In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Börsencrash – aber wohin geht eigentlich der ganze Wohlstand?
piqer:
Rico Grimm
Wer schon einmal an der Börse Geld verloren und Freunde hat, die nie um einen flotten Spruch verlegen sind, kennt das Sprichwort: „Dein Geld ist nicht weg, es hat jetzt nur ein anderer!“
Noah Smith geht in diesem lesenswerten Stück genau dieser Frage nach: Was passiert eigentlich mit dem ganzen Wohlstand, der da aktuell Monat für Monat an der Börse „vernichtet“ wird?
Smiths kurze Antwort: „Es ist nirgendwo hingegangen. Es ist verschwunden. Es hat aufgehört, zu existieren.“
Die lange Antwort: Wohlstand ist keine physikalische Eigenschaft, keine Dimension unseres natürlichen Daseins auf dem Planeten. Er ist eine Erfindung und existiert gewissermaßen nur in unseren Köpfen. Wie groß er ist, hängt davon ab, wie genau, wir ihn messen, und darin steckt schon ein großer Teil der eigentlichen Antwort.
Ein Gedankenspiel: Es gibt zehn Häuser, alle identisch. Ein Haus wird mit einer Million bewertet. Wir haben ein Vermögen von 10 Millionen. Sollte aber ein Haus für 500.000 Euro verkauft werden, sinkt das das gesamte Vermögen um fünf Millionen Euro. Denn alle Häuser sind identisch, alle sind gleich viel Wert. Der Markt hat sie durch den Verkauf mit 500.000 Euro bewertet. Schlimmer noch, wenn das nächste Haus für 400.000 Euro verkauft wird, und das nächste für 300.000 Euro sind die sieben verbliebenen nur noch 2,1 Millionen Euro zusammen wert. Und puuuf: Wohlstand ist weg.
Am Ende ist für diese Art von Wohlstand nicht die nominelle Zahl entscheidend, sondern die Frage, wie viel Liquidität, wie viel Geld im System gerade herumschwirrt. Kann der angezeigte Kurs, also der Wert auch wirklich von allen realisiert werden? Die Antwort lautet eigentlich immer nein.
In diesem Sinne ist Wohlstand schon immer eine Illusion gewesen.
Das energie- und industriepolitische Erbe der Merkel-Ära
piqer:
Jürgen Klute
Russlands Krieg gegen die Ukraine hat der bundesrepublikanischen Gesellschaft ungeschminkt ihre Abhängigkeit von russischem Gas vor Augengeführt. Das ist nicht nur angesichts des gegenwärtigen Krieges gegen die Ukraine ein enormes Problem für Wirtschaft und Privathaushalte, weil Russland auf die Sanktionen mit einer Verknappung der Gaslieferungen an die Bundesrepublik und auch an andere EU-Mitgliedsländer reagiert. Ein Ausweg wäre ein zügiger Umstieg auf eine erneuerbare, klimaverträgliche Energiegewinnung, die angesichts der rasanten Klimaerwärmung dringend nötig ist. So wird durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine plötzlich auch deutlich, dass die Bundesrepublik viel zu lange die erforderlichen wirtschaftlichen Transformationsprozesse verzögert hat.
Christian Stöcker erinnert in seiner aktuellen Sonntagskolumne im Spiegel an die politischen Ursachen der aktuellen Drucksituation. Vor rund 11 Jahren war die bundesrepublikanische Wirtschaft eigentlich schon auf einem guten Weg Richtung ökologischer Transformation. Stöcker zeichnet in seiner Kolumne nach, wie ab 2011 ein wirtschaftspolitischer Wandel der damaligen Bundesregierung zu Gesetzesänderungen führte, die die positiven Entwicklungen abrupt im Interesse der Unternehmen gestoppt haben, die von der fossilen Energiegewinnung profitierten. Mit der Folge, dass ein Vielfaches von dem an Arbeitsplätzen in zukunftsfähigen Industriebereichen zerstört wurde, die in diesen alten und überlebten Industriebereichen durch Subventionen künstlich erhalten wurden.
