In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Wertebasierte Handelspolitik
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Jürgen Klute
Von einer wertebasierten Außenpolitik ist schon länger die Rede und neuerdings auch von einer feministischen Außenpolitik. Nun hat die Debatte über grundlegenden Werte auch die Wirtschafts- und Handelspolitik erreicht. Der Wirtschaftswissenschaftler Gustav A. Horn – von 2005 bis 2019 leitete er als wissenschaftlicher Direktor das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung – fordert in einem Gastbeitrag für DIE ZEIT eine wartebasierte internationale Handelspolitik.
Ausgangspunkt ist für ihn die sowohl durch die Corona-Pandemie als auch durch den russischen Überfall auf die Ukraine deutlich gewordene „hohe Verletzlichkeit global eng verflochtener Volkswirtschaften“. Eine Absage an die Globalisierung angesichts dieser Verletzlichkeit hält Horn für falsch. Stattdessen entwirft er in seinem Gastbeitrag ein Konzept einer wertebasierten Handelspolitik, die auf Widerstandsfähigkeit (Resilienz) zielt, die auf den Prinzipien liberaler und sozialer Demokratien beruht und die sich nach drei Kategorien strukturiert.
Eine Neuordnung der internationalen Handelspolitik scheint mir seit langem überfällig zu sein. Der Ansatz von Horn ist ein konkreter Beitrag zu einer solchen Neuordnung. Deshalb halte ich ihn für diskussionswürdig, obgleich mir die Berücksichtigung der unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Handelspartner in dem Ansatz zu kurz kommt. Die kritische Seite einer wertebasierten Politik ist, dass Werte – im Unterschied zu Interessen – schwer verhandelbar und somit wenig kompromissfähig sind. Dennoch ist der von Horn vorgeschlagene Ansatz ein richtiger und wichtiger Schritt in Richtung einer Reform der internationalen Handelsbeziehung, die selbstverständlich auch klimapolitische Notwendigkeiten berücksichtigen muss.
Zur Entwicklung von Wohlstand und Ungleichheit in der Geschichte
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Thomas Wahl
Der Artikel empfiehlt ein Buch des israelischen Wirtschaftswissenschaftlers Oded Galor, bekannt durch seine Arbeiten zum Wirtschaftswachstum. In seinem Buch „The Journey of Humanity – Die Reise der Menschheit durch die Jahrtausende“ versucht er das Problem der Entstehung von Wohlstand und Ungleichheit in Wirtschaft und Gesellschaft in einem großen theoretischen Entwurf zu erklären.
Leider ist der Artikel hinter der Bezahlschranke, daher sei hier die digitale Leseprobe empfohlen (Link zur Leseprobe).
Wie lässt sich dieses Rätsel des Wachstums erklären – diese kaum begreifliche Veränderung in der Lebensqualität, was Gesundheit, Wohlstand und Bildung angeht, die während der letzten paar Jahrhunderte stattgefunden hat und sämtliche anderen Veränderungen seit dem Erscheinen des Homo sapiens in den Schatten stellt?
Mit seiner ‚Einheitlichen Wachstumstheorie‘ versucht Galor die Entwicklung der Menschheit seit der Entstehung des Homo sapiens vor fast 300.000 Jahren über den gesamten Verlauf der Geschichte hinweg zu erfassen. Dazu natürlich die Frage: Warum gibt es heute arme und reiche Gesellschaften? Vor der industriellen Revolution waren alle Länder mehr oder wenig gleich bitter arm. Galor zitiert dazu den englischen Philosophen Hobbes, der im 17. Jahrhundert konstatierte, das menschliche Leben sei ekelhaft, tierisch und kurz. Unsere Spezies lebte größtenteils ein Dasein am Rande des Existenzminimums. Und es stimmt, im
Grunde führten die meisten Menschen noch vor wenigen Jahrhunderten ein Leben, das eher mit dem ihrer fernen Vorfahren und der meisten anderen Menschen vor Tausenden von Jahren vergleichbar war als mit jenem ihrer heute lebenden Nachfahren. …. Doch vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis heute – eigentlich nur ein Wimpernschlag im Vergleich zur gesamten Menschheitsgeschichte – hat sich die Lebenserwartung mehr als verdoppelt, und das Pro-Kopf-Einkommen ist in den am meisten entwickelten Weltregionen um das 20-Fache gestiegen, im weltweiten Maßstab immerhin um das 14-Fache.
