In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Wie zerstritten und polarisiert ist unsere Gesellschaft (wirklich)?
piqer:
Thomas Wahl
Arm und Reich, Querdenker und Richtigdenker, Rechte und Linke, Klimaskeptiker und Klimaaktivisten, Religionen und religiöse Fanatiker, Woke und weniger Empfindsame – die westliche Welt (und nicht nur die) scheint heillos zerstritten und polarisiert. Früher machte es sich die theoretische Beschreibung solcher Polarisierungen relativ einfach – soziale Auseinandersetzungen waren alles Klassenkämpfe, Ausdruck des Grundwiderspruches zwischen Lohnarbeit und Kapital. Und man entschied, wenn es etwas komplexer wurde, dann zwischen Haupt- und Nebenwiderspruch.
Die sozialen Großkollektive, die miteinander in eine Auseinandersetzung geraten sollten, waren Klassen, deren Konstitution man in den Eigentumsverhältnissen und der Sphäre der Produktion verortete. Dieses schismatische Zwei-Klassen-Modell ist über einen langen historischen Zeitraum eine der wirkmächtigsten Polarisierungsdiagnosen in den Sozialwissenschaften gewesen. Polarisierung wurde hier sozialstrukturell verstanden, als durch Eigentums-, Ausbeutungs- und Arbeitsverhältnisse hergestellte Klassenlagen und dazugehörige Interessenantagonismen. Die langfristige Annahme war, dass der Mittelstand zerrieben werden würde, bis sich nur noch die zwei Hauptklassen gegenüberstünden, mit der politischen Folge, dass sich die Auseinandersetzungen zwischen den Klassen intensivieren und zum unerbittlichen Klassenkampf steigern sollten.
Dieses Konfliktmodell wurde schon früh kritisiert. Vor allem die große Mittelschicht – »Weder-Kapitalisten-noch-Proletarier« – passten so recht ins Konzept. So ging der Soziologe Helmut Schelsky von der
sozialen und politischen Dominanz einer sich in einer mittleren sozialen Lage befindlichen Mittelschicht aus, einem »Nivellement aller sozialen Schichten durch Entdifferenzierung und Auflösung der alten sozialen Klassen«. Nicht nur sei der Begriff der Klassengesellschaft immer weniger geeignet, die Gegenwartsgesellschaft zu erfassen. Ein einheitliches mittleres Sozialniveau und ein mittelständisches Sozialbewusstsein seien die Lebenswirklichkeit aller oder mindestens einer großen Mehrheit geworden, wodurch Klassenspannungen der Vergangenheit angehörten: eine »Entklassung« (Paul Nolte) sei zu beobachten.
Auch das war und ist sicher zu einfach gedacht. Viele aktuelle und überkommene Spaltungslinien lassen sich so nicht erklären. Etwa wie und warum
alte »sozialmoralische Milieus« (M. Rainer Lepsius) ausfransten und die sozialstrukturellen Lagerbildungen an Eindeutigkeit verloren.
Der Essay von Steffen Mau zeigt nun, das sich in der Politikwissenschaft ein ganz eigener Forschungsstrang – namentlich die Cleavage-Theorie – herausgebildet hat. Mit nur spärlichem Bezug auf die Soziologie. Man analysiert ebenfalls gesellschaftliche Spaltungsstrukturen, dabei aber vor allem Parteienstrukturen und elektorale Verschiebungen.
Mit Spaltungsstrukturen sind hier nicht notwendigerweise Klassen gemeint, sondern relativ stabile und historisch entstandene gesellschaftliche Bevölkerungsgliederungen, die gegenwärtige Formen und Inhalte von Konflikten und politischen Mobilisierungen, letztlich sogar das gesamte Parteiensystem beeinflussen.
