Fremde Federn

Strom-Paradox, Holzmafia, Datenmaut

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wieso die EU-Kommission unlängst einen Bedeutungszuwachs erfahren hat, warum der Einsatz von KI und Robotern den Arbeitsaufwand erhöhen kann und weshalb Datenschutz nicht immer gleich Menschenschutz ist.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Warum der schleppende Ausbau der Stromnetze so teuer kommt

piqer:
Ralph Diermann

Um ein Thema ist es in der öffentlichen Debatte zur Energiewende in letzter Zeit erstaunlich still geworden: um den Ausbau des Stromnetzes. Konkret um den Bau neuer HGÜ-Verbindungen, also der Stromautobahnen, die Windenergie aus dem Norden und Nordosten in die Verbrauchszentren im Süden bringen.

Der Ausbau geht nur sehr langsam vonstatten, der ursprünglich gefasste Zeitplan wirkt heute nahezu naiv. Welche Folgen die Verzögerung hat, dröselt nun SZ-Wirtschaftsredakteur Michael Bauchmüller auf.

Das Kernproblem, das damit entsteht: Strom-Überschüsse im Norden und Osten, Defizite im Süden. Das verursacht auf zweierlei Weise Kosten, die über die Netzentgelte von den Stromverbrauchern ausgeglichen werden müssen. Zum einen sind die Windrad-Betreiber gezwungen, bei Netzengpässen ihre Anlagen zu drosseln. Geld bekommen sie aber trotzdem, weil sie ja nichts für die missliche Situation können. Und zum zweiten müssen im Süden teure Gaskraftwerke einspringen, um das Netz stabil zu halten.

Allerdings, so Bauchmüller, gibt es Grund zur Hoffnung, dass der Netzausbau nun an Fahrt aufnehmen wird. So verlangt die EU von den Mitgliedsstaaten, die Genehmigung für Energiewende-Vorhaben wie den Netzausbau zu beschleunigen. Bundestag und -rat haben dazu bereits das nötige Gesetz beschlossen.

Zudem macht die EU Druck, die europäischen Strompreiszonen kleinteiliger zu gestalten. Heißt konkret: In Deutschland würde es dann mindestens zwei verschiedene Strom-Börsenpreise geben. Im Norden mit dem vielen Windstrom wäre er günstiger, im Süden teurer. Das würde einen Anreiz setzen, mehr Anlagen in den Süden zu bauen – oder Fabriken in den Norden zu verlagern. Beides würde die Folgen des schleppenden Netzausbaus mildern.

Die Herrschaft der Inzidenzen und Evidenzen – falsche Gewissheiten?

piqer:
Thomas Wahl

Als Ingenieur bin ich natürlich immer ein Vertreter von Empirie, Zahlen und Statistiken – weiß aber auch, wie genau man die Messvorschriften und Randbedingungen kennen sollte. Mit der Corona-Pandemie ist mir noch mal eine weitere Dimension stärker zu Bewusstsein gekommen – Statistik und Studien als politisches (Macht)Instrument. Insofern kommt das Buch von Richard Münch „Die Herrschaft der Inzidenzen und Evidenzen. Regieren in den Fallstricken des Szientismus“ und die Rezension in „Soziopolis“ dazu gerade zur rechten Zeit.

Der Bezug auf statistische Größen ist sowohl im Regierungsgeschäft als auch in öffentlichen Debatten gängige Praxis. Das „Regieren durch Zahlen“ geht Hand in Hand mit der großen Aufmerksamkeit, die Expert:innen aus den (zumeist experimentellen) Wissenschaften im Prozess der politischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung zuteil wird. Wenn sich politisch-administrative Maßnahmen mit Zahlen und empirischen Studien begründen lassen, gelten sie als rationale Entscheidungen, als Manifestationen einer zumeist positiv bewerteten „faktengestützten“ beziehungsweise „evidenzbasierten“ Politik.

Politische Streitfragen scheinen heute immer stärker epistemischen Charakter anzunehmen, werden als Wissenskonflikte betrachtet, in denen es um das bessere, das richtige Wissen geht. Hat das zur Versachlichung, Intellektualisierung unseres Lebens geführt? Haben wir eine Dominanz des rechnerischen Kalküls: treten Affekte und Leidenschaften zurück? Mir scheint nicht. Was zu der Frage führt, welche

gesellschaftlichen Kräfte treiben die Dynamik der Quantifizierung sozio-politischer Phänomene an? Mit welchen Konsequenzen und Nebenfolgen ist zu rechnen, wenn Inzidenzen, Rankings, Benchmarks und dergleichen statistische Messwerte als Grundlage für politische Entscheidungen dienen? Was bedeutet die „Epistemisierung“ des Politischen und die zunehmende Macht der wissenschaftlichen Expert:innen für die Struktur der staatlichen Herrschaft, was für die Demokratie?