Beteiligt waren an dieser desaströsen wirtschaftspolitischen Fehlregulierung sowohl CDU/CSU als auch FDP und SPD als Koalitionspartner in den verschiedenen Bundesregierungen unter Angela Merkel. Ein Teil von den für diese Fehlregulierung politisch Verantwortlichen besetzt noch immer politische Entscheidungspositionen.
Bleibt nur zu hoffen, dass Stöckers Analyse dazu beiträgt, dass diese politische Fehlentwicklung doch noch korrigiert wird – bevor der wirtschafts- und klimapolitische Schaden so groß ist, dass er nicht mehr zu beheben ist.
Zeit, die große China-Erzählung zu ändern
piqer:
Rico Grimm
Momente, wie diese erleben wir nicht oft, aber wenn sie kommen, müssen wir sie Ernst nehmen: Wenn 20 Jahre alte Narrative, die unsere Schlagzeilen geprägt haben, aus gutem Grund in Wankens kommen. Das Narrativ, das gerade wankt: „China kommt. China wird die nächste Supermacht des Planetens.“
Die China-Korrespondentin Xifan Yang von der ZEIT fasst in diesem analytisch sehr klaren Stück zusammen, warum es berechtigten Grund gibt, an der Großerzählung zu zweifeln, die Chinas Aufstieg seit 2001, seit seinem Beitritt zu Welthandelsorganisation WTO, begleitet hat.
Yang führt fünf Punkte an:
1. Der Lockdown-Kreislauf – Zero Covid ist Staatsdoktrin. Und der Staat, vor allem Diktator Xi Jinping kann nicht irren. Also zieht China Zero Covid weiter durch, gegen alle Vernunft ohne Idee, wie es da rauskommen kann. Denn Corona verschwindet ja nicht.
2. Wachstum auf Pump funktioniert nicht ewig –70 Prozent des chinesischen Privatvermögens stecken im Immobilienmarkt. Und der wankt seit Monaten kräftig. Unterdessen geht die Arbeitsproduktivität, die eine entscheidende Kennzahl für die Stärke einer Volkswirtschaft ist, seit Jahren zurück.
3. Innovation mit der Brechstange klappt, aber nicht immer – Wie schnell und mit welcher Wucht die chinesischer Industrie den Abstand zur westlichen verringert hat? Beeindruckend. Aber kann sie auch die Technologieführerschaft übernehmen, wie vom Staat gewünscht? Fraglich, solange die Xi Jinping die Privatwirtschaft so gängelt, wie er es gerade tut. Wer eine gute Idee in China hat, weiß jetzt, dass er alles verlieren kann.
4. „Wir sind die letzte Generation“ – The Kids are not allright. Die chinesische Jugend ist desillusioniert. Yang schreibt: „Die Brutalität, mit der das Regime seine Zero-Covid-Politik verfolgt, macht vielen behüteten Mittelschichtskindern zum ersten Mal bewusst, dass sie in einem Land ohne Rechte leben. Die Aufstiegschancen schwinden, der Druck auf dem Arbeitsmarkt nimmt zu.“
5. Der Gesellschaftsvertrag bröckelt – Klappe halten, reicher werden. So einfach ließ sich der Deal zusammenfassen, den die Diktatur mit seinen Bürgern und Bürgerinnen ausgemacht hatte. Aber durch die Pandemie-Bekämpfung wird Chinas Mittelschicht eher ärmer als reicher. Das untergräbt die Legitimation der KPC.
Insekten und Insektizide, die EU und die Agrarlobby
piqer:
Jürgen Klute
In diesem sehr umfangreichen und gut recherchierten Artikel von Alicia Prager, Nico Schmidt und Harald Schumann, der im Berliner Tagesspiegel zu lesen ist, geht es um Insekten und Insektizide. Der Artikel ist Teil des Recherche-Projektes „Stiller Tod – Europas Pestizidproblem und das Artensterben“ von Investigate Europe, zu dessen Initiatoren Harald Schumann gehört.
Der Artikel besteht aus drei Säulen. Zum einen legt der Artikel die Bedeutung von Insekten für die Landwirtschaft und damit für die Ernährungssicherheit dar. Der zu beobachtende Artenschwund von Insekten gefährdet jedoch nicht nur die Ernährungssicherheit, er verringert auch die Chancen, die Klimakrise erfolgreich abzuwehren. Der Artenschwund ist Folge des massenhaften Einsatzes von Insektiziden und Pestiziden in der industriellen Landwirtschaft.
