In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Wie die Industrie des Westens auf einen Krieg vorbereitet ist
piqer:
Rico Grimm
Der Krieg zwischen Ukraine und Russland ist auch ein Krieg der Artillerie. Deswegen ein kleines Ratespiel: Wie lange würde die gesamte US-Jahresproduktion an Artilleriegranaten reichen, um die Ukraine aktuell zu versorgen?
Ich kenne keine deine Antwort nicht, aber falls du nicht zufällig Experte oder Expertin für die Rüstungsindustrie bist, ist deine Antwort sehr wahrscheinlich falsch.
10 Tage ist die richtige Antwort.
Das heißt, dass die größte Wirtschafts- und Militärmacht der Erde aktuell nicht in der Lage wäre, einen Artilleriekrieg zu führen. Der Text, den ich heute empfehle, ist ein absoluter deep dive eines spezialisierten Instituts. Das vorneweg. Aber er ist wirklich interessant, weil er eine Dimension aufzeigt, die in den aktuellen Debatten über Wehrhaftigkeit etwas unterschätzt werden: die industrielle Basis muss vorhanden sein. Und wie der Artikel schlüssig darlegt, ist sie das wohl in kaum einem NATO-Land, da der Krieg zeigt, dass gewissen Annahmen schlicht überholt sind.
Endlich Chaos in Frankreich
piqer:
Jannis Brühl
Dieser Leitartikel meiner SZ-Kollegin Nadia Pantel aus Paris bürstet den vielbeschworenen „Schock“, den das französische Wahlergebnis vom Sonntag bei manchen mutmaßlich ausgelöst hat, gegen den Strich. Die Niederlage von Emmanuel Macrons Partei, die Ohrfeige gegen seine Regierung sei keinesfalls der Vorbote von Frankreichs Zusammenbruch, sondern politisch belebend. So ekelhaft die neue Stärke der Rechtsextremen ist: Zusammen mit dem Erstarken des neuen Linksbündnisses bedeutet sie ein Ende der Selbstherrlichkeit des Präsidenten und seiner Angstmacherei.
„Was wäre die Alternative? Den Deckel wieder auf den Topf drücken. Macron hatte zuletzt den Wählern eher gedroht, als um Stimmen zu werben. Wenn ihr mir nicht die absolute Mehrheit gebt, kommen Chaos und Niedergang. Die Bürger hatten offensichtlich keine Lust, sich in diese Alternativlosigkeit zu fügen“
Auch für deutsche EU-Freunde, die in Macron immer einen der ihren gesehen haben, hält der Artikel eine Lektion bereit. Insgesamt hilft er, das französische System zu verstehen, in dem die Opposition oft chancenlos gegen einen Präsidenten ist, dessen Macht immer noch Spurenelemente des Kaisertums enthält. Er ist auch eine Erinnerung daran, dass „Ordnung!“ oft von Regierenden als Totschlagargument benutzt wird – und dass ein bisschen Chaos demokratisch ist.
Das Ende des Immobilienbooms ist so gut wie da
piqer:
Rico Grimm
Kaum ein wirtschaftspolitisches Thema hat Deutschland in den vergangenen Jahren so bewegt, wie die Frage, wie viel Wohnen kosten darf. Mieten und Kaufpreise für neue Wohnungen und Häuser stiegen im Grunde seit 20 Jahren. Nun aber zeichnet sich zum ersten Mal eine Trendwende ab, die das Handelsblatt in diesem Text, den ich heute empfehle, wirklich sehr fein seziert.
Der Text richtet sich laut Überschrift an Immobilien-Käufer, das ist aber nur der Handelsblatt-Zielgruppe geschuldet. Er ist für alle interessant, weil er eine gute Bestandsaufnahme des aktuellen Marktes liefert. Sieben Punkte sind entscheidend:
1. Baupreise schießen durch Ukraine-Krieg in die Höhe
2. Förderungen vom Staat laufen aus
3. Die Preise für neue Immobilien werden bis 2035 real nicht mehr steigen
4. Kaufpreise steigen schneller als Mieten – das ist nicht nachhaltig
5. Es gibt viel zu wenig Handwerker
6. Zinsen steigen, Kredite werden teurer
7. EZB könnte diese Entwicklung noch beschleunigen
Hinweis: Ich habe den Artikel freigeschaltet, also für euch die Paywall rausgenommen. Als ich das getestet hatte, hat das bei mir funktioniert.