In den Blick genommen werden so die großen historischen Prozesse wie Nationenbildung oder Industrialisierung. Eingebunden sind Konflikte zwischen Kirche und Staat, zwischen Zentrum und Peripherie oder auch zwischen Kapital und Arbeit. Die wiederum langfristige Strukturen bei Loyalitäten, Identitäten und Solidaritäten bildeten und auch in politische Interessenvertretung mündeten.
Bei den so verstandenen Spaltungsstrukturen kann man allgemein drei Elemente beobachten und analysieren:
– erstens eine spezifische soziale Struktur (mit einer typischen Bevölkerungsgliederung nach sozioökonomischen, aber auch regionalen, religiösen und sonstigen Faktoren),
– zweitens ein damit verbundenes kulturelles Bewusstsein – oder eine Kultur im weiteren Sinn – und
– drittens eine Form der politischen Mobilisierung mit eigenständigen Interessenvertretungen, sozialen Bewegungen und politischen Parteien.
Bestandteil der klassischen Cleavage-Theorie war die These der »eingefrorenen Landschaften«. Es gibt demnach relativ festgesetzte Konfliktstrukturen, die sich in jeweils spezifischen historischen Zusammenhängen herausbilden und sich nur mit einer gewissen Trägheit bewegen, weil sich soziale Basisstrukturen nur allmählich verändern. Im Verlauf der Geschichte und deren Analyse entfalteten, ergänzten und verdrängten sich nun die Interpretationen, wie der Essay sehr schön aufführt:
Mit der soziologischen Individualisierungsthese, im angelsächsischen Sprachraum zu »end of class« oder »class is dead« begrifflich zugespitzt, trat dann auch eine Interpretation hinzu, die das Aufbrechen kollektiver Lebensformen aus einem Guss, die »Entstrukturierung der Sozialstruktur« und die »Pluralisierung der Lebensstile« als wesentliche Veränderungen markierte. Die großen Spaltungsstrukturen spielten in diesen Beschreibungen des gesellschaftlichen Geländes kaum noch eine Rolle, die soziale Welt war mehr Wimmelbild als Klassenantagonismus, man befand sich nicht nur »jenseits von Klasse und Stand«, sondern auch jenseits wohlgeordneter sozialstruktureller Zuweisungsprozesse und eindeutiger Konfigurationen des Sozialen.
Dann tauchte Ende der 1990er Jahre der Befund einer neuen Konfliktlinie auf, der wieder auf eine Spaltung in zwei Lager zielte,
welche mit Etiketten wie »Somewheres« und »Anywheres«, »Kosmopoliten« und »Kommunitaristen«, »Universalisten« und »Partikularisten«, »TAN« (Traditionalistisch-Autoritär-Nationalistisch) und »GAL« (Grün-Alternativ-Liberal) versehen wurden, … Gesellschaft erscheint nun weder geeint noch unübersichtlich, sondern in zwei sich im Konflikt befindliche Lager sortiert: Sie wird zur schismatischen Kamelgesellschaft.
Aber es ist nicht mehr nur eine „horizontale Positionierungskonkurrenz“ zwischen konservativen und kosmopolitischen Gruppen der Bevölkerung. Es ist immer auch ein Kampf der Kulturen im „Raum der Ungleichheiten“:
Aufgrund unterschiedlicher kognitiver Dispositionen, Humankapitalausstattungen, Weltbilder und kultureller Kompetenzen teile sich die Welt letztlich in ein kosmopolitisches Oben und ein kommunitaristisches Unten. Entsprechend werden die Gruppen mit hohem Bildungs- und Sozialkapital – vor allem die akademisierten und urbanen Mittelschichten – dem kosmopolitischen Pol der Konfliktachse zugeordnet und die Gruppen mit geringerer formaler Bildung und niedriger beruflicher Qualifikation dem kommunitaristischen Pol.