In einer zweiten Säule befasst sich der Artikel mit Alternativen zur industriellen Landwirtschaft, aber auch mit den Zwängen, in denen die Landwirtschaft aufgrund politischer Effizienzvorgaben steckt, die kaum ohne den Einsatz von Insektiziden und Pestiziden erfüllbar sind.
Und in der dritten Säule beschreibt der Artikel den politischen Umgang mit der Gefährdung der Ernährungssicherheit durch Insektizide und Pestizide. Auf EU-Ebene gibt es seit längerem ein stark ausgebildetes Bewusstsein für diese Gefährdung, wie u.a. die Bemühungen um eine Reform der EU-Agrarpolitik unter der Bezeichnung „Farm-to-Fork-Strategy“ zeigen. Die Reformen zielen auf eine Stärkung biologischer Anbaumethoden und auf eine deutliche Reduktion des Gifteinsatzes in der Landwirtschaft: Bis 2030 soll der Gifteinsatz um 50 Prozent reduziert werden.
Geblockt wird die Reform vor allen durch die EU-Mitgliedsländer. An einer Reihe konkreter Beispiele zeigt der Artikel auf, wie die Lobby der Chemieindustrie und mit der industriellen Landwirtschaft verbundenen Bauernverbände die Reformbemühungen der EU immer wieder ausbremsen und zu unterlaufen versuchen.
Den Autorinnen ist mit diesem Artikel ein großartiges Lehr- und Aufklärungsstück über die Gefährdung der Lebensmittelversorgung durch Insektizide und Pestizide sowie durch den Agrar-Lobbyismus gelungen!
In die Röhre geschaut – Wer an der EACOP-Pipeline verdient
piqer:
Carla Reemtsma
1445 Kilometer – so lang soll die EACOP (kurz für East African Crude Oil Pipeline) werden. Die vom Albertsee in Uganda aus bis nach Tanga an der tansanischen Küste geplante Pipeline wäre die längste beheizte Pipeline der Welt und kommt mit vielen Versprechungen. Wohlstand, Arbeitsplätze, ein Ende der wirtschaftlichen Abhängigkeit: All das versprechen Konzernvertreter und Regierungsmitglieder.
Aktivist*innen allerdings kritisieren das Projekt. Inmitten der Klimakrise neue Ölfelder zu erschließen widerspreche jeglicher Klimapolitik, für das Projekt müssten Zehntausende umgesiedelt und wichtige Ökosysteme zerstört werden. Außerdem hegen sie Zweifel an den großen Versprechungen.
Es sind der französische Öl-Konzern Shell und der chinesische Staatskonzern, die die größten Anteile an der Pipeline sowie den beiden Förderfeldern halten, mit jeweils 15% haben Tansania und Uganda trotz der Umweltrisiken nur den Mindestanteil. Auch bei den Arbeitsplätzen hat nur ein Bruchteil der 150.000 angekündigten neuen Jobs eine langfristige Perspektive nach Bauabschluss. Zudem geht ein Großteil der Bauaufträge an ausländische Firmen. Bei genauer Betrachtung bleibt von den Versprechungen wenig übrig: Das schwarze Gold wird unter diesen Bedingungen kaum den versprochenen Wohlstand nach Tansania und Uganda bringen, gleichzeitig aber Ökosysteme zerstören, Menschen vertreiben und die Klimakrise verschlimmern.
In einer Investigativ-Recherche für den Tagesspiegel haben die Journalist*innen genau nachgeforscht, wer an dem Bau verdient – und wer nicht.
Wer in Deutschland am meisten vom knappen Wasser verbraucht
piqer:
Alexandra Endres
In Deutschland wird das Wasser knapp: Dieses Frühjahr fiel laut dem Deutschen Wetterdienst das neunte Jahr in Folge ungewöhnlich wenig Niederschlag. Das Land steckt immer noch in einer Dürre, die im Jahr 2018 begann, sagt der Forscher Andreas Marx vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig.
