In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Die Nordsee – Europas neue industrielle Kernzone
piqer:
Rico Grimm
Der Economist tut, was in dieser Frequenz nur dem Economist gelingt: einen Trend früh erkennen, ihn benennen und seine Relevanz gut darstellen. Der Trend, um den es mir heute geht, spielt sich an der Nordsee ab. Denn die könnte Europas neue industrielle Kernzone werden.
Warum? Weil in der Nordsee hervorragende, weltweit einzigartige Bedingungen herrschen, um aus Wind Strom zu machen. Sie ist nicht sehr tief, ihr Boden weich und der Wind weht stark und stetig. Dieser Strom wiederum ist billig und mit dem billigen Strom könnte Europas Schwerindustrie weiter produzieren. Dafür allerdings müssten einige Industrien umziehen – gen Norden.
Der Text, den ich dazu heute empfehle, ist ein sogenannter Leitartikel. Er ist recht kurz, bringt die Sache aber gut auf den Punkt. Wer noch tiefer einsteigen will, sollte den dazugehörigen Artikel lesen (Paywall lässt sich durch Registrierung entfernen).
Eine Sache wird allerdings auch deutlich: Wenn Europa die große Chance nutzen will, die die Nordsee bietet, muss es besser darin werden, Windräder aufzustellen. Zurzeit dauert es bis zu 10 Jahre von der Planung bis zur Fertigstellung.
Warum Prophezeiungen oft falsch, aber trotzdem beachtenswert sind
piqer:
Thomas Wahl
Vorhersagen sind schwierig, weil sie die Zukunft betreffen. Und deswegen treffen sie oft nicht zu. Auch wenn sie von einer „Expertengemeinschaft“ für richtig befunden wurden. Noah Smith geht der Frage nach, warum es dazu kommt, dass Experten, offenbar nicht so selten, kollektiv völligen Unsinn glauben. Ein Grund, auch von anderen Wissenschaftlern für richtig erklärte Szenarien mit mehr Skepsis zu betrachten. Der Text dekliniert dies am Beispiel von Paul Ehrlich durch, dem Autor der „Population Bomb“, der 1968 prophezeite, dass in den folgenden zehn Jahren Hunderte von Millionen Menschen an Hunger sterben würden. Ehrlich meinte auch, dass zig Millionen Amerikaner in den 1980er-Jahren verhungern würden und dass England bis zum Jahr 2000 aufhören würde zu existieren usw.
Was, wie wir wissen, bekanntlich nicht eintraf, eher im Gegenteil, wie Smith im Artikel zeigt. Um so wichtiger ist es zu erkennen,
warum Ehrlich diese Dinge so falsch gesehen hat und warum die Leute, die heute ähnliche Behauptungen aufstellen – etwa die „Degrowth“-Bewegung – auch falsch liegen (können). Aber es ist auch wichtig zu erkennen, dass, nur weil Ehrlich sich in Bezug auf Überbevölkerung und einige andere Dinge geirrt hat, das nicht bedeutet, dass er oder die Degrowth-Leute in Bezug auf die Bedrohung durch die Zerstörung unseres Lebensraumes und den Verlust von Wildtieren falsch liegen.
Es geht darum, zu erkennen, was in Prognosen immer wieder übersehen wird, um daraus zu lernen, realistischer in die Zukunft schauen zu können. Was an Ehrlichs Voraussage richtig war, ist das Bevölkerungswachstum an sich. Das hat sich fortgesetzt, aber dank sinkender Fruchtbarkeitsraten und steigendem Wirtschaftswachstum sowie Wohlstand eben nicht mehr exponentiell – das fast weltweit. Damit haben wir einen Punkt für das Verstehen von Fehlprognosen:
Die wissenschaftlichen „Modelle“, auf die Ehrlich und die anderen Umweltkatastrophen-Propheten der 60er und 70er Jahre sich verlassen haben, waren sehr einfach gebaut – sie zeichneten wirklich nur exponentielle Kurven und sagten dann: „Siehst du, Linie geht nach oben!“ Diese Art von einfacher Projektion ignoriert all die verschiedenen Gegenmaßnahmen, die Menschen gegen aufkommende Probleme ergreifen werden, und alle Möglichkeiten, wie sie sich an neue Bedingungen anpassen werden.