Insofern hätten wir es z. B. beim Aufstieg des Rechtspopulismus mit einer kulturellen Gegenbewegung zu tun, die sich gegen den Prozess der Liberalisierung in westlichen Gesellschaften richtet. Oder andersherum bei der beobachteten Linksorientierung von Volksparteien mit einer Abkehr von konservativen Werten. Der Artikel bleibt dabei erfreulich skeptisch, was die genannten Polarisierungsthesen betrifft:
Wir wissen nur unzureichend, wie die tatsächliche Kartierung der Bevölkerungsfraktionen aussieht, wenn man sie nach den genannten Merkmalsbündeln sortiert, und wir sind erst dabei, zu erkunden, wie groß die Kluft zwischen den vermeintlichen Lagern ist und wie stark sich der Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und möglichen »Gesinnungsklassen« darstellt.
Es zeige sich eher, dass sich für die meisten Politikbereiche seit den 1990er Jahren keine wesentliche Veränderung der Einstellungsstrukturen in Richtung einer Polarisierung finden lassen. Die Migrationsproblematik seit 2015 etwas ausgenommen. Unsere Konzepte, unsere Urteile, unsere Metaphern über die Dynamiken unserer Gesellschaften sind offensichtlich nicht der Weisheit letzter Schluss. Folgen wir den Wissenschaften – aber nicht als immer mal formulierte Gewissheiten und schon gar nicht in daraus extrahierten Feindbildern. Sondern in ihrer Eigenbewegung, im Einklang mit den sozialen Veränderungen und mit allen Irrungen und Wirrungen.
Grüne Kriegswirtschaft: Der Alptraum von einer besseren Welt
piqer:
Magdalena Taube
„Mag der Kriegsverlauf für Russlands Armee bislang auch ein Desaster sein, so hat der Kreml doch einen günstigen strategischen Zeitpunkt für die Invasion der Ukraine gewählt. Dies legen zumindest die explodierenden Preise für viele Rohstoffe, fossile Energieträger und Grundnahrungsmittel nahe. Mit den Sanktionen, die der Westen im Rahmen seines Wirtschaftskrieges gegen die Russische Föderation verhängt hat, trifft er somit auch sich selbst“, wie Tomasz Konicz konstatiert.
Was wird unter diesen Bedingungen aus der „grünen“ Zukunft, die sich Post-Karbon-Kapitalist*innen erträumen und in Form von Elektroautos und Smart Cities auch schon in greifbarer Nähe wähnen?
Jetzt, so tönt es vielerorts, sollten wir alles auf den so genannten Green New Deal und den „grünen“ Extraktivismus setzen. Schließlich bedeutet das die Abkehr von jenen Rohstoffen, die Russland zu einem Energie-Imperium machen sollten, sprich: eine Abkehr von einem Regime, das einen blutigen imperialen Angriffskrieg um seine Machtposition im globalen Poker um Einflusssphären führt.
So erkennen Opportunist*innen die Gunst der Stunde, wie eine Äußerung von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) nahe legt, der, mit Blick auf Russlands Energie-Imperium als Symbol der Unfreiheit, erneuerbare Energien als „Freiheitsenergien“ bezeichnet hat. Und wie auf german-foreign-policy.com zu lesen ist:
„Der radikale Umbau der EU-Energiewirtschaft, der notwendig sei, könne nur im Rahmen einer grünen ‚Kriegswirtschaft‘ realisiert werden; die Chance dazu biete der aktuelle russische Angriffskrieg gegen die Ukraine.“
Allerdings regen sich auch ganz andere Stimmen, die dem Karbon-Kapitalismus zu einer Renaissance verhelfen wollen. Der Umstieg auf „grüne“ Energieträger dauere zu lange, koste zu viel, und mache den Westen nicht unabhängig genug.
Während also ein „neues Syrien“ an der EU-Grenze entsteht, erleben wir einen Showdown zwischen Karbon-Kapitalismus und „grünem“ Post-Karbon-Kapitalismus? Und bangen zitternd, dass Letzterer das Rennen macht?