Eine dauerhafte Trockenheit erwartet er zwar nicht. Dennoch sagt Marx:
Das heißt aber nicht, dass wir uns nicht zukünftig darauf einstellen müssen, dass solche Ereignisse wiederkommen. Wir müssen für die Zukunft Wege finden, die Dürren besser zu managen, als wir das in der Vergangenheit gemacht haben.
Der Forscher, der auch Experte für die Anpassung an den Klimawandel ist, blickt dabei noch vergleichsweise positiv in die Zukunft: Er erwartet im Winter mehr Niederschlag als früher. Deshalb sagt er:
Unterm Strich wird sich die Wasserverfügbarkeit also nicht wesentlich ändern. Gleichzeitig haben wir aber das Problem mit der Hitze im Sommer. Im Sommer wird der Wasserbedarf höher, die Sommerniederschläge wiederum steigen nicht, so dass wir Wege finden müssen, dass Wasser, das wir im Winter zu viel haben, im Sommer einsetzen können.
Allerdings: Vor drei Monaten wurde gemeldet, dass Deutschland in den vergangenen 20 Jahren Wasser im Umfang des Bodensees verloren hat. Und schon jetzt gibt es Verteilungskonflikte.
Mehr als drei Viertel des Wassers verbraucht in Deutschland die Industrie (Stand von 2016). Correctiv hat nun die größten Verbraucher recherchiert: Es sind Unternehmen wie BASF und RWE, die für die von ihnen verbrauchten Mengen teils deutlich niedrigere Preise bezahlen als Privatleute. Manche haben sich das Recht auf Wasser vertraglich für lange Zeiträume gesichert. Manche Firmen aber geben nicht einmal Auskunft.
So zeigt sich, dass der industrielle Wasserkonsum insgesamt kaum geregelt und diskutiert wird – im Gegensatz etwa zum Energieverbrauch. Über die Brandenburger Ölraffinerie PCK ist zwar zurzeit bekannt, dass sie nahezu alleine vom russischen Öl lebt – aber nur wenigen ist bewusst, dass PCK auch zu den größten Wassernutzern in Brandenburg gehört, wie das Land Brandenburg schreibt. Die Firma selbst will sich gegenüber CORRECTIV nicht äußern.
Was von der Energiepolitik der Ampel zu halten ist
piqer:
Nick Reimer
Hans-Josef Fell ist Bündnisgrüner und ein Pionier der Erneuerbaren Energien. Von 1998 bis zur Bundestagswahl 2013 war er Mitglied des Deutschen Bundestages und gilt als einer der Mütter und Väter des Erneuerbare-Energien-Gesetzes EEG. Das trat im Jahr 2000 in Kraft und sorgte für eine technologische Revolution: Jeder der wollte (und damals mutig genug war), konnte dank des EEG eine Solaranlage auf dem Dach installieren, sich an einem Windrad oder einer Biomasse-Anlage beteiligen. Das sorgte einerseits dafür, dass die Erneuerbaren in den 2000er Jahren einen rasanten Aufschwung in Deutschland erlebten. Andererseits erlebte die Technologie eine enorme Lernkurve: Erneuerbare Stromfabriken liefern heute die billigste Elektrizität.
Dummerweise erlebte das EEG seit dem Jahr 2000 sieben Novellen – man könnte auch „Verschlimmbesserungen“ sagen: Seit 2012 brach der Ausbau von Sonne, Wind und Co. massiv ein, CDU und FDP (und später auch die SPD) war Klimaschutz und Energieunabhängikeit von ausländischen Exporteuren egal (obwohl sie heute ganz anders tun). Aber jetzt besetzen die Bündnisgrünen ja wieder die Schlüsselpositionen für die Energiewende – Wirschafts-, Umwelt- und Agrarministerium. Und deshalb darf man hoffen!
