In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Nouriel Roubini: „World War III Has Already Effectively Begun“
piqer:
Lutz Müller
Nouriel Roubini ist Emeritus an der Stern School of Business der New York University. Bekanntheit erreichte er vor allem mit seinen Prognosen über das Platzen der Immobilienblase 2004, zur Finanzkrise 2008, den Auswirkungen der Troika-Auflagen für die griechische Wirtschaft 2010 und den Einbrüchen der Finanzmärkte unmittelbar nach Ausbruch der Corona-Pandemie im Februar 2020. Seine Aussagen sind nicht unumstritten. Die einen sehen sie subjektiv gefärbt, andere würdigen ihre Realitätsnähe im Vergleich mit jenen aus der Welt der Modellrechnungen.
Das Interview mit dem Spiegel »Der dritte Weltkrieg hat bereits begonnen« erschien in der letzten Ausgabe. Diese Steigerung in der Schärfe gegenüber dem englischen Text im Titel dieses PIQ wird nur dadurch etwas abgeschwächt, dass das Interview der Rubrik Wirtschaft zugeordnet wurde. Auf S+ online ist es im Abo mit der Präzisierung „… hat praktisch bereits begonnen“ verfügbar. Unten habe ich das englischsprachige Original verlinkt, das auf Spiegel International frei verfügbar ist.
Es geht um Roubinis neues Buch mit dem Titel: „Megathreats. The Ten Trends that Imperil Our Future, and How to Survive Them”. Düsterer gehe es nicht, sagen die Interviewer.
„The threats I write about are real – no one would deny that. I grew up in Italy in the 1960s and 1970s. Back then, I never worried about a war between great powers or a nuclear winter, as we had détente between the Soviet Union and the West. I never heard the words climate change or global pandemic. And no one worried about robots taking over most jobs. We had freer trade and globalization, we lived in stable democracies, even if they were not perfect. Debt was very low, the population wasn`t over-aged, there were no unfunded liabilities from the pension and health care systems. That’s the world I grew up in. And now I have to worry about all these things – and so does everyone else.“
Zu jeder der zehn Bedrohungen könne der Autor sofort ein Beispiel liefern. In der Trockenheit dieses Sommers sind in Seen nahe Las Vegas Gangsterleichen aus den 1950ern aufgetaucht. Landwirte in Kalifornien verkaufen ihre Wasserrechte, was ertragreicher ist als noch irgendetwas anzubauen. Hausbesitzer an der Küste Floridas können ihre Immobilien nicht mehr versichern. Irgendwann wird die Hälfte der Amerikaner in den Mittleren Westen oder nach Kanada ziehen müssen.
„That’s science, not speculation.“
Ausführlicher wird die Situation auf dem Gebiet der Hochtechnologien hinterfragt. US-Exporte von Halbleitern nach China, die für KI, Quantencomputer oder militärische Zwecke genutzt werden können, wurden gerade unter Embargo gestellt. Wir seien schon mittendrin in einem Szenario, dass die USA aus Interesse an ihrer nationalen Sicherheit Druck auf Europa ausüben könnten, um ihre Militärpräsenz auf dem Kontinent nicht zu gefährden. Es wird unmöglich sein, dass die Europäer weiter Geschäfte mit den USA und China machen.
„Trade, finance, technology, internet: Everything will split in two.“
In der komplexen Verflechtung von Klimawandel, Krieg und Stagflation besteht eine große Gefahr für Demokratien, wenn sich die wirtschaftliche Situation stark verschlechtern wird. Ist die Politik damit überfordert? Sie müsse sich zuerst um Russland und die Ukraine kümmern als um Israel und Iran oder China. Aber auch die finanziellen, wirtschaftlichen und anderen Risiken dürfen nicht außer Acht gelassen werden.
Die US-Regierung hat gerade erklärt, dass sie einen chinesischen Angriff auf Taiwan eher früher als später erwartet.
„Honestly, World War III has already effectively begun, certainly in Ukraine and cyberspace.“
Viele weitere Nuancen kommen in Nouriel Roubinis Einschätzungen zu Tage, so dass es sich lohnt, das komplette Interview zu lesen. Die Bindung zu seiner Heimatstadt beschreibt er so:
„… even if there is another hurricane like Sandy in New York that could lead to violence and chaos, I will stay. We have to face the world as it is…“
Ein Gespräch mit Suzanne Kianpour von der BBC News ist auf YouTube zu finden (18 min). Und eine Leseprobe zum Buch, erschienen am 20. Oktober, gibt es hier. Die deutsche Ausgabe „Megathreats. 10 Bedrohungen unserer Zukunft – und wie wir sie überleben“ ist für den 9. November angekündigt.