Falls wir die Gelegenheit dazu haben werden, wachen wir in 20 Jahren eines morgens auf und erinnern uns hoffentlich an diese Episode samt ihren „grünen“ Hoffnungen wie an einen schlechten Traum: Elektroautos und Smart Cities als Symbole einer besseren Welt … Grüne Kriegswirtschaft … erneuerbare Energien als „Freiheitsenergien“ …
All die Streitfragen rund um Rohstoffe sind nicht einfach nur Nebenschauplätze des gegenwärtigen Ukraine-Krieges, sondern zählen zu den verdrängten Ursachen des Krisenimperialismus, der alle derzeit (direkt oder indirekt) beteiligten Akteure antreibt: Russland, USA, EU, China, Saudi Arabien, Türkei.
Alle auf der Welt sind mit dem Ende der dominanten Wirtschaftsweise konfrontiert, die auf ressourcenverschlingendem Extraktivismus, energieverschwendendem Profitzwang und exzessivem Streben nach endlosem Wachstum beruht. Doch keine(r) wagt es, sie wirklich infrage zu stellen. Wollen wir kurzfristig und langfristig Frieden, kommen wir jedoch nicht drum herum eben dies zu tun. Es reicht nicht, diese Wirtschaftsweise einfach nur grün zu tünchen und irgendwas von Zukunftstechnologien zu faseln.
Ist Energie sparen zu simpel?
piqer:
Leonie Sontheimer
Importstopp und Boykott, LNG-Terminals und längere Laufzeiten für Kohlekraftwerke – angesichts des Angriffskriegs diskutieren alle, was uns jetzt unabhängig machen kann von fossilen Rohstoffen aus Russland. Aber um eine Lösung, eine ganz einfache und billige Lösung, ist es dabei ganz still: Energie sparen.
Umso erleichterter war ich, dass die Kollegen in der taz das Thema gesetzt haben. Bernhard Pötter erklärt in dem hier empfohlenen Beitrag, warum Energie sparen eine so gute Lösung für so viele Probleme wäre und versucht zu ergründen, warum sie sich nicht durchsetzt.
ExpertInnen verzweifeln regelmäßig an den Schwierigkeiten, Energiesparen effizient und attraktiv zu machen. Die Gründe: Die Preise für Öl, Gas und Kohle werden – auch durch Subventionen – künstlich niedrig gehalten. Verbraucher, das Handwerk und Unternehmen sind träge. Und politisch ist es schwierig, sich für einen unsichtbaren Erfolg starkzumachen: Solaranlagen kann man sehen, die Einsparung an einer neuen Heizung jedoch nicht.
Der erste Grund, niedrige Preise für Öl, Gas und Kohle, bröckelt gerade. Die Trägheit – nun ja, vielleicht ließe sie sich mit dem Argument ankurbeln, dass Energie sparen gerade auch Frieden fordern bedeutet. Das dürfte auch politisch Rückenwind geben, wenn auch das Sichtbarkeitsproblem bestünde.
Ich frage mich noch, ob Energie sparen einfach zu simpel ist, zu banal? Wir haben uns gesellschaftlich so sehr daran gewöhnt, dass Lösungen technisch und aufwendig sein müssen, komplizierte englische Namen haben und ganz viel kosten. Doch das ist ein fataler Irrtum. Auch für das Klima:
Praktisch alle Konzepte für die angestrebte Klimaneutralität bis 2045 gehen stillschweigend davon aus, dass Deutschland kräftig in Energieeffizienz investiert. Einen Teil davon wird der Umstieg auf erneuerbare Energien bringen, weil sie Energie viel effizienter umsetzen als Gas, Öl oder Kohle. Aber alle Studien gehen auch davon aus, dass sich der Energieverbrauch in Deutschland bis 2045 etwa halbieren muss.
Pötter schreibt: „Damit könnte das Land jetzt ernsthaft anfangen.“ Falls irgendjemand hier Tipps zum Energie sparen braucht, liefert die taz auch diese.