Das Buch nähert sich diesen Fragen anhand des staatlichen Krisenmanagements während der Corona-Pandemie sowie des PISA-Regimes der vergangenen Jahrzehnte.

Abschnitte über das „Regieren der Bildung“ widmen sich der PISA-Politik, mit der die OECD-Staaten die Leistungsfähigkeit ihrer Schulsysteme vergleichend evaluieren und entsprechende Reformstandards entwickeln. Was der Rezensent als gelungene soziologische Fallstudie zu den vielen nicht erkannten Konsequenzen einer datengetriebenen Metrifizierung der Bildungswelt sieht. Es zeigt sich, dass hinter der

der vermeintlichen Objektivität bildungsökonomischer PISA-Doktrin internationale und weit verzweigte Expertennetzwerke symbolisches und monetäres Kapital kumulieren, womit sie ihre eigene Machtstellung und die der federführenden NGOs im Bildungssystem zementieren. Das scheinbar völlig unschädliche Sammeln und Auswerten von internationalen Daten zur Performanz von Schüler:innen verwandelt sich so unter der Hand in konkrete wie folgenreiche Definitions- und Steuerungsmacht, von der gewinnträchtigen Kommerzialisierung der internationalen Evaluierungs-, Forschungs- und Beratungsindustrie ganz abgesehen.

Münch nennt das im Buch einen bildungsindustriellen „Wissen-Macht-Komplex“ im Sinne Foucaults, der den bildungspolitischen Diskurs weitgehend beherrscht. Mit der gewachsenen internationalen Testindustrie und

mit Unterstützung der nationalen Ministerialbürokratien ist dabei ein Wissens- und Diskurskartell entstanden, das im sozialen Feld der Bildung so allgegenwärtig wie mächtig ist.

Dieses wirkt mit seinen Programmen und Empfehlungen, basierend auf einem „Tunnelblick der Zahlen“ , tief in den Schulalltag und in die Praxis der Lehrenden ein. Was oft weit von der schulischen Alltagsrealität und dem konkreten pädagogischen Erfahrungswissen entfernt ist.

Das schärfste dabei, das ganze PISA-Regime, um das es ziemlich still geworden ist, hat seine selbst gesetzten Ziele – Verbesserung der Schülerperformanz, Verminderung der Bildungsungleichheit, positive Wohlstandseffekte – in der Regel gar nicht erfüllt.

Im Gegenteil, „die Schule gleicht die soziale Ungleichheit nicht aus, sondern reproduziert sie fortlaufend“ (S. 158), lautet einer dieser Befunde. Die mit hehren Absichten verfolgte Verwissenschaftlichung der Schulreformpolitik entpuppt sich somit als ein alltägliches Desaster für die Lehrer:innen und als ein Angriff auf die liberale Schulpolitik sowie die nationalen kulturellen Bildungstraditionen.

Die Ausführungen zur Coronakrise und zum staatlichen Corona-Management sind naturgemäß komplexer und zielen eher auf eine makrosoziologische Analyse des gesamtgesellschaftlichen Geschehens. Was auch eine weitaus größere tagespolitische Brisanz bedeutet.

Die schwerste Gesundheitskrise seit der Spanischen Grippe hat sowohl den Staat als auch die Wissenschaft auf besondere Weise herausgefordert. Im konsensuellen Zusammenwirken der beiden hat der scheinbare Primat der Wissenschaft eine Politik der Alternativlosigkeit ermöglicht. Hier habe sich ein Wandel der Herrschaft hin zu einem wohlwollenden Paternalismus manifestiert.

Zwar seien dessen Repräsentanten überwiegend von „guten“ Absichten – Leben retten, Gesundheit schützen, sozialen Zusammenhalt stärken – geleitet. Doch bilde die unverhältnismäßige Härte und Unerbittlichkeit, die die Exekutive beim Versuch, die Ausbreitung von SARS-CoV-2 einzudämmen, an den Tag legte, einen dem paternalistischen Staat inhärenten autoritären und die Demokratie gefährdenden Zug ab.

Mit der extremen Bedrohungslage durch das Virus und der zeitweisen Ausrufung eines Staatsnotstands verstärkten sich, so Münch, die älteren und langfristigen Tendenzen hin zum autoritären Fürsorgestaat. Insofern ist die Corona-Politik ein geeignetes Fallbeispiel für die problematischen, aber auch für die positiven Effekte (die mir in dem Buch bzw. der Rezension zu kurz kommen).