Wandel durch Handel in Europa – von Feindschaft zur Nachbarschaft
piqer:
Thomas Wahl
Man diskutiert ja gegenwärtig intensiv, ob Annäherung durch Handel als Konzept funktioniert. Man könnte sagen, im Prinzip ja, nur nicht immer. Auch in heute absurd erscheinenden historischen Konstellationen hat Europa mit seinen Nachbarn jedoch immer wieder in längeren Perioden den Handel zum Wandel eingesetzt:
Während des 16. und 17. Jahrhunderts eroberten, versklavten und verkauften sowohl europäische Christen als auch maghrebinische Muslime ihre Feinde im ganzen Mittelmeer. Obwohl sie sich manchmal auf den heiligen Krieg beriefen, hatten Wirtschaft und Politik regelmäßig Vorrang. Muslimische Gefangene etwa wurden besonders für ihre angebliche Ausdauer auf den rückenbrechenden europäischen Galeeren geschätzt. Sowohl europäische als auch maghrebinische Korsaren oder Freibeuter hatten Lizenzen von ihren Regierungen. Sie zahlten Steuern auf ihre Gefangennahmen und griffen nur offizielle Feinde an.
Der Handel mit diesen Sklaven war ein Teil der dynamischen Wirtschaft auf beiden Seiten des Mittelmeers. Europäische Händler und Abenteurer zog es in den Maghreb. Man ließ sich auch dauerhaft dort nieder. Es wurden Friedens- und Handelsverträge zwischen europäischen Mächten und Maghreb-Staaten geschlossen. Es wurde üblich,
Botschafter sowie Informationen auszutauschen und sich gegenseitig üppige Geschenke zu senden. Diese relativ stabilen Beziehungen von Staaten, Völkern und Volkswirtschaften existierten – zumindest für die Briten – im späten 17. und 18. Jahrhundert, bis hin zu den kolonialen Eroberungen Europas im 19. Jahrhundert.
Nur wenige Jahrzehnte davor war die Situation eine komplett andere. In den 1620er und 30er Jahren beschossen britische Marineschiffe Algier, die mächtige Levant Company zog nach wiederholten Korsarenangriffen ihre Vermögenswerte aus der Region zurück. Auf der Gegenseite eroberten algerische Korsaren die Insel Lundy im Bristol-Kanal und entführten Hunderte Dorfbewohner aus Baltimore in Irland. Britische Gefangene wurden versklavt und zwangsweise zum Islam bekehrt. Es herrschte Krieg.
Selbst nach den wegweisenden Verträgen zwischen Großbritannien, Algier, Tunis und Tripolis im Jahr 1662 wurden in vier brutalen Kriegen mit Algier und Tripolis Tausende britischer Gefangener genommen, riesige Tribute und Lösegelde gezahlt und zahlreiche anklagende Erzählungen über Gefangenenschicksale veröffentlicht.
Andererseits wechselten viele Tausende Briten frei die Seiten, angezogen von der Macht, dem Reichtum und den Freiräumen, die die osmanischen Länder boten.
Der Artikel zeigt das damalige bunte Panorama in der Region, beleuchtet das Netzwerk britischer Einwohner, die Ende des 17. Jahrhunderts in Algier, Tunis und Tripolis lebten. Wir erleben, wie sie nach Jahrzehnten des Konfliktes zwischen den Kulturen neues Leben gestalteten und so den Weg für Frieden und Handel zwischen Großbritannien und den Maghrebi-Staaten, in einer mit heute durchaus vergleichbar komplexen Welt, ebneten. Es war ein langer schwieriger Weg, den die Akteure gehen mussten. Er zeigt uns heute aber, es ist möglich, aus der Konfrontation heraus langsam zu gegenseitigem Vorteil und damit zu Verständigung zu gelangen. Es scheinen dabei immer persönliche Kontakte sowie Interessen eine große Rolle gespielt zu haben.