Nicht allerdings, wenn man Hans-Josef Fell lauscht: Heute ist er Präsident der Energy Watch Group, die Parlamentarier in Sachen Erneuerbare berät. Im Inforadio findet Fell an der aktuellen Politik der grünen Ministerien kaum ein gutes Wort. „Die Abschaffung der EEG-Umlage ist ein ganz großer Fehler“, sagt Fell. Denn das EEG sei durch die Umlage steuerunabhängig und damit auch unabhängig von Haushaltsberatungen und dem Blick der EU gewesen. Durch die jetzt vom Hause Habeck geplante Abschaffung werde das EEG aber eine Beihilfe – „und damit in die Obhut der EU-Kommission gegeben“, erklärt der Grünen-Politiker. „Das passt nicht zusammen mit der Notwendigkeit, jetzt sofort russische Energien abzuschalten.“
Zudem greife die Gesetzesenderung erst im nächsten Jahr – „viel zu spät“, sagt er. „Wir brauchen ein Erneuerbare-Energien-Beschleunigungs-Ausbau-Gesetz.“ Als Beispiel nennt der Grünen-Politiker, der unverdächtig der politischen Polemik sein dürfte, die rechtliche Unterstützung für Flüssiggas-Terminals, „wo sofort etwas geht“.
Personalmangel – aber die Strukturen sollen sich kaum verändern
piqer:
Anja C. Wagner
Deutschland gehen die manuellen Arbeitskräfte aus. Und wie wir wissen, arbeiten wir hier gerne (noch) manuell. So könnte man diesen Beitrag süffisant einleiten.
In der Tat ist aus dem Fachkräftemangel längst ein Arbeitskräftemangel geworden. In den Gaststätten, Hotels, im Bauwesen und am Flughafen fehlen Menschen, die die anfallende Arbeit erledigen. Das hat verschiedene Gründe. Unter anderem haben viele während der schleppenden Coronazeit ihre Jobs gekündigt, sich weiterqualifiziert und neue, bessere Arbeitsbedingungen gesucht. Dabei steht der demografische Wandel aufgrund der sich aus dem Arbeitsleben verabschiedenden Boomer-Generation erst noch an.
Nach Lösungen wird händeringend gesucht. Wir kennen alle diese Diskussionen, wie dem schrumpfenden Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland begegnet werden könnte:
- Rentenbeginn mit 70
- Weitere Integration von Frauen
- 42-Stunden-Arbeitswoche
- Migration
Auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), ein der Bundesagentur für Arbeit angeschlossenes Forschungsinstitut,
hält langfristig eine Nettozuwanderung von rund 100 000 Menschen im Jahr für realistisch – vor allem, weil aus EU-Ländern wie Polen und Spanien inzwischen viel weniger Menschen kommen und die Zuwanderung aus Drittstaaten den Rückgang bisher bei Weitem nicht kompensiert. Das liegt auch daran, dass die Visaverfahren und die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse langwierig und bürokratisch sind, wie Unternehmen und Wissenschaftler immer wieder beklagen.
Vielmehr plädieren viele Forscher:innen für ein radikal vereinfachtes Einwanderungssystem „und dabei auf die Anerkennung ausländischer Abschlüsse als Voraussetzung zu verzichten“.
Bildungssysteme sind unterschiedlich und:
Zertifikate müssten anerkannt werden, wenn Menschen eine berufliche Ausbildung von zwei oder drei Jahren absolviert oder drei Jahre auf Bachelor-Niveau studiert haben – auch, wenn die Ausbildung nicht identisch mit der in Deutschland sei.
Wer sich bislang gegen eine solche Anerkennung stemmt, ist unter anderem der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit. Nun, dieser wird bald abgelöst und es bleibt zu hoffen, dass solch tradierte Sichtachsen sich damit verflüchtigen. Die duale Ausbildung mag ein gutes Instrument für Heranwachsende sein, aber die staatsmännische Glorifizierung derselben, wird den Dynamiken der Arbeitswelt nicht gerecht. Was nämlich viel zu selten diskutiert wird im Zusammenhang des Fachkräftemangels:
- Unattraktive Arbeitsbedingungen
- Zu wenige Aufstiegschancen für nicht akademische Angestellte
- Mögliche Effizienzgewinne durch verbesserte digitale Arbeitsprozesse
- Entschlackung der Arbeit von Bullshit Jobs
- Flexibilisierung der Berufsbiographien
- usw.