Die massiven Freiheitsbeschränkungen im Namen des Gesundheits- und Lebensschutzes und die verschärfte massenmediale Angstkommunikation, aber auch die meist mit sehr wenigen und isolierten Kennziffern (Inzidenzrate, Reproduktionswert, Intensivbettenquote und dergleichen) legitimierte Stillstellung großer Teile des gesellschaftlichen Lebens in den Lockdowns veranschaulichen in seltener Plastizität, welche sozialen Verwerfungen von der Maxime Follow the science ausgehen können.

Für mich ist das auch ein Aufruf, besser zu werden, geeignete Daten zu erheben. Also auch noch mal über unseren oft überbordenden Datenschutz nachzudenken. Der Wissenschaft sollte man nur folgen, wenn man ihr auch die notwendigen Daten und Fakten zugänglich macht. Schutz der Daten ist offensichtlich nicht immer gleich Schutz der Menschen.

Arbeitslos wegen ChatGPT und Co.?

piqer:
Jörn Klare

Wer in einer Profession arbeitet, in der es maßgeblich darum geht, Texte zu schreiben, dem wird verständlicherweise mulmig, wenn eine KI auf den Markt kommt, die eben das erstaunlich gut kann.

Für die FAZ fassen Nadine Bös und Stefanie Diemand zusammen, inwieweit sechs ausgewählte Berufsgruppen von intelligenten Sprach-Bots bedroht werden: Personalmanagerinnen, Lehrkräfte und Uni-Dozenten, Juristinnen, Programmierer, Journalistinnen, Therapeuten. Dabei kann es nur um den aktuellen Wissensstand und mehr oder minder gewagte Prognosen gehen, wozu die beiden Redakteurinnen einschlägige Wissenschaftler befragen. Manche lehnen sich dabei recht weit aus dem Fenster, andere scheinen sich vor allem selbst Mut machen zu wollen. Da die Entwicklungspotenziale kaum abzuschätzen sind, kann niemand sicher sagen, wohin die Reise geht. Andererseits leugnet auch niemand, dass sich die Aufgaben in den einzelnen Berufsfeldern verändern werden. Und doch sind die Einblicke in die einzelnen Berufsfelder gerade wegen ihrer Ambivalenz – wie hier in der Lehre – aufschlussreich:

Damit dieses Potential aber genutzt werden kann, müsste sich die Art der Aufgaben ändern. „Sie müssen zukünftig so gestaltet werden, dass weniger das Ergebnis im Vordergrund steht, sondern der Prozess der Lösungsfindung.“ Gleichzeitig sei auch die KI nicht unfehlbar. „Es wird zunehmend darum gehen, die richtigen Fragen zu stellen, Ergebnisse kritisch zu hinterfragen und Fakten zu checken.“

Lesenswert.

Der Einsatz von KI und Robotern kann den Arbeitsaufwand erhöhen

piqer:
Ole Wintermann

In den vergangenen 15 Jahren gab es etliche – zumeist volkswirtschaftlich angelegte – Analysen über den Umfang des Netto-Verlustes an Arbeitsplätzen infolge der Nutzung von Robotik und insbesondere künstlicher Intelligenz.

Sowohl die Dooms-Day-Vertreter (wir werden alle arbeitslos) als auch die Vertreter der Verheißung einer neuen arbeitsfreien Welt (die KI wird für uns arbeiten) standen sich dabei meist unversöhnlich gegenüber. Von daher ist es immer gut, nach Grautönen in der Debatte zu suchen. Eine solch vermittelnde Position nimmt dieser Text ein, der anhand eines speziellen Kontextes zeigt, dass der Einsatz von KI und Robotik gleichzeitig in beide Richtungen bei ein und derselben Tätigkeit führen kann.

Es geht um den Wissenschaftszweig der „Synthetic Biology“, der sich beispielsweise mit der Herstellung von Labor-Fleisch oder dem Re-Design befasst. Hierbei stehen wiederkehrende manuelle Aktivitäten und zugleich auch die KI-basierte Interpretation von immer größeren Datenmengen – infolge der Nutzung von KI – im Zentrum. Sowohl das Antrainieren der manuellen Aktivitäten der Roboter als auch das Aufzeigen neuer Forschungsfragen, die aus der KI-Auswertung der Daten erwachsen, führen zu einem Anstieg der Arbeitsbelastung der Wissenschaftlerinnen. Auch die Instandhaltung der digitalen Infrastruktur erfordert mehr Arbeitsaufwand als zuvor.