Zunehmend ab 1662 konnten britische Kaufleute frei und sicher in Maghrebi-Gesellschaften leben, ohne Druck auf Assimilation zu erfahren. Sie bauten enge Beziehungen zu muslimischen und jüdischen Machthabern auf und knüpften robuste Netzwerke im gesamten Mittelmeerraum auf, indem sie Briefe, Informationen, Waren und Menschen in alle Richtungen schickten. 1680 zum Beispiel nannte Baker, der damalige britische Konsul in Tripolis, den muslimischen Korsarenkapitän Cara Villy Rais „meinen besonderen Freund“. 1695 besuchte Cole, der Konsul in Algier, regelmäßig seinen Nachbarn, Dey Hadj Ahmed, um über „ein Gericht Kaffee“ zu klatschen und die großen Schätze zu bewundern, die der Dey von europäischen Unterhändlern erhielt.
Und es blieb natürlich nicht bei diesen Kontakten im engeren Kreis. Für Diplomatie und für den Handel brauchte man lokale Übersetzer, Mediatoren und Käufer. Man lernte sich in der Breite kennen, man verstand, die Kultur zu schätzen und man lernte Vertrauen. So und nur so kann m. E. Annäherung funktionieren. Lernen wir aus der Vergangenheit. Die zeigt u. a.:
Der zunehmend stabile Frieden zwischen Großbritannien und den Berberstaaten bedeutete, dass Handelsmöglichkeiten in der zweiten Hälfte des 17. und bis ins 18. Jahrhundert größer waren als je zuvor. Mit britischen Schiffen, die vor Korsarangriffen sicher sind und mit verschiedenen Produkten zum Importieren und zum Export bildeten britische Händler im Maghreb breite und vielfältige kommerzielle und persönliche Netzwerke. Goodwyn bewahrte zwischen 1679 und 700 mehr als 3.000 Briefe von mehr als 600 verschiedenen Menschen in mindestens 60 Städten aus seinen 21 Jahren als Kaufmann und Konsul in Tripolis und Tunis.
Der Umzug in den Maghreb war demnach für diese Kaufleute i.d.R. nicht gefährlicher als der Umzug in das katholische Europa: Es gab sicher auch dort einige Bedrohungen, etwa in Bezug auf ihren Protestantismus. Aber vor allem gab es viel mehr Möglichkeiten.
Pandemie und Krieg als Antrieb zur Reform der Globalisierung?
piqer:
Jürgen Klute
Die Pandemie und der Krieg Russlands gegen die Ukraine haben die Schwachstellen der ökonomischen Globalisierung offengelegt: Je effizienter und kostengünstiger die global vernetzten Produktionsketten wurden, umso störanfälliger sind sie geworden. Diane Coyle, Professorin für öffentliche Politik an der Universität Cambridge, zeigt in ihrem Artikel für den Wiener Standard auf, welche Strategien derzeit entwickelt werden, um globale Produktionsketten widerstandsfähiger zu machen. Sie hält das grundsätzlich für möglich. Allerdings geht sie davon aus, dass die entsprechenden Strategien nur längerfristig umsetzbar sind. Denn die Globalisierung der letzten Jahrzehnte hat versteckte Kosten mit sich gebracht, die jetzt angesichts der globalen Krisen sichtbar werden:
Im Laufe der Zeit hat dieses Muster jedoch zu weiteren versteckten Kosten geführt: dem Verlust von sogenanntem impliziten Wissen oder Know-how in der Fertigung. Damit ist die Art von Optimierung gemeint, die nie aufgeschrieben wird, aber an jeder Produktionslinie stattfindet. Solche Erkenntnisse können Forscherinnen und Ingenieuren wichtiges Feedback liefern, das jedoch verlorengeht, wenn die Produktion Tausende von Kilometer entfernt stattfindet.
Neben dieser Wissenserosion, so zeigt Coyle weiter auf, sei es auch zu schädlichen Wettbewerbseinbußen durch die bisherige Form der Globalisierung gekommen.
Insofern sieht Coyle in der aktuellen Krise der Globalisierung vor allem eine Chance, das bisherige Modell zu überdenken und nötige Reformen anzustoßen – auch wenn die nicht von heute auf morgen umsetzbar sind.
Über die Chancen einer Reorganisation von Arbeit (as we know it)
piqer:
Anja C. Wagner
Noch einmal ein Hinweis auf das letzte Davos-Meeting, hier in einer guten Zusammenfassung der wichtigsten Erkenntnisse. (Und weil es mir wichtig erscheint.)