Aber auch heute ist, trotz der Verbesserungen für fast alle, der Wohlstand höchst ungleich verteilt und immer noch nicht alle Staaten überschritten die Schwelle zur Industrialisierung. Die zwei spannendsten Probleme der aktuellen Wirtschaftswissenschaft nennt der Artikel daher:
Erstens: Welche Ursachen führten zur industriellen Revolution, mit der sich die Menschheit aus einer unausweichlich erscheinenden Armutsfalle zu befreien vermochte? Und zweitens: Warum profitieren nicht alle Länder in gleichem Maße von den Früchten materiellen Wohlstands, der sich unter anderem in einer höheren Lebenserwartung, einer robusteren Gesundheit und einem insgesamt angenehmeren Leben äußert?
Die Beschäftigung mit diesen Fragen ist nicht neu. Schon Max Weber hat sich bspw. gefragt, warum trotz der globalen Verbreitung städtischer Siedlungen nur im Westen ein sich selbst verwaltendes städtisches Bürgertum entstanden ist. Verbunden mit der Suche nach dem Ursprung des industriellen Kapitalismus im protestantischen Europa. Es mangelt also nicht an Erklärungsversuchen.
Eine bekannte, von dem Nobelpreisträger Douglass North popularisierte These sieht eine überragende Voraussetzung für eine positive wirtschaftliche Entwicklung in der Existenz von Institutionen, die Eigentumsrechte sichern, einen Rechtsrahmen für ein gedeihliches Zusammenleben schaffen und die Ballung wirtschaftlicher Macht verhindern.
Die Qualität der Institutionen und Verfassungen spielt in den meisten Erklärungen eine Rolle. Dazu kommen etwa in Jared Diamond’s Buch „Arm und Reich“ die geographischen Gegebenheiten.
Für den Aufstieg Europas macht er unter anderem eine fragmentierte Geographie verantwortlich, die einer Bildung dauerhafter Großreiche entgegenstand.
Galor lehnt diese Erklärungen keineswegs ab, aber sie erlauben aus seiner Sicht keine umfassende Theorie.
So lässt sich aus Galors Sicht mit dem Verweis auf Institutionen erläutern, warum die industrielle Revolution gerade in England ausbrach – aber es lässt sich so nicht erklären, warum es überhaupt eine industrielle Revolution gegeben hat. Galors Erklärung fußt auf einer überragenden Rolle des technischen Fortschritts und der Bereitschaft der Menschen, sich auf diesen einzulassen, vor allem durch Bildung.
Natürlich gab es auch vor der industriellen Revolution, wenn auch langsameren, technischen Fortschritt. Der manifestierte sich weniger in zunehmendem materiellen Wohlstand der Massen, als in der Fähigkeit, eine wachsende Bevölkerung zu ernähren.
Nach Schätzungen lebten um Christi Geburt etwa 200 Millionen Menschen auf der Erde, um das Jahr 1600 könnten es immerhin schon 600 Millionen Menschen gewesen sein.
Je höher die Zahl der Menschen, umso höher die Zahl derer, die Neues denken könnten. Auch die Möglichkeiten einer die Produktivität steigernden Arbeitsteilung wachsen. Ebenso der wirtschaftliche Anreiz, innovative Produkte oder Dienste zu entwickeln, weil die Zahl potentieller Käufer zunimmt. Eine Spirale hin zu Innovationen kam in Gang, die industrielle Revolution startete – langsam aber sicher. Also gar nicht so sprunghaft revolutionär. Doch immer wieder frass das Bevölkerungswachstum den Wohlstand für die Einzelnen auf. Die Menschheit saß weiter in der malthusianischen Falle. Die Befreiung gelang erst etwa
ein Jahrhundert später, als das Bevölkerungswachstum in den entstehenden Industrienationen zurückging und damit die Pro-Kopf-Einkommen steigen konnten.
Warum dann aber die großen Unterschiede im Wohlstand der Nationen? Für Galor ist es die richtig gestaltete Diversität, die es Gesellschaften ermöglicht reich zu werden.