So war die „Grüne Revolution“, die sich ebenfalls in den 60er-Jahren anbahnte, kein zufälliges Ereignis. Sie vervierfachte z. B. die Maisproduktion, sodass heute trotz mehrfach höherer Weltbevölkerung pro Kopf mehr Kalorien konsumiert werden als 1960. Ähnlich das Abflachen der Fruchtbarkeitsraten. Neue Verhütungsmittel und die Verbreitung von Verhütungsmethoden waren eine bewusste Reaktion auf kommende Probleme. Genau wie von Wissenschaftlern entwickelte neue Technologien, die dann von Staaten (leider manchmal mit Zwangsmaßnahmen) und Unternehmen umgesetzt wurden.
Wissenschaftler der 1960er Jahre, wie Norman Borlaug, wussten, dass die Ernährung der Welt ein Problem sein würde, wenn die Weltbevölkerung stieg. Es brauchte nicht Paul Ehrlich, um ihnen das zu sagen. Deshalb widmeten sie ihr Leben der Arbeit an der Verbesserung von Pflanzensorten, Düngemitteln und Bewässerung. Die Erfinder der Empfängnisverhütung wussten, dass für viele Familien ein weiteres zufälliges Kind nur ein weiterer Mund zum Füttern bedeutete, und sie erfanden neue Formen der Empfängnisverhütung speziell, damit die Menschen die gewünschte Familiengröße wählen konnten.
Es siegte der menschliche Einfallsreichtum über die düsteren Prognosen und letztendlich auch über die Forderungen nach drastischen autoritären Maßnahmen.
Was sind nach Noah Smith nun die Lehren aus den damaligen Fehlprognosen für die aktuellen apokalyptischen Szenarien? Hier argumentiert der Autor insbesondere gegen die „Degrowth“-Bewegung in den USA. Aber wir sehen das ja auch in Europa immer öfter als eine populäre Strategie in den Medien. Smith bezeichnet Degrowth als ein nicht realistisches Vorgehen, da erstens eine massive koordinierte globale Anti-Wachstumsplanung undurchführbar ist, weil damit zweitens auch der Übergang zu erneuerbaren Energien aufgehalten würde und weil das drittens von den Entwicklungsländern unhaltbare Opfer fordern würde. Dazu käme,
dass Degrowther nicht nur undurchführbare Lösungen fordern, sondern auch unglaublich schlampig in ihren Vorhersagen sind. Zum Beispiel stützen Degrowther ihre Einschätzungen des nicht nachhaltigen Ressourcenverbrauchs regelmäßig auf aggregierte Messungen des Materialverbrauchs.
Solche Daten etwa in Bruttogewichten umfasst auch Materialien, die recycelt werden oder nachhaltig sind (z. B. kommerzielle Wälder oder Landwirtschaft selbst). Und wenn die Ressourcen in einer nachhaltigeren Form genutzt werden – etwa beim Wechsel von der Fischerei auf die Fischzucht – wird dies in diesen Zahlen nicht erfasst. Auch ignoriert man dabei eine der wichtigsten Quellen der Nachhaltigkeit: die Ressourcensubstitution.
Wenn Menschen herausfinden, wie sie eine allgemein verfügbare Ressource durch eine knappe ersetzen können, steigt die Nachhaltigkeit, auch wenn die verwendete Bruttotonnage zunimmt. Wenn wir beispielsweise weit verbreitetes Magnesium anstelle von knappem Lithium für unsere Batterien verwenden, erhöht dies die Nachhaltigkeit, auch wenn sich die Tonnage nicht ändert.
Und wir sind natürlich immer auf der Suche nach Möglichkeiten, knappe, problematische und/oder teure Ressourcen durch reichlich Vorhandenes zu ersetzen – oft erfolgreich. Ein gutes Beispiel wäre Windenergie oder Kernkraft statt Kohle oder Erdöl. Trotzdem dominiert in den Angstprognosen das typische „Die Kurven steigen“-Denken und man behandelt die frühere Korrelation von Wirtschaftswachstum und Ressourcen-Übernutzung als ein universelles Gesetz. Obwohl, wie Smith am Beispiel der CO2-Emissionen zeigen kann, in sehr vielen Staaten eine absolute Entkopplung gegenüber dem Wirtschaftswachstum stattgefunden hat (siehe Artikel).