P.S.: Beim Energie sparen geht’s nicht nur ums kürzere Duschen im Privathaushalt, sondern auch um eine bessere Energieeffizienz in Gebäuden und in der Industrie!
Wohin navigiert die Türkei?
piqer:
Lars Hauch
Die Türkei tanzt derzeit auf allen erdenklichen Hochzeiten. Nach jahrelanger Rivalität wurde Präsident Erdoğan Mitte Februar pompös in den Vereinigten Arabischen Emiraten empfangen. Erdoğan selbst wiederum empfing Anfang März — ebenfalls nach jahrelanger Eiszeit — den israelischen Staatspräsidenten in Ankara. Simultan nähert die Türkei sich, in Abstimmung mit Aserbaidschan, dem Nachbarland Armenien an.
Der Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine dürfte die Telefone im türkischen Außenministerium endgültig heiß laufen lassen. Ihre strategische Ambiguität macht die Türkei aktuell außerordentlich gefragt, gleichzeitig verlangt sie Ankara einen Drahtseilakt ab, der nur schwierig aufrechtzuerhalten sein wird.
Als erstes Land ist es der Türkei gelungen, die Außenminister der Ukraine und Russlands zusammenzubringen. Trotz ausbleibender Ergebnisse ein beachtlicher diplomatischer Erfolg. Den Zugang zum Schwarzen Meer hat die Türkei für Kriegsschiffe gesperrt und dabei betont, die Maßnahme gelte für alle Parteien. Das stimmt zwar, in der Realität trifft es aber vor allem Russland. Eigene Waffenlieferungen an die Ukraine möchte die Türkei auch nicht an die große Glocke hängen, während die Erfolge türkischer Kampfdrohnen gegen die russische Armee in sozialen Netzwerken abgefeiert werden.
Angesichts einer schwindelerregenden Inflation von über 50% und wirtschaftlicher Schieflage im Allgemeinen hat die Türkei ein elementares Interesse an funktionierenden Beziehungen mit Russland. Nahrungsmittel- und Energieimporte wie auch dringend benötigte Devisen aus der Tourismusbranche lassen sich nicht so einfach ersetzen. Dazu kommt, dass Russland der Türkei in Syrien, Libyen und anderen Konfliktgebieten gehörige Kopfschmerzen bereiten kann.
Für den Moment scheinen westliche Partner wie auch Russland den türkischen Sonderweg zu tolerieren, gar zu schätzen. Ein diplomatisches Bindeglied ist in Zeiten extremer Polarisierung nötig und willkommen. Aber wie lange wird das gut gehen?
Abhängig vom weiteren Verlauf des Krieges könnte Russland die türkische Unterstützung für die Ukraine neu bewerten. Von Seiten des Westens wird die Türkei auch unter Druck geraten. Derzeit koordinieren EU und USA Sanktionen, die den Namen „ökonomische Kriegsführung“ absolut verdienen. Wenn die Türkei sich dem weiterhin nicht anschließt, gar Russland Wege eröffnet, Sanktionen zu umgehen, sind Spannungen garantiert. Hinzu kommen unberechenbare Ereignisse, wie die heutigen Meldungen über 86 Türken, die in einer Moschee in Mariupol in der Falle sitzen.
So steht die Türkei vor einer enormen Navigationsherausforderung. Im gepiqden Artikel vermutet Galip Dalay vom Chatham House, dass die Zeit der Grauzonen vorbei ist. Ankara müsse eine Entscheidung treffen. NATO oder nicht NATO, das ist hier die Frage. Möglich ist das. Denkbar ist allerdings auch, dass die Türkei im Chaos dieser Tage eine gewisse Sonderrolle bewahren und vielleicht sogar kultivieren kann.
