Und dies kann keine KI vorhersehen.

Eine Kritik der Kritik der Technologie

piqer:
Jannis Brühl

Im neuen KI-Hype rufe ich diesen Blogbeitrag von Lee Vinsel, Professor an der Virginia Tech, in Erinnerung. Seine These: Eine bestimmte Form dystopischer Kritik an neuen Technologien trägt zu den Hypes, die sie kritisiert, erst bei: „critical writing that is parasitic upon and even inflates hype“. Er nennt das „criti-hype“.

Demnach erfüllen einige „Tech-Kritiker“ – Journalisten und Akademiker – dieselbe Funktion wie die „Booster“, die die Technologien hypen: Sie halten den Hype am Laufen und profitieren von ihm. Vinsel beschreibt, wie ihre Kritik zum Geschäftsmodell wird.

Ihm geht es nicht nur um aktuelle „Big-Tech“-Gegner wie Shoshanna Zuboff (die sich nicht zu schade ist, Pokemon Go zu verteufeln) und Tristan Harris (The Social Dilemma). Interessant ist vor allem Vinsels historischer Blick auf fast vergessene Techno-Paniken. Er erinnert daran, wie in den Achtzigern die Theorie, dass in der Werbung unterschwellige Botschaften ins Unterbewusstsein der Menschen für bare Münze genommen wurde – trotz äußerst vager Faktenlage; dass sich vor zwei Jahrzehnten um das Human Genome Project herum, in dem das Genom des Menschen erforscht wurde, erstmals Tech-Kritiker professionell organisierten; direkt danach fanden Warnungen vor Nanotechnologie viel Gehör – obwohl die bis heute praktisch keine der prognostizierten Science-Fiction-Probleme macht.

Alles in allem ein wertvolles Lesestück für alle, die sich mit den Debatten über Technologie beschäftigen.