Unternehmen sollen auch in Konfliktregionen verantwortlich handeln
piqer:
Jürgen Klute
Schon seit einiger Zeit arbeiten die Europäische Union, aber auch die Mitgliedsstaaten, an einem sogenannten Lieferkettengesetz. Der russische Krieg gegen die Ukraine, die Inflation und die Gaskrise haben die Entwicklung des Lieferkettengesetzes in der öffentlichen Wahrnehmung überschattet. Die EU-Kommission hat bereits im Februar 2022 eine Richtlinie über die unternehmerische Sorgfaltspflicht im Bereich der Nachhaltigkeit vorgelegt. Diese EU-Richtlinie, die dann in das Recht der einzelnen EU-Mitgliedsstaaten umgesetzt werden muss, will Unternehmen dazu verpflichten, Sorge dafür zu tragen, dass die in Europa selbstverständlichen Rechte von Arbeitnehmerinnen und Umweltschutzrechte auch innerhalb der weltweiten Lieferketten europäischer Unternehmen eingehalten werden.
Die aus Finnland kommende grüne MdEP Heidi Hautala hat in einem Gastbeitrag für Euractiv dafür votiert, diese Richtlinie um einen Aspekt, der bisher nicht in ihr auftaucht, zu erweitern: Um Regelungen, wie Unternehmen, die in Konfliktgebieten tätig sind, sich dort zu verhalten haben. Hautala begründet ihren Vorschlag damit, dass sich derzeit in Schweden und Frankreich insgesamt drei Unternehmen gerichtlich verantworten müssen für fragwürdige Kooperationen mit Konfliktparteien.
Welche Relevanz dieser Vorschlag von Hautala hat, zeigen ganz aktuell auch die Kooperationen zwischen deutschen und russischen Energieversorgungsunternehmen.
Die größten CO2-Schleudern des Planeten (und deiner Nachbarschaft)
piqer:
Rico Grimm
Je nachdem, wo man wohnt, kennt jeder einen dieser großen Industriekomplexe, die mit ihren Rohrgeflechten, Schloten und weiten Hallen zu festen Bestandteilen der lokalen Landschaft geworden sind. Die mächtige BASF an den Ufern des Rheins in Ludwigshafen, die Shell Raffinerie flussabwärts bei Köln, das Leuna-Werk, das jeder Autofahrer auf der A9 Richtung Berlin schon gesehen hat. Wer diese Anlagen sieht, weiß, dass sie das Klima zerstören. Aber wie genau, bleibt rätselhaft.
Ein neues Projekt des ehemaligen US-Vizepräsidenten Al Gore zeigt nun für Tausende Industrieanlagen auf der ganzen Welt, wie viele Emissionen sie produzieren. Die Shell-Raffiniere auf Platz 1.796, Leuna auf Platz 1.427. Die größte Dreckschleuder des Planeten ist aber – wenn man jedenfalls der KI- und satellitengestützten Methodologie dieser Studie folgt – das Permian-Becken in den USA, wo Frackingfirmen Öl und Gas aus dem Boden holen.
Überraschend für mich waren beim Blick auf die Karte weniger die genauen Daten, sondern der große weite Blick auf die Weltkarte. Tausende Punkte, Tausende große CO2-Schleudern. Das hat mir noch einmal ein anderes Gefühl gegeben für die Aufgabe, vor der die Menschheit steht.
LinkedIn-Studie: Arbeitgeber planen „spürbare Einschnitte“
piqer:
Meike Leopold
War’s das mit dem viel beschworenen Arbeitnehmermarkt der vergangenen Jahre? Trotz Rekordgewinnen sowie händeringenden Klagen über Fachkräfte- und Nachwuchsmangel wollen die Unternehmen jetzt die Daumenschrauben bei den Mitarbeitenden anziehen.
Was heißt das konkret? Laut einer internationalen Studie von LinkedIn/YouGov „stehen sowohl eine Reihe von Mitarbeiter-Benefits als auch das Homeoffice zur Debatte“.
Bei den Einsparungen zulasten der Mitarbeiter:innen, etwa bei der Ausstattung des Homeoffice, den Zuschüssen zu den Internetkosten oder freien Tagen, schicken sich besonders deutsche Unternehmen an, „Rekordhalter“ zu werden:
Mit 74 Prozent der Unternehmen, die ihre Benefits kürzen (wollen), liegt Deutschland nicht nur über dem internationalen Durchschnitt (66 Prozent), sondern erreicht in Europa sogar den zweithöchsten Wert hinter Schweden (80 Prozent).