Trotzdem, es wäre „sehr, sehr schlecht, die Menschen zu ignorieren, die vor dem Klimawandel warnen“. Denn es ist schwierig, zwischen berechtigter Angst und unbegründeter Panik zu unterscheiden. Zudem kann ich Noah Smith durchaus folgen, wenn er sagt:
Wenn ich die Prävalenz solcher Einstellungen sehe, frage ich mich, ob Panikmache wie Ehrlichs kein nützliches Gegengewicht zur menschlichen Gefühllosigkeit ist. Im Wirtschaftsjargon ist die Überschätzung der Wahrscheinlichkeit eines sechsten Massensterbens vielleicht eine Möglichkeit, die privaten Versorgungsfunktionen der Menschen, die die globale Wirtschaftspolitik gestalten, besser mit der Sozialfunktion in Einklang zu bringen, die alle lebenden, fühlenden Wesen umfasst. Zumindest könnte Panikmache dazu beitragen, die Zerstörung von Lebensräumen im öffentlichen Bewusstsein zu halten.
Lernen wir, einander zu verstehen und zu akzeptieren …
Wie gesellschaftliche Transformationen gelingen können
piqer:
Jürgen Klute
Unabhängig davon, wie Leserinnen und Leser zu den Klebeaktionen der Aktivistinnen und Aktivisten der „Letzten Generation“ stehen mögen: Ihre Aktionen konfrontieren uns mit der Frage, wie in einer Gesellschaft Veränderungen angestoßen werden können. Dass wir die Klimaerwärmung so schnell wie möglich und so weitgehend wie möglich stoppen müssen, darüber besteht ein recht breiter gesellschaftlicher Konsens. Aber wie und wann die nötigen Veränderungen umgesetzt werden sollen, das ist eben strittig.
An diesem Wochenende bin ich auf zwei Texte gestoßen, die sich aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln mit der Frage befassen, wie gesellschaftliche Änderungen funktionieren. Da ich ja nur einen Text direkt empfehlen und verlinken kann, habe ich mich für den der beiden Texte entschieden, der am praxisrelevantesten ist. Es ist ein Gastbeitrag von Maike Sippel in der taz. Der zweite Text, auf den ich weiter unten eingehen werde, ist ein im Wiener Standard veröffentlichter Essay von dem in Wien lebenden Schriftsteller Philipp Blom.
Doch zunächst zu Maike Sippel. Sie forscht und lehrt zu nachhaltiger Ökonomie an der Hochschule Konstanz. Ihre Ausgangsfrage ist:
Wie können wir den Paradigmenwechsel schaffen, mit dem wir die Klimakrise meistern und eine lebenswerte Zukunft sichern? Wie kann der tiefgreifende Wandel gelingen, mit dem wir uns von ökonomischen Wachstums- und Konsumzwängen verabschieden und zu einer sozialgerechten Entwicklung aufbrechen, die die ökologischen Belastungsgrenzen der Erde respektiert?
Sippel betont gleich zu Beginn ihres Beitrags, dass es für eine sozial-ökologische Transformation auch veränderte Strukturen braucht. Diese fallen aber nicht vom Himmel, sondern müssen vorbereitet werden. Deshalb konzentriert sie sich auf die Möglichkeiten, die wir haben und mit denen wir zum nötigen Systemwandel schon heute beitragen können.
Wie Sippel schreibt, hat sie in den letzten Jahren in ihrer Arbeit als Hochschullehrerin begonnen, nicht mehr nur abstrakt und theoretisch über Transformationsprozesse mit den Studierenden zu reden, sondern sie hat Methoden entwickelt und in ihre Lehre eingebunden, neben der theoretischen Arbeit an Themen auch praktische Veränderungen in ihrem Alltag im Sinne der Lehre vorzunehmen und auszuprobieren, wie Transformation im Alltag aussehen kann. Sippel betont, dass es ihr dabei nicht auf Vollständigkeit und Perfektion ankommt, sondern darauf, konkrete Schritte auszuprobieren.