Diversität besitzt … erhebliche Vorteile, aber sie sind nicht ohne Kosten zu haben. Diversität in Gesellschaften in Verbindung mit Bildung steigert die Wahrscheinlichkeit auf technischen Fortschritt. Die Vereinigten Staaten, wo Studenten aus vielen Ländern auch an den besten Universitäten studieren können, sind ein Musterbeispiel für diese These. Diversität kann aber in Form gesellschaftlicher Spannungen ebenso mit erheblichen Kosten einhergehen, wie sich gerade ebenfalls in den Vereinigten Staaten beobachten lässt. In anderen Ländern lassen die Gesellschaften Diversität nur widerwillig zu; dafür sind sie oft wirtschaftlich nicht erfolgreich.
Diversität ist wohl das Einfache, das schwer zu machen ist.
Wie man inflationäre Mitnahmeeffekte eindämmen kann
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Jürgen Klute
Inflation ist in Deutschland ein Schreckgespenst. So wundert es nicht, dass in deutschen Medien schon länger über dieses Thema gestritten wird. Zwei Beiträge dazu habe ich hier schon empfohlen gehabt: „Schreckgespenst Inflation: Wie es statistisch erfasst wird“ (20.10.2021) und „Inflation oder Konflikt um Profite aus fossilen Energiequellen“ (19.12.2021).
Heute möchte ich diese kleine Empfehlungsreihe um einen Betrag von Stephan Schulmeister ergänzen. Der Wiener Ökonom hat in einem Kommentar für den Standard einen Vorschlag gemacht, wie man durch mehr Markt-Transparenz inflationäre Mitnahmeeffekte verhindern könnte. Denn manche Preissteigerung, die mit gestiegenen Energiepreisen begründet wird, übersteigt deutlich den Anstieg der Energiepreise – sie sind also inflationäre Mitnahmeeffekte, um einen Extragewinn zu generieren. Wenn es gelänge, diese inflationären Mitnahmeeffekte zu unterbinden, so Schulmeister, wäre die aktuelle Inflation deutlich geringer. Es fehlt lediglich am politischen Willen, solche Instrumente einzuführen, um den Markt transparenter zu machen.
Der irreführende Streit um die deutschen Waffenlieferungen
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Eric Bonse
Erst Alice Schwarzer, dann Jürgen Habermas: Mit Appellen zur Zurückhaltung bei Waffenlieferungen an die Ukraine haben deutsche Promis und Intellektuelle für viel Aufregung (und Ärger) gesorgt. Leider wird die Debatte über Waffen mittlerweile fast nur noch moralisch geführt, völlig losgelöst von den Fakten.
Wenn man sich die deutschen Waffenlieferungen genauer ansieht und die jüngsten Ankündigungen berücksichtigt, dann ist die Bundesregierung weder besonders vorsichtig noch sehr leichtsinnig. Vielmehr orientierte sich Kanzler Olaf Scholz an dem, was auch andere Staaten taten, die USA eingeschlossen.
„In Bezug auf schwere Waffen westlicher Bauart waren alle Staaten, auch die Franzosen, die Briten und die Amerikaner, erstmal sehr zögerlich“, sagt Wolfgang Richter – ein Oberst a.D., der heute für die Stiftung Wissenschaft und Politik zu Sicherheitspolitik forscht.
Mittlerweile habe sich die Haltung zwar verändert, nun werden auch schwere Waffen geliefert. Doch Deutschland ist keineswegs Nachzügler, sondern es liegt im Mittelfeld. Zudem leistet Berlin einen Beitrag zur Ausbildung ukrainischer Soldaten – die USA haben das Training auf deutschem Boden bereits begonnen.
Hier liegt möglicherweise eine viel größere Gefahr als bei den Waffenlieferungen. Denn nach einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags kann eine Ausbildung ukrainischer Soldaten völkerrechtlich eine Kriegsbeteiligung darstellen. Doch darüber wird nicht gestritten – warum eigentlich?