Sicher ist, dass man von Washington, Brüssel bis Moskau die türkischen Wahlen 2023 im Blick hat. Fraglos wird die AKP Stimmen verlieren, eine neue Regierung könnte pro-westlicher sein. Bis dahin kann allerdings noch viel passieren. Einblicke in die Stimmungslage der türkischen Jugend liefert eine aktuelle Umfrage der KAS: 73 % der 18-25-Jährigen sagen, sie würden lieber in einem anderen Land leben. Ein gutes Omen sieht anders aus.
Russland verstehen – aber richtig
piqer:
Ruprecht Polenz
Mal angenommen, die NATO hätte sich nicht nach Osten geöffnet: Wer glaubt ernsthaft, dass das heutige Russland anders aussehen würde: ohne Unterdrückung der Zivilgesellschaft, ohne Verbot von Memorial, mit Pressefreiheit, unabhängiger Justiz und freien Wahlen?
In einem Interview mit The New Yorker stellt Stephen Kotkin, einer der profundesten Kenner der russischen Geschichte, diese Frage und zieht damit allen den Boden unter den Füßen weg, die der NATO-Osterweiterung eine (Mit)Schuld an Putins Überfall auf die Ukraine geben. Denn aus der Geschichte wissen wir, dass Repression nach innen über kurz oder lang zu Aggression nach außen führt.
Kotkin analysiert die Putin stützenden Machtstrukturen, ihre fundamentale Schwäche gegenüber freiheitlichen Demokratien und die Konsequenzen, die sich daraus für seine brutale Kriegführung gegen die Ukraine ergeben.
Realität schlägt Ideologie: Gemeinsame EU-Schuldenaufnahme kommt
piqer:
Jürgen Klute
Bundeskanzlerin Merkel und ihr Finanzminister Schäuble haben es jahrelang ausgebremst: eine gemeinsame europäische Schuldenaufnahme. Obgleich kluge Ökonomen immer wieder darauf hingewiesen haben, dass eine gemeinsame Schuldenaufnahme für eine stabile Wirtschaft im EU-Binnenmarkt und für die Lebensfähigkeit der gemeinsamen Währung, den Euro, unabdingbar ist.
Nun scheint die Realität die von Merkel und Schäuble propagierte deutsche konservative Ideologie zu überrollen. Realität meint in diesem Fall die ökonomischen Folgen des Überfalls Russlands auf die Ukraine und die infolge dessen verhängten wirtschaftlichen Sanktionen der EU gegenüber Russland und deren Rückwirkung auf die EU-Wirtschaft. Das ist, so die Einsicht der Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer und der Spitzenpolitikerinnen der drei legislativen EU-Institutionen Parlament, Rat und Kommission, nur möglich mit einer gemeinsamen EU-Schuldenaufnahme, um die Investitionen in den erforderlichen Umbau der EU-Wirtschaft zu finanzieren.
Mathieu Pollet und Oliver Noyan skizzieren in ihrem Artikel für Euractiv, wie sich diese erstaunliche Wende innerhalb kürzester Zeit auf dem letzten EU-Gipfeltreffen vollzog und welche konkreten Schritte in Richtung einer gemeinsamen Verschuldung der EU die verantwortlichen Politikerinnen jetzt auf den Weg bringen wollen.
Klimaschutz? Von wegen. Neuer Emissionsrekord!
piqer:
Nick Reimer
Das gab es noch nie in der Menschheitsgeschichte: Im vergangenen Jahr ist die weltweite Produktion von Treibhausgasen gegenüber dem Vorjahr um 6 Prozent gestiegen. Sechs Prozent! Laut einer Erhebung der Internationalen Energieagentur IEA wuchsen die energiebedingten Emissionen 2021 auf rund 36,3 Milliarden Tonnen an – eine Zunahme von über zwei Milliarden Tonnen binnen 12 Monaten. Bislang stiegen die Emissionen im Jahresvergleich lediglich um 1,5 bis 3 Prozent. Gesunken sind sie noch nie – trotz weltweiter Klima-Diplomatie, Kyoto-Protokoll und Paris-Abkommen, die ja (teilweise seit Jahrzehnten) zum Ziel haben, die Emissionen zu senken.