Dazu hat Sippel zwölf Ideen entwickelt, wie wir bereits im Heute mit der nötigen sozial-ökologischen Transformation beginnen können – jedenfalls mit ersten Schritten. Sippel bezieht sich dabei auf Forschungen der US-amerikanischen Politikwissenschaftlerin Erica Chenoweth, nach der es bereits ausreichen kann, einen Regimewechsel in einer Gesellschaft herbeizuführen, wenn drei bis vier Prozent der Bevölkerung aktiv und gewaltfrei gegen Bestehendes protestieren. Mit ihren zwölf Ideen benennt Sippel eine ganze Reihe von alltäglichen Handlungsfeldern, in denen wir uns einüben können in eine sozial-ökologische Transformation und sie macht deutlich, dass sich solche Verhaltensänderungen im Kleinen lohnen, auch wenn es auf den ersten Blick nicht immer gleich so aussieht. Der systematische Wandel, der letztendlich für die großen Weichenstellungen für eine Transformation unerlässlich ist, kommt erst im zweiten Schritt.
Genau das macht auch Philipp Blom in seinem Essay deutlich. Sein Artikel im Wiener Standard ist überschrieben mit dem Titel „Umweltaktivismus: Schriftsteller Philipp Blom über Klimaproteste: Immense Frustration. Wie handelt man angemessen in einer verzweifelten Situation? Schriftsteller Philipp Blom über Verhältnismäßigkeit und gesellschaftliche Umbrüche„. Blom schlägt einen großen Bogen zurück in die Vergangenheit und vergleicht die heutigen KlimaaktivistInnen mit den AktivistInnen der Frauenrechtsbewegung vor gut 100 Jahren. Blom zeichnet nach, wie die Frauenrechtsbewegung sich in ihren Anfängen entwickelte und wie sie aufgrund der Widerstände bzw. auch der Ignoranz, mit denen sie konfrontiert war, vor dem Ersten Weltkrieg nach und nach radikalisierte. Erst am Ende des Krieges kam es zu gesellschaftlichen Veränderungen, zu Transformationen. Blom fasst das wie folgt zusammen:
Die Transformation wurde erst durch die Erschütterung der bestehenden sozialen Strukturen ermöglicht. Dann aber konnte sie auch greifen. Die Argumente waren schon in der Öffentlichkeit, als der Wandel durch den Krieg unvermeidlich geworden war, aber ohne den Druck durch die Suffragetten, ihre oft extremen Kampagnen, ihr jahrelanges politisches Lobbying, ihre Märsche und die zahllosen Briefe an Politiker und Störaktionen, die Hungerstreiks und die öffentlichen Kontroversen wäre das Frauenwahlrecht wohl auch in Großbritannien später gekommen. Es ist aber für soziale Transformation wichtig, dass die Argumente bereits in Position und im öffentlichen Bewusstsein sind, wenn die Strukturen geschwächt sind und Veränderung erlauben.
Blom zeigt hier also die langfristigen Dynamiken auf, die einer Transformation vorausgehen. Und er macht daran deutlich, dass die oft frustrierenden, weil kurzfristig erst einmal erfolglosen Interventionen eine notwendige Voraussetzung dafür sind, dass dann ab einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich Transformationsprozesse beginnen können. Ohne die vielen kleinen vorbereitenden Schritte, die Maike Sippel im Blick hat, verliefe ein solcher Transformationsprozess blind, ziel- und orientierungslos. Diese beiden Texte geben aus meiner Sicht eine schlüssige Antwort auf die gerade in veränderungswilligen und veränderungsbereiten gesellschaftlichen Teilen oft diskutierte Frage, ob sich erst die Verhältnisse oder erst die Menschen ändern müssen.