Ergeben hoch-aggregierte volkswirtschaftliche Analysen vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen dann eigentlich noch Sinn?

„Technisches Charisma“: Vom Bedeutungszuwachs der EU-Kommission

piqer:
Jürgen Klute

Dass sich die Gewichte innerhalb der Europäischen Union seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine verschoben haben, ist nicht neu: Unübersehbar haben die Stimmen einiger mittel- und osteuropäischer Staaten, die die Entwicklungen in Russland schon länger deutlich kritischer beurteilen als etwa die deutsche Bundesregierung, an Gewicht zugenommen.

Daneben gibt es offenbar noch eine zweite Ebene der Machtverschiebung: nämlich zwischen den drei EU-Institutionen Parlament, Rat und Kommission. „Gewinner“ ist laut dem hier empfohlen Euractiv-Artikel von Alexandra Brzozowski die Kommission, „Verlierer“ der Rat. Am Parlament scheinen diese Entwicklungen etwas vorbeizulaufen.

Eigentlich hat die Kommission im engeren Sinne kein politisches Mandat, sondern die Aufgabe, zum einen über die Umsetzung und Einhaltung der EU-Verträge zu wachen und zum anderen Gesetzesvorlagen auf dieser Basis zu erarbeiten und sie dann dem Parlament und dem Rat als den beiden politischen Entscheidungsgremien zur Verhandlung und Beschlussfassung vorzulegen.

Angesichts der Vielstimmigkeit und der daraus resultierenden Langsamkeit bei der Entwicklung gemeinsamer Positionen im Rat hat sich offensichtlich schon seit kurz vor dem russischen Überfall auf die Ukraine die EU-Kommission als die professionellste und fachlich am besten aufgestellte der drei EU-Institutionen sowie als die handlungsfähigste in dieser Krise erwiesen. Sie hat schnell und zielgerichtet die Sanktionspakete gegen Russland entwickelt und sie ist zur treibenden Kraft eines Beitritts der Ukraine zur EU geworden, obgleich eigentlich der Rat in dieser Angelegenheit die federführende Institution sein sollte.

Brzozowski beschreibt in ihrem Artikel diesen Prozess der Veränderung der institutionellen Balance der EU und versucht, eine erste vorsichtige politische Einschätzung dieses Prozesses vorzunehmen.

Wer von einer Datenmaut in der EU profitiert

piqer:
Jürgen Klute

Meine heutige Empfehlung ist ausgesprochen dröge. Dennoch halte ich es für wichtig, diesen Text zur Kenntnis zu nehmen. Es geht um das kürzlich von der EU angekündigte Gesetzgebungsvorhaben einer Datenmaut. Mit einer Datenmaut sollen Tech-Konzerne wie Google, Netflix und Facebook, die alle ihre Firmenzentralen außerhalb der EU haben, an den Kosten für Aufbau und Unterhalt der EU-weiten Kabelnetze, die von den Telekommunikationsunternehmen zur Verfügung gestellt werden, beteiligt werden. Denn, so das Hauptargument, diese großen Tech-Konzerne sind die Hauptnutzer der Kabelnetze.

Was auf den ersten Blick logisch und fair klingt, erscheint aber bei genauerem Hinsehen recht problematisch zu sein. Wo die Tücken des Denkansatzes der EU für dieses Gesetzgebungsvorhaben liegen und welche fragwürdigen gesellschaftlichen Auswirkungen es aller Wahrscheinlichkeit nach haben dürfte, analysiert Mickey Manakas in einem Beitrag für den Wiener Standard. Hauptprofiteure des Gesetzgebungsvorhabens dürften laut Manakas die Telekommunikationsunternehmen sein.

Wie gesagt, es ist ein eher trockener Artikel; das Thema, um das es geht, hat aber weitreichende gesellschaftliche Wirkungen und Folgen. Deshalb halte ich es für sinnvoll, das Thema im Blick zu haben, denn noch ist Zeit, auf das Gesetzgebungsvorhaben der EU Einfluss zu nehmen und dem Lobbyismus der Telekommunikationsunternehmen etwas entgegenzusetzen. Denn der hat nach Manakas dieses Gesetzgebungsvorhaben auf die Tagesordnung der EU geschoben.

Wer den Sorgesektor vernachlässigt, plant falsch

piqer:
Antje Schrupp

Ohne unbezahlte Haus- und Fürsorgearbeit würde die Wirtschaft zusammenbrechen. Und doch fließt dieser riesige Sektor überhaupt nicht in die gängigen volkswirtschaftlichen Analysen und Berechnungen ein – was feministische Ökonominnen seit Jahrzehnten kritisieren.