Zu Beginn der Industrialisierung betrug die Konzentration der Treibhausgase in der Atmosphäre noch 280 ppm. Die Marke von 400 ppm war 2015 erreicht worden, 2018 waren es nach Messung der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) 407,8 ppm. Die Wissenschaft geht davon aus, dass spätestens bei 450 ppm die globale Durchschnittstemperatur 2 Grad über das Niveau vor der Industrialisierung steigen wird. Treibhausgase haben eine lange Lebensdauer, Kohlendioxid zum Beispiel verbleibt Hunderte von Jahren in der Atmosphäre, bevor es sich dort abgebaut hat. Das bedeutet: Selbst wenn wir jetzt mit radikalem Klimaschutz beginnen würden, die Konzentration im Treibhaus wird trotzdem weiter steigen und zwar so lange, bis die Menschheit klimaneutral lebt. Den größten Teil der Erhitzung, die wir 2050 spüren werden, haben wir daher längst ausgelöst.
Nach der IEA-Analyse stieg die besonders klimaschädliche Kohlenutzung in der Stromproduktion – vor allem wegen des Aufholeffekts nach den Lockdowns und wegen der rekordhohen Preise für die Alternative Erdgas an. Der CO2-Ausstoß durch Kohle erreichte 2021 mit 15,3 Milliarden Tonnen einen neuen Höchststand. Die Kosten für den Betrieb von Kohlekraftwerken seien in vielen EU-Ländern und den USA erheblich niedriger als die von Gaskraftwerken gewesen, schreibt die IEA. Trotzdem erreichte auch Gas mit 7,5 Milliarden Tonnen ein höheres Niveau als im Vor-Pandemie-Jahr 2019. Nur die CO2-Emissionen aus Erdöl blieben mit 10,7 Milliarden Tonnen deutlich unter dem früheren Niveau. Die IEA-Analyse zeigt auch, dass China als größter Einheizer weltweit für das CO2-Plus verantwortlich ist.
Auch Deutschland wird einen Teil zu diesem Rekordanstieg beitragen. Das Bundesumweltamt rechnet damit, dass 2021 auch in Deutschland die Emissionen angestiegen sind, Deutschlands offizielle „Emissionszählstelle“ veröffentlicht die Zahlen zum Vorjahr in der Regel Ende März. Nach Zahlen der Denkfabrik Agora Energiewende waren es 33 Millionen Tonnen mehr als 2020, obwohl die Treibhausgas-Produktion doch – gesetzlich vorgeschrieben – eigentlich hätte zurückgehen müssen.
Positiv vermerkt die IEA in ihrem Bericht, dass die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien 2021 mit weltweit acht Billionen Kilowattstunden ein Plus von 500 Milliarden Kilowattstunden gegenüber 2020 erreichte. Windkraft und Photovoltaik legten um 270 Milliarden respektive 170 Milliarden Kilowattstunden zu, während die Wasserkraft wegen Dürren zurückging, vor allem in den USA und Brasilien.
Die Automatisierung der Arbeit schreitet auch im All voran
piqer:
Ole Wintermann
Die Automatisierung der Arbeit nimmt inzwischen das Arbeiten im Weltall in den Fokus. Bisher hatte man dabei v.a. an die Unterstützung der auf den Raumstationen Arbeitenden durch entsprechende Werkzeuge gedacht. Dies hatte jedoch – trotz der partiellen Unterstützung durch entsprechende technische Systeme – nach wie vor einen entscheidenden Nachteil:
„Almost all construction and repair that has happened in space so far has relied at least in part on astronauts, including fixes on the Hubble Space Telescope, and construction of the International Space Station. But sending humans into space is tremendously expensive, so the effort to develop robots to do the job has grown in recent years.“
In den nächsten Jahren werden daher erstmals Roboter alleine ins All befördert, die sich dort um die Reparatur von Satelliten und das Nachfüllen von deren Energiespeichern kümmern sollen.