Warum die LNG-Pläne der Bundesregierung so klimaschädlich sind
piqer:
Ralph Diermann
Anfang Januar erreichte der erste Tanker mit Flüssiggas das frisch eröffnete Terminal in Wilhelmshaven. LNG-Importe haben eine zentrale Bedeutung für die Versorgungssicherheit in Deutschland – sie sind unverzichtbar, um Pipeline-Importe aus Russland zu ersetzen. Deshalb setzt die Bundesregierung derzeit alles daran, eine Infrastruktur für die Einspeisung von Flüssiggas ins deutsche Netz zu schaffen.
Aus Sicht des Klimaschutzes ist das allerdings fatal, wie eine Studie des Beratungsunternehmens EnergyComment zeigt, über die Jörg Staude auf klimareporter.de berichtet. Denn LNG verursacht weit mehr Emissionen als Erdgas in gasförmigem Zustand – unter anderem wegen des Energieaufwandes bei der Verflüssigung sowie beim Schiffstransport. Besonders heikel ist, wenn das Gas per Fracking gewonnen wurde (die erste in Wilhelmshaven angelandete Partie kam aus den USA; die Wahrscheinlichkeit, dass es aus Fracking stammt, ist damit sehr hoch).
Zudem rechnet die Studie vor, dass die Kapazität der geplanten LNG-Terminals weit über den tatsächlichen Bedarf hinaus geht. Damit entstehen fossile Assets, die womöglich länger genutzt werden, als es aus Klimasicht verantwortbar wäre. Dazu kommt: Die Terminals sind, anders als von der Bundesregierung behauptet, nicht oder nur mit enormem Aufwand auf Wasserstoff umrüstbar.
Zur Überdimensionierung der LNG-Infrastruktur hat gestern auch Malte Kreutzfeldt bei Table.Media eine interessante Analyse vorgelegt (seine Zusammenfassung hier im Twitter-Thread). Er zeigt, dass der Großteil des LNG-Bedarfs durch Importe über bestehende Terminals aus Nachbarländern gedeckt werden kann, die umfassende LNG-Infrastruktur in Deutschland also gar nicht notwendig ist.
Ein skeptischer Blick auf die AI-Revolution
piqer:
René Walter
Ezra Klein (Gründer von Vox.com und Kolumnist bei der New York Times) interviewt für seinen NYT-Podcast den bekannten AI-Skeptiker Gary Marcus, seines Zeichens der wohl bekannteste Kritiker der sich abzeichnenden Artificial-Intelligence-Revolution.
Im Podcast lassen die beiden das vergangene Jahr und die schiere Flut an neuen Entwicklungen in der AI-Entwicklung Revue passieren und rücken einige der grandiosesten, utopischsten Aussagen zurecht. Nein, LaMDA ist nicht empfindungsfähig. Nein, selbst moderne AI-Systeme sind nicht intelligent, sondern auf statistischen Modellen basierende stochastische Bibliotheken. Und nein, ChatGPT hat trotz seiner bemerkenswerten Fähigkeiten kein Verständnis von der Welt.
Gary Marcus hatte jüngst die viel beachtete AGI-Debatte in Montreal moderiert, wo unter anderen Noam Chomsky seine Skepsis gegenüber diesen stochastischen Bibliotheken und dem angeblichen Erkenntnisgewinn bezüglich menschlicher Intelligenz geäußert hatte. In seinem Newsletter auf Substack veröffentlicht Marcus regelmäßig kritische Texte zu aktuellen AI-Hypes und auf Twitter (Mastodon) streitet er sich regelmäßig mit Yann LeCun, Chief AI Scientist bei Meta.
Ich selbst komme ursprünglich aus der Kreativbranche und sehe die sich abzeichnenden neuen Möglichkeiten synthetischer Bildwelten einerseits als einen fantastischen Gewinn, der eine ganze Branche umkrempeln und grade für die Erschaffung neuartiger Ästhetiken bahnbrechend sein dürfte. Andererseits ist mir bewusst, dass grade die stochastischen Mechanismen dieser neuen Kulturtechnik in anderen Branchen ein gewaltiges Hindernis darstellen, von selbstfahrenden Autos bis hin zu Google Search.
In dieser Situation ist es gut, einem Kritiker wie Marcus zuzuhören, der regelmäßig jede Menge heißer Luft aus dem Hype-Thema des letzten Jahres herauslässt.