Wie die EU zu Entscheidungen kommt: Triloge und Shadow Meetings
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Dominik Lenné
Die Arbeit ist eine Untersuchung über die Mechanismen, wie die drei wichtigsten Gremien der EU – das Parlament, die Kommission und der Rat – ihre oft widersprüchlichen Intentionen und Konzepte zusammenreden und schließlich in EU Gesetzgebung umsetzen. Abstract und Einführung zu lesen reicht für den Überblick aus. Für die weitere, detaillierteren Analyse der Interaktionen wurden „ethnologische Methoden“ verwendet – kann sicher auch interessant sein.
Interessanterweise haben sich zusätzlich zu vorgesehenen Abläufen und Gremien zwei Arten von informellen Gremien herausgebildet, die dazu dienen, Vorlagen und Gedanken vor der Vorlage im Parlament zu klären:
- Die Triloge
- Die „Shadow Meetings“
Im Ersten sitzen Vertreter von Kommission, Rat und Parlament, wobei der Vertreter des Parlaments „Rapporteur“, d. h. Berichterstatter heißt. Im Zweiten sitzen nur EU-Parlamentarier. Sie dienen dazu, die Position des Parlaments – besonders angesichts zunehmender Grabenkämpfe – vor den Verhandlungen mit Rat und Kommission zu konsolidieren und zu tragfähigen, soliden Kompromissen zu finden, die größere Chancen haben, zu bestehen.
Wie komme ich darauf?
Der grüne EU-Abgeordnete Michael Bloss hat hier in sehr kursorischer Form die verschiedenen Positionen in den laufenden Verhandlungen zum Fit-for-55-Konzept der Kommission nachgezeichnet. Der Text ist ohne eine Einführung in diese EU-Entscheidungsfindungsmaschinerie vollkommen ungenießbar.
Lockdown in Shanghai – am Arbeitsplatz übernachten
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Ole Wintermann
Welche Rolle spielt “Arbeit” eigentlich in unserem Leben, welche Erwartungen haben wir an die Sinnstiftung von “Arbeit” und inwiefern kann das bestehende Wirtschaftssystem diese Erwartungen erfüllen? Dies sind die indirekten, sich aus dem Text ergebenden Fragen, die ich mir unmittelbar stellen musste.
Viele chinesische Städte sind derzeit im Lockdown, was dazu führt, dass Menschen in den Wohnungen in den Hochhauslandschaften nicht ausreichend mit Nahrungsmittel versorgt werden können. Neben der logistischen Herausforderung der Beschaffung von Nahrungsmitteln gibt es aber auch den finanziellen Aspekt der Kosten der Nahrungsmittel in Fällen, in denen Menschen nicht zur Arbeit gehen können.
Von den 50.000 Unternehmen der Region Shanghai dürfen derzeit 666 ausgewählte Unternehmen ihre Arbeit wieder aufnehmen; unter diesen befinden sich 249 Unternehmen aus der Autoindustrie (was wirklich zählt?). Um eine “sichere” Arbeit zu gewährleisten und die Produktion nicht erneut herunterfahren zu müssen, haben die Unternehmen sogenannte geschlossene Systeme bzw. Kreisläufe eingeführt, wie wir sie schon von den Olympischen Spielen kennen; Beschäftigte leben und arbeiten beständig in den Fabriken, ohne zwischendurch nach Hause gehen zu dürfen und werden fortlaufend getestet. Forschende übernachten in den Laboren, weil dort Experimente und Prozesse nicht unterbrochen werden dürfen.
Kritik an dieser menschenunwürdigen Arbeitsweise gibt es – aus Sicht vieler Unternehmen. Beweggrund der Kritik ist aber nicht die Sorge um das Wohlergehen der Beschäftigten, sondern die Befürchtung, dass dem Unternehmen Absatzmärkte durch den Lockdown wegbrechen könnten.
Es geht allen Verantwortlichen um den Profit – den Beschäftigten geht es hingegen um ein menschenwürdiges Dasein. Was zählt mehr?
Scholz‘ Sprecher
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Hasnain Kazim
Wie funktioniert die Amtsübergabe eines Regierungssprechers in Deutschland? Wie gut muss ein Regierungssprecher seinen Chef kennen, wie sehr so denken wie er? Der – inzwischen nicht mehr ganz so neue – Regierungssprecher Steffen Hebestreit gibt in diesem Interview mit dem „journalist“ Einblicke in seine Arbeit. Er erzählt, warum er nichts von einer Schonfrist für eine neue Regierung hält und ob er es für möglich erachtet, irgendwann mal wieder in den Journalismus zurückzukehren.