Hierbei stellen zwei Rahmenbedingungen die Hauptherausforderungen für diese neue Gruppe von Robotern dar. Erstens müssen diese aufgrund der Zeitverzögerung der manuellen Steuerung im geostationären Orbit selbsttätig entscheiden und steuern. Zweitens müssen sie fähig sein, mit Schnittstellen zu operieren, die ursprünglich nie auf eine weitere Behandlung ausgelegt waren. Satelliten im Orbit waren bisher nicht dafür gedacht, dass ihre Energiespeicher wieder aufgefüllt werden. Daher gibt es auch keine vorgefertigten und standardisierten Zugänge zu den Speichern (es gibt keine “Tankdeckel”). Da ein Auffüllen bisher technisch nicht umsetzbar war, wurden die über 4.800 im All aktiven Satelliten quasi als Einmal- und Wegwerfprodukte konzipiert.
In den nächsten 3 Jahren werden zwei Roboter ins All transportiert werden, die an ausgemusterten Satelliten außerhalb der aktiven Umlaufbahnen prototypisch versuchen werden, diese Prozesse einmal zu durchlaufen, um sie dann grundsätzlich an allen Satelliten anwenden zu können.
Der Schritt hin zur vollständigen Ablösung der menschlichen Arbeitskraft ist also auch bereits im All erkennbar.
CRYPTOLAND: Wie Kryptowährungen unsere Welt verändern in 8 Episoden
piqer:
Christian Huberts
Mittlerweile stapeln sich in meiner Ablage für potenzielle piqs die Artikel und Videos über Blockchains, Kryptowährungen, Non-fungible Tokens (NFTs) und Co. Gar nicht so leicht, daraus etwas auszuwählen, das den Themenkomplex möglichst anschaulich macht und die (Hype-)Kultur hinter der Technologie umfassend diskutiert. Das Rennen macht nun »CRYPTOLAND«, eine 8-teilige YouTube-Dokureihe von Motherboard. Die jeweils rund halbstündigen Episoden reisen unter anderem zu einer riesigen Bitcoin-Mining-Farm in Texas, sprechen mit Memecoin-Millionären im Steuerparadies Puerto Rico und besuchen einen Schuldistrikt in Missouri, der mit einer Ransomware-Attacke um Bitcoin erpresst werden sollte. Abgerundet wird jedes Video von einer kurzen Diskussionsrunde zum Sinn und Unsinn von Krypto.
The result is CRYPTOLAND, a series that we think cuts through the hype and knee-jerk reactions about cryptocurrency to show how it’s affecting the world today, and what it might look like tomorrow. Each episode consists of a 12-15 minute field segment that introduces a concept in cryptocurrency, followed by a studio discussion with Motherboard reporters and experts in the field, who will contextualize what you just watched.
Und damit meine Ablage einfach mal wieder etwas leerer wird, hier ein paar weitere aktuelle Texte und Videos, die sich niedrigschwellig und kritisch mit Blockchain-Technologie auseinandersetzen:
- Der Blogger und Wissenschaftler tante hat eine sehr zugängliche, deutschsprachige Einführung und Kritik (inkl. FAQ) über eine der großen Utopien der Krypto-Crowd geschrieben: das Web3.
- Ilyass Alaoui wirft auf seinem YouTube-Kanal every Game a Story einen Blick auf Games, die mittels NFTs die Spielenden zu Spekulanten machen wollen.
- Der Journalist Charlie Warzel hat für The Atlantic ein Plädoyer dafür geschrieben, sich nicht durch »Fear of Missing Out« (FOMO) in eine Technologie hineindrängen zu lassen, selbst wenn sich Mahner in der Vergangenheit immer wieder mal lächerlich gemacht haben. Er soll auch das letzte Wort bekommen:
To accept the FOMO bullies’ narrative—and ignore the doubters—is to cede control of the future to a small subset of loud and powerful people.