Der Arbeitsmarkt und die Sichtweisen darauf müssen sich ändern, auch um attraktiv zu wirken für den langfristigen Verbleib von Migrant:innen in Deutschland. Unter anderem davon berichtet der verlinkte Artikel. Es braucht gute Integrationsbemühungen für die ganze Familie, Aufstiegschancen, „mehr Möglichkeiten, angelernt zu werden oder Teilqualifikationen zu absolvieren.“ Da müssen sich alle bemühen. Allen voran die Unternehmen, aber auch die BA, würde ich anfügen wollen.
Das Haus gehört uns! – Nicht der Kapitalgesellschaft
piqer:
Charly Kowalczyk
1972, Ton, Steine, Scherben:
Doch die Leute im besetzen Haus riefen: „Ihr kriegt uns hier nicht raus! / Das ist unser Haus, schmeißt doch endlich /Schmidt und Press und Mosch aus Kreuzberg raus.“
Mutige, engagierte Mieter/innen, die um ihre Wohnung oder um einen Treffpunkt kämpfen, gibt es Gott sei Dank 50 Jahre später immer noch. Erschütternd müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass seit 1991 in Berlin über 300.000 Mietwohnungen in Eigentum umgewandelt wurden. Und es hört nicht auf, schreitet voran, Mietpreise steigen ins Unermessliche. Ein Kiez ohne ursprüngliche Bewohner/innen – eine wahrlich fürchterliche Vorstellung.
Das Deutschlandfunk-Kultur-Radiofeature beginnt so: Berlin, Schönhauser Allee 69, ein Brief kommt an:
„Also es kommt eine Modernisierungsankündigung, was an dem Haus gemacht werden muss, soll. Manches davon stimmt, aber vieles hat mit Luxusmodernisierung zu tun. Balkone, Fahrstühle und eine neue Haustür für 33.000 Euro. Wir haben eine Haustür. Wir haben eine Gründerzeithaustür. Es ist ein altes Gründerzeithaus und ich soll für diese ganzen Maßnahmen dann künftig pro Monat über 1.000 Euro zusätzlich zu meiner Miete zahlen…“
300 Meter weiter, die Schönhause Allee 135 und 135a. Auch hier kommt am 18. Mai 2021 ein Brief an.
Beim Bezirksamt wurde beantragt, dem Verkauf des oben genannten Grundstücks zuzustimmen.
Die internationale Kapitalgesellschaft BlueRock Group AG kauft das Haus. Will Kohle machen, wie viele internationale Kapitalgesellschaften, die auf dem Wohnungsmarkt agieren. Viele Mieterinnen und Mieter leben hier schon seit Jahrzehnten. Ihr Haus liegt in einem Milieuschutzgebiet, deshalb prüft der Bezirk innerhalb von zwei Monaten, ob sie von Verdrängung bedroht sind. Die Zeit läuft. Der Autor dokumentiert von Anfang an. So erlebt man als Hörer/in im Nachhinein die Dynamik mit. Das macht das Feature so hörenswert. Man ist akustisch dabei, wie sich 38 Mietparteien zu wehren beginnen und auch wie ihr Widerstand aussieht. Denn eins ist ihnen klar: sie wollen ihr Zuhause nicht verlieren. Eigentlich sind sie in einer fast aussichtslosen Lage. Denn sie müssen in kurzer Zeit fast eine Million Euro an Eigenmitteln aufbringen.
Internationale Kapitalgesellschaften schlagen seit Jahren auf dem Wohnungsmarkt zu. Ein unerträglicher Zustand. Die Kieze verlieren ihr Leben. Das gilt es zu verhindern. Das Feature endet mit einem seltenen Happy-end. So kann man sich mitfreuen, dass die Mieter/innen jetzt in ihrem Haus bleiben können und andererseits ist es auch Ansporn für andere, denen Ähnliches droht. Nach dem Motto: Das ist unser Haus. Widerstand lohnt sich! Max aus der Schönhauser Allee freut sich riesig nach dem Erfolg:
„Diese Dynamik, die es bekommen hat, die war richtig geil. Und wir haben einfach mal den Erfolg erzwungen, in der Kürze der Zeit, in der Verteilung der Rollen innerhalb dieses ganzen Komplexes hat jeder verdammt noch mal seine Rolle gefunden. Das war nötig. Wir haben es einfach mal gerockt.“