Besonders interessant: wie die Arbeit des Bundespresseamtes aussieht in Zeiten, in denen eine Krise die andere überlappt. Und wie sehr es auf die Sprache ankommt. Auf die Frage, ob er „ungeliebte Wahrheiten wie jene, dass der Klimawandel nur aufzuhalten ist, wenn wir unseren Wohlstand materiell massiv einschränken“, verschweigen müsse, antwortet er:
Das ist, glaube ich, auch eine Frage des sprachlichen Geschmacks, der im Blick behalten muss, dass die einen Tacheles hören wollen, während andere irgendwann komplett abblocken, wenn die Aussichten fortwährend als katastrophal dargestellt werden. Der Wirtschaftsminister spricht von „Zumutungen“, der Bundeskanzler formuliert lösungsorientierter, dass er dafür sorgen möchte, dass wir mit der Situation „gut zurechtkommen“.
Wie Long Covid die Forschung ankurbelt
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Silke Jäger
Was passiert Monate und Jahre nach einer Virusinfektion? Diese Frage beschäftigt Forscher:innen schon länger – die Öffentlichkeit erst, seitdem mehr über die Langzeitfolgen einer Sars-CoV-2-Infektion bekannt wird. Long Covid, eine mysteriöse und schillernde Erkrankung, für die es bisher keine eindeutige Definition gibt und über deren Ausmaß bisher weitgehend gerätselt wird, kurbelt auch das Interesse an der Forschung über die langfristigen Folgen von Infektionen an.
Wenn die Wissenschaft in 15 oder 20 Jahren Antworten auf Fragen haben will, die sich viele Menschen über die Langzeitfolgen einer Corona-Infektion heute stellen, muss jetzt eine mühsame und teure Aufgabe angegangen werden: Biobanken, die Proben und Diagnosedaten von vielen Menschen enthalten. Biobanken sind wirklich aufwendig und unbeliebt. Aber wenn die harte Arbeit getan ist, dann liebt sie jeder.
Mithilfe einer solchen Sammlung ist vor Kurzem ein Zusammenhang gefunden worden zwischen dem Ebstein-Barr-Virus (EBV), das überall ist, nämlich in mehr als 95 Prozent der Menschen, und einer chronisch-fortschreitenden und unheilbaren Krankheit, der Multiplen Sklerose. 72 Millionen Proben Blutserum von Veteranen des US-Militärs halfen einem Forscherteam um Alberto Ascherio von der Harvard Medical School, diesen schwer zu belegenden Zusammenhang ausfindig zu machen.
Nachdem er die Daten und Proben von mehr als zehn Millionen Angehörigen der Armee seit 1993 analysiert hatte, fand Ascherio heraus, dass die Infektion mit EBV das Risiko einer MS um das 32-Fache erhöht. »Ich habe noch nie einen so eindeutigen Zusammenhang gesehen«, sagt Ascherio. Zum Vergleich: Rauchen erhöht das Risiko für Lungenkrebs um das 15- bis 30-Fache. Seine Ergebnisse, kombiniert mit neuen Erkenntnissen darüber, wie das Virus Hirnschäden auslöst, verbessern die Aussichten, MS behandeln und sogar verhindern zu können.
Doch auch wenn die Arbeit von Ascherio plausibel und überzeugend klingt: es gibt Kritik. Denn streng genommen reicht der gefundene Zusammenhang noch nicht, um wirklich sagen zu können, dass EBV Multiple Sklerose auslöst. Ein Rätsel bleibt: Warum entwickelt nur ein Bruchteil der Infizierten diese chronische Autoimmunkrankheit?
Dieser Text erzählt spannend von den Methoden, die hinter der Forschung stehen. Und von den Schwierigkeiten, die Forscher:innen haben, aus plausiblen Erklärungen und Teilerkenntnissen einen stichhaltigen Beleg zu machen. Denn dafür sind klinische Studien nötig, die aufgrund der Viruseigenschaften und der Verbreitung des Virus in der Bevölkerung sehr schwer durchzuführen sind. Auch deshalb setzt die Forschung Hoffnung in aufwendige Biobanken.