Die Studie stellt fest:
Diese Maßnahmen sind insofern überraschend, weil Führungskräfte sich sehr wohl der finanziellen Belastung ihrer Mitarbeiter bewusst sind: 44 Prozent von ihnen glauben sogar, dass dies derzeit die größte Sorge ihrer Angestellten ist.
Doch damit nicht genug. Die Produktivität der Mitarbeitenden solle erhöht werden, indem diese wieder mehr im Büro erscheinen müssen, so die Studie. „Demnach war im September lediglich jede zehnte ausgeschriebene Stelle in Deutschland (10 Prozent) als remote Job ausgewiesen.“ Auch hier rankt Deutschland übrigens direkt hinter Spitzenreiter Irland. Nicht zuletzt für Frauen dürften das nach allen Belastungen der Pandemie erneut schlechte Nachrichten sein.
Die Pläne wären ein herber Dämpfer für die Motivation der „Workforce“, darüber sind sich sogar die Befragten klar. Ob Unternehmen sich das in der derzeitigen Krisenlage wirklich leisten können? LinkedIn stellt fest: „Gerade wenn der Druck von außen groß ist, profitieren Unternehmen und Mitarbeiter davon, wenn sie am selben Strang ziehen.“
Klimapolitik und Kolonialismus
piqer:
Jürgen Klute
Klimapolitik ist im Kern Wirtschaftspolitik. Denn die Klimaerwärmung ist Folge der Produktion der Dinge und Dienstleistungen, die wir zum Leben brauchen bzw. von denen wir meinen, dass wir sie zum Leben brauchen. Die hoch entwickelte Wirtschaft in den reichen Gesellschaften ist allerdings auf unterschiedliche Ressourcen aus anderen Regionen des Globus angewiesen und die Folgen dieses Wirtschaftens, wie z. B. die CO2-Emissionen, wirken sich auf das Klima des gesamten Globus aus. Klar ist damit, dass wir die Klimaerwärmung nur stoppen können, wenn die Wirtschaft der reichen Länder klimaverträglich umgebaut wird. Das ist kein einfacher Akt. Und die Vorstellungen, wie die Wirtschaft umgebaut werden müsste, sind in den reichen Gesellschaften andere als in den ärmeren.
Angesichts der Klimakonferenz COP27 in Ägypten haben sich auch Klimaaktivist*innen aus wirtschaftlich ärmeren Ländern zu Wort gemeldet. Sie haben einen völlig anderen Blick auf die Klimakrise. Die Luxemburger Zeitung woxx schreibt dazu:
„Die Klimakrise ist Ausdruck ineinandergreifender Unterdrückungssysteme und eine Form des Kolonialismus“, stellt die Klimaaktivistin Meera Ghani, früher selbst Verhandlungsführerin für Pakistan, fest. Dieser Ansicht schließt sich auch das Konsortium „Allied for Climate Transformation 2025“ (ACT2025) an, ein Zusammenschluss von Think Tanks und Expert*innen, die ehrgeizige, gerechte und ausgewogene Ergebnisse bei den UN-Klimaverhandlungen fordern und dabei vor allem die Bedürfnisse und Prioritäten besonders gefährdeter Entwicklungsländer im Blick haben.
Sechs Punkte haben die Klimaaktivisten um Meera Ghani benannt, die aus ihrer Sicht vorrangig zu bearbeiten und zu klären sind für eine auch aus Sicht der Entwicklungsländer gerechte und ausgewogene Klimapolitik. woxx hat in dem hier empfohlenen Artikel diese sechs Punkte ausführlich dargestellt.
Wie man mit Nichts reich wird
piqer:
Rico Grimm
Was haben George Clooneys Tequilla, Rihannas Unterwäsche und Christiano Ronaldos NFT-Sammlung gemeinsam?
Hier wird nicht ein Produkt vermarket, sondern eine Berühmtheit. Ob das jeweilige Produkt gut oder schlecht ist, ob es überhaupt ein Produkt ist (NFTs?), interessiert niemanden.