1. Soziale Arbeitsplätze können eine widerstandsfähige Zukunft der Arbeit schaffen
Vermehrte Investitionen in Bildung, Gesundheit und Pflege könnten
- den globalen Motor der sozialen Mobilität wieder in Gang bringen,
- den ungedeckten Bedarf an Gesundheitsversorgung und Kinderbetreuung decken,
- die Qualität der Bildungssysteme verbessern
- und (wie könnte es dort anders sein): „das Wachstum fördern“.
Jeder in diese sozialen Sektoren investierte Dollar könnte einen Multiplikatoreffekt von 2,3 in der Wirtschaft auslösen, so ein Whitepaper, das parallel zum Davos-Meeting veröffentlicht wurde (Berechnungen basierend auf der US-Ökonomie).
Gut, jetzt lässt sich trefflich über den Wachstumsdiskurs diskutieren, aber in der Transformationsphase der nächsten 10 Jahre schadet eine schnellere Umdrehung vielleicht nicht. Denn diese bringt auf der anderen Seite einige soziale Gewinne mit sich. So ließe sich etwa der Gender Gap etwas besser schließen, erfolgt die Pflegearbeit doch bislang weitestgehend unbezahlt.
2. Mehr Frauen ins Berufsleben bringen
Die große Kündigungswelle hat die Diskrepanz noch größer werden lassen: Viele Frauen haben seit dem Corona-Zeitalter ihre Doppelbelastung und mangelnden Respekt in diesen Branchen erfahren – und sich auf die Suche nach besseren, flexibleren Jobs gemacht. Arbeitgeber*innen ist bewusst:
Obwohl Frauen höher qualifiziert und besser ausgebildet sind als Männer, sind sie zu 20 % unterrepräsentiert.
Ein neuer sozialer Vertrag muss her, dies ist vielen deutlich geworden.
3. Auswirkungen der digitalen Qualifikationslücke
Der Fachkräftemangel ist vielfach spürbar, auch mit Blick auf die entstehende Digitalökonomie, deren Funktionsfähigkeit erforderlich ist, um eine nachhaltige Wirtschaft aufzubauen.
Wenn wir über Elektrofahrzeuge sprechen, ist das digital, wenn wir über die Energiewende sprechen, sind wir in der digitalen Welt, wenn wir über den Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft sprechen, wird all das von der Digitalisierung angetrieben. Es geht nicht nur um die Automatisierung von Prozessen, sondern um die Schaffung neuer Plattformen, neuer Geschäftsfelder, was die Nachfrage nach Technologien erhöht hat.
Und dafür braucht es geeignete Fachkräfte. Dies ist eine zentrale Herausforderung unserer Zeit: Wie können wir die Workforce sinnvoll re-skillen, ohne die Menschen zu gängeln und damit in die Depression zu treiben?!
4. Die Zukunft der Arbeit gestalten
Viele der Arbeitsplätze der Zukunft werden in der Energiewende begründet sein – und die Volkswirtschaften, die „die Logik der grünen Transformation nicht verstehen, werden zurückfallen“, so Schwedens Finanzminister Mikael Damberg.
Zugleich bräuchte es eine Re-Organisation der Arbeitswelt als solcher – inklusive neuer Führungsaufgaben, Recruiting-Prozesse und hybrider Arbeitsumgebungen. Hier müssen alle noch deutlich hinzulernen, um eine sinnvolle Grundlage für die Zukunft der Arbeit zu schaffen.
Chinas enorme Überwachungs-Technologie
piqer:
Hristio Boytchev
Die „New York Times“ hat nach eigenen Angaben über 100.000 Dokumente ausgewertet, um ein komplexes Bild von Chinas Überwachungstechnologie zu zeichnen. In der Gesamtheit ist diese tatsächlich gewaltig.
Die Hälfte der Überwachungskameras der Welt steht demnach in China, ergänzt durch Telefon-Tracking, Gesichts- und Stimmerkennung, Iris-Scans und DNA-Proben. Der Video-Beitrag erklärt die Erkenntnisse der Recherche eingängig und klar. Nach dem Schauen bleibt der Eindruck, dass zumindest in Teilen des Landes eine lückenlose Überwachung durch die Technik möglich ist. Und die Frage, ob das die Zukunft auch für andere Teile der Welt ist.