Die Freiburger Ökonomin und Soziologin Uta Meier-Gräwe erläutert in diesem Interview noch einmal, warum das so fatal ist: Laut Statistischem Bundesamt leisten Frauen in Deutschland rund 60 Milliarden Stunden an unbezahlter Hausarbeit. Wäre dafür der Durchschnittslohn eine Hauswirtschafterin, Köchin und Erzieherin zugrunde gelegt, wären das etwa 830 Milliarden Euro im Jahr. Meier-Gräwe fordert keineswegs, diesen Bereich eins zu eins in die Geldökonomie zu integrieren – nicht jede gesellschaftlich notwendige Arbeit lässt sich in Form von Erwerbsarbeit sinnvoll organisieren. Sondern das Problem liegt darin, dass alles, wofür kein Geld fließt, als unwichtig gilt und deshalb bei Planungen und Strukturen vernachlässigt wird. Meier-Gräwe:

Momentan geht die ökonomische Erzählung so: Erst müssen Industrie und Handwerk Gewinne erwirtschaften, dann können wir soziale Dienstleistungen finanzieren. Diese Denke zeigt sich unter anderem auch darin, wie Kosten für Kitas und Schulen verbucht werden. Nicht als Investitionen, wie zum Beispiel Rüstungsgüter, sondern als Konsumausgaben. Und diese Ausgaben unterliegen – anders als Investitionen – der Schuldenbremse und stehen damit unter Finanzierungsvorbehalt. Sind Kommunen klamm, haben sie folglich gar keine andere Wahl, als dort zu sparen.

Es sei aber verheerend für die Gesellschaft und auch für die Wirtschaft, wenn der Sorgesektor nicht bedarfsgerecht und vorausschauend entwickelt wird. Ein lesenswertes Interview. Wer es noch ausführlicher möchte: Soeben ist Meier-Gräwes zusammen mit Ina Praetorius geschriebenes Buch „Um-Care – Wie Sorgearbeit die Wirtschaft revolutioniert“ erschienen (Patmos, 2023, 19 Euro).

Lukrativ wie der Drogenhandel: Das globale Geschäft der Holzmafia

piqer:
Dirk Liesemer

Dieser Tage veröffentlichte ein internationales Rechercheteam von 40 Medien aus 27 Ländern umfassende Berichte über die illegale weltweite Entwaldung. Zentral geht es um die Glaubwürdigkeit von Zertifizierungsprogrammen. Die Recherchen stehen auf der Seite des International Consortium of Investigative Journalists.

Den Journalisten zufolge sind viele Umweltgutachten fragwürdig. Zudem finanzieren autoritäre Regime ihre Herrschaft bis heute mit Hölzern aus Konfliktgebieten. Auch auf Herkunftsangaben ist laut den Berichten längst nicht immer Verlass.

Wer keine Lust auf die englischsprachigen Texte hat, dem sei diese Zusammenfassung in der SZ empfohlen. Dort heißt es:

Das illegale Holzgeschäft gehört längst zu den einträglichsten Zweigen der organisierten Kriminalität und spielt in derselben Liga wie Drogen- oder Waffenhandel. Schätzte die Weltbank 2012 den Umsatz der globalen Holz-Mafia noch auf jährlich bis zu 15 Milliarden Dollar, geht Interpol heute von mindestens 50 Milliarden Dollar aus. Experten nehmen an, dass weltweit auf diese Art alle zwei Sekunden Wald von der Fläche eines Fußballfeldes verschwindet.

Die SZ widmet den Ergebnissen in ihrer heutigen Ausgabe drei Seiten (hier auf Blendle: Auf dem Holzweg).

Gepiqd habe ich einen gut halbstündigen Radiobeitrag aus dem NDR, in dem es um die Holzmafia in Rumänien geht. Das Land steht im Fokus, weil sich dort zwei Drittel der europäischen Urwälder befinden. Relevant ist das Thema, weil gerade Urwälder eine entscheidende Rolle für das Weltklima spielen.

Was ist laut NDR-Reporter Benedikt Strunz zu tun? Es braucht mehr Strafverfolger, die sich mit dieser Art der Umweltkriminalität auskennen (immerhin geht zumindest NRW nach einigen Jahren der Verirrung das Thema Umweltkriminalität an). Strunz hat auch eine gute Nachricht: Es gibt ein Vertragsverletzungsverfahren der EU gegen Rumänien. Es liege noch in der Schublade, sagt er, werde aber von vielen Rumänen herbeigesehnt.