Dieser Artikel nimmt euch mit in die Welt des „Influencer-Kapitals“, eine Welt, in der Hunderte Millionen fließen, um Marken aufzubauen, die nur existieren können, weil eine Berühmtheit sie auf Social Media bewirbt. Den Boom losgetreten hatte George Clooney, der zusammen mit ein paar Kumpels eine Tequila-Brennerei aufgemacht hat, nur um sie vier Jahre später für sage und schreibe eine Milliarde Dollar an den großen Alkoholkonzern Diageo zu verkaufen. Danach starteten alle möglichen Promis Mode- und Food-Firmen, immer in der Hoffnung, sie dann weiterverkaufen zu können.
Der nächste logische Schritt waren dann natürlich NFTs: Einfach die aufwendig herzustellenden Produkte weglassen und direkt nichts zu verkaufen. Denn mit der absoluten Mehrheit der Celebrity-NFTs geht im Grunde nichts einher: Sie geben einem keine Privilegien oder Ähnliches.
Nachdem ich diesen Text gelesen hatte, habe ich mich gefragt, was das bedeutet: Und für mich sind all diese Storys Beleg dafür, welch wichtige Währung Aufmerksamkeit geworden ist. Wenn du Aufmerksamkeit hast, kannst du in unserer Welt alles verkaufen. Vielleicht werden in ein paar Jahren die Historiker auf die Zehnerjahre zurückblicken und sie als den Zenit der Aufmerksamkeitsökonomie einordnen.
Wie weiter mit dem Klagerecht auf die fossile Zukunft?
piqer:
Nick Reimer
Nach der Klimakonferenz (hier: was von den Ergebnissen zu halten ist) ist vor der nächsten wichtigen Konferenz in Sachen Klimazukunft: In der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator sind heute die Mitglieder des Energiecharta-Vertrages (ECT) zusammenkommen, um über eine Reform des 1998 in Kraft getretenen Vertrages zu beraten. Im Kern gibt dieser internationale Investitionsschutzvertrag Energiekonzernen das Recht, vor Schiedsgerichten gegen Staaten, in denen sie investiert haben, zu klagen – wenn ihre Investitionen durch Klimaschutzmaßnahmen entwertet werden. Wenn die Staaten also zum Beispiel Maßnahmen für weniger Treibhausgase beschließen, als es in den Konzernplänen vorgesehen war.
Ursprünglich war der Vertrag vor allem dazu gedacht, Investitionen westlicher Energiekonzerne in ehemaligen Ostblockstaaten anzuregen und abzusichern. Mehr als 50 Staaten, vor allem aus Europa, sind dem Abkommen beigetreten, aber er ist nicht mehr zeitgemäß. Die Bündnisgrüne Fraktionschefin Katharina Dröge:
„Kein anderes internationales Handels- oder Investitionsabkommen der Welt hat mehr Investorenklagen ausgelöst als der Energiecharta-Vertrag. Dieser Vertrag ist ein Hindernis für die Energiewende und kostet den Staat Milliarden.“
Bislang beriefen sich mehr als 200 Kläger auf den ECT-Vertrag, immer noch sind Dutzende Klagen anhängig. Bekanntester Fall in Deutschland ist der Kläger Vattenfall: Schwedens Staatskonzern forderte nach dem deutschen Atomausstiegs 2011 Entschädigungen in Milliardenhöhe. Deutschland zahlte im Rahmen eines Vergleichs schließlich 1,4 Milliarden Euro.
Klagen kann derzeit, wer im Besitz eines Kraftwerks, eines Ölfelds, eines Gasprojekts ist – wenn die Staaten ihre Politik beispielsweise klimafreundlicher machen wollen. Claudia Kemfert, Professorin für Energiewirtschaft, urteilt:
„Der Vertrag ist ein Hindernis für die Energiewende, denn oft wurden politische Entscheidungen gegen fossile Energien angefochten und hohe Entschädigungssummen durchgesetzt. Das ist teuer für den Staat.“
Tatsächlich ist der ECT-Vertrag gehörig unter Druck: Nachdem zuletzt 15 Verhandlungsrunden ohne Ergebnis ausgegangen sind, liegt in Ulan Bator erstmals ein konkreter Reformvorschlag vor. Demnach sollen die Klagerechte von Investoren bei fossilen Brennstoffen etwas beschränkt werden, und zwar in der EU sowie in Großbritannien. Grundsätzlich sollen Investitionen in fossile Brennstoffe bis 2033 geschützt werden, bei Erdgasprojekten bis 2043. Zudem soll der Vertrag auf neue Energieträger und Technologien wie Wasserstoff, Biomasse und Kohlendioxidabscheidung ausgeweitet werden.
Dem Vernehmen nach wird an diesem Mittwoch entschieden. Bremser scheint ausgerechnet die Bundesrepublik Deutschland zu sein.