Ein Strudel unheimlicher KI-Visionen
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Jannis Brühl
Es herrscht ja kein Mangel an optimistischen Prognosen, wie künstliche Intelligenz (KI) die Zukunft verändern wird. Samuel Hammond vom US-Thinktank Niskanen Center hat eine Reihe knackiger Texte über KI in seinem Newsletter geschrieben, die interessante Denkanstöße geben. Ich teile seine Gutgläubigkeit nicht, dass es generelle künstliche Intelligenz – die quasi denkt wie ein Mensch oder noch besser – bis 2038 geben könnte (ich zweifle daran, dass es sie je geben wird). Aber andere Gedanken finde ich inspirierend.
Hammond plädiert dafür, radikale Technologien nicht nur für sich zu sehen und einzelne Produkte zu prognostizieren, sondern ihre indirekten Wirkungen auf alle, auch überraschende gesellschaftliche Bereich, mitzudenken – so wie das Auto die gesamte Gesellschaft umkrempelte. Besonders schön zu lesen fand ich aber diese mit Links gespickte Passage, die beschreibt, wie Normalmenschen in zehn Jahren mehr technologische Möglichkeiten haben werden als ein heutiger CIA-Agent:
You’ll be able to listen in on a conversation in an apartment across the street using the sound vibrations off a chip bag. You’ll be able to replace your face and voice with those of someone else in real time, allowing anyone to socially engineer their way into anything. Bots will slide into your DMs and have long, engaging conversations with you until it senses the best moment to send its phishing link. Games like chess and poker will have to be played naked and in the presence of (currently illegal) RF signal blockers to guarantee no one’s cheating. Relationships will fall apart when the AI lets you know, via microexpressions, that he didn’t really mean it when he said he loved you. Copyright will be as obsolete as sodomy law, as thousands of new Taylor Swift albums come into being with a single click. Public comments on new regulations will overflow with millions of cogent and entirely unique submissions that the regulator must, by law, individually read and respond to. Death-by-kamikaze drone will surpass mass shootings as the best way to enact a lurid revenge. The courts, meanwhile, will be flooded with lawsuits because who needs to pay attorney fees when your phone can file an airtight motion for you?
Erschreckend, und in so einem Strudel der Ideen, die sich alle aus aktueller Forschung ableiten, muss man sich dann Gedanken über den Umgang der Politik mit der neuen Supertechnologie machen. Hier bleibt Hammond leider vage, aber er hält fest: KI dürfte eine Bedeutung bekommen, die den Charakter unserer politischen Systeme verändern könnte – auch zum schlechten.
Die große Kryptoillusion – die immer wieder platzt
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Sven Prange
Derzeit herrscht mal wieder Ernüchterung am Kryptomarkt. Weil der auf den Bahamas lebende und in den USA geschäftlich aktive Kryptowährungshändler Sam Bankman-Fried offenbar mehr mit Illusionen als mit Kryptogeld wirtschaftete, stellt sich die ganze Branche einmal wieder die Sinnfrage. Kryptowährungen, das waren jene Teile des Geldsystems, die Hoffnung auf eine ganz neue Wirtschaft schürten und mittlerweile als Dauerskandalproduzierende (vorerst) geendet sind.
Dass Bankman-Fried keine Ausnahme, sondern eher die Regel eines undurchsichtigen Systems zu sein scheint, zeigt dieser Film. Denn es gab bereits einen großen Kryptoskandal: OneCoin. Diese digitale Währung erfand Ruja Ignatova, um steinreich zu werden. Mit ihrer Pseudo-Kryptowährung betrog sie über drei Millionen Anleger weltweit und erbeutete mehrere Milliarden Euro.
Die Deutsch-Bulgarin spannte Mafiosi, arabische Scheichs, Ex-Spione und dubiose Banker ein, um mit der Illusion einer besseren oder zumindest anderen Geldwelt Anleger zu täuschen. Ein Wirtschaftsmärchen, wie es nur die digitale Wirtschaft mit ihren Heilsversprechen und Geschäftsmodellen, an die noch immer mehr Menschen glauben als sie wirklich verstehen, hervorbringt.
In der Mediathek bis 29.Januar 2023