Fremde Federn

Union Busting, Steuergerechtigkeit, private Schiedsgerichte

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Warum die Kirchen auf der tarifpolitischen Bremse stehen, mit welcher Innovationspolitik Deutschland sich zukunftsfest machen kann und wie die UN die weltweite Steuervermeidung zurückdrängen will.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Mehr Steuergerechtigkeit, weniger Steuerbetrug?

piqer:
Jürgen Klute

Auf unterschiedlichen politischen Ebenen wird seit einiger Zeit über Strategien zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuervermeidung diskutiert. Die EU arbeitet an einer Richtlinie zur länderbezogenen öffentlichen Steuerberichterstattung.

Die UN hat vor einem Jahr einen Ausschuss für internationale finanzielle Rechenschaftspflicht, Transparenz und Integrität (kurz: FACTI) eingerichtet. Ko-Vorsitzende des FACTI-Ausschusses sind der Ex-Premier von Nigeria Ibrahim Mayaki und die ehemalige litauische Präsidentin Dalia Grybauskaitė.

Aufgabe des Ausschusses war, „die Auswirkungen zu untersuchen, die Steuervermeidung, Geldwäsche und illegale Finanzströme auf die Fähigkeit von Staaten haben, die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung bis 2030 zu erreichen“. Am 25. Februar 2021 hat der FACTI-Ausschuss seine Arbeitsergebnisse in Form eines Berichtes vorgelegt.

Benjamin Fox stellt die Ergebnisse in einem Artikel für Euractiv vor einschließlich einer kurzen ersten Bewertung durch Alex Cobham, den Geschäftsführer der Nichtregierungsorganisation Tax Justice Network.

Innerhalb der EU, so Fox, dürfte jedoch nicht mit einer schnellen Umsetzung der Vorschläge des FACTI-Berichtes zu rechnen sein. Die EU ist derzeit mit der Durchsetzung der eingangs genannten Richtlinie zur länderbezogenen öffentlichen Steuerberichterstattung (Country by Country Reporting) ausreichend beschäftigt, da längst nicht alle EU-Mitgliedsländer diese Regulierung mittragen wollen.

Forschung und Innovation radikaler denken

piqer:
Anja C. Wagner

Am Mittwoch, dem 24.2., hat die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) ihr „Jahresgutachten 2021“ an Bundeskanzlerin Angela Merkel übergeben.

Das Gutachten gilt als Leitfaden für die Innovations- und Unternehmenspolitik. Darüber hinaus wirft es ein Schlaglicht auf die F&E-Aktivitäten in Deutschland. In Innovationen werden hierzulande im Jahr rund 100 Milliarden Euro gesteckt; 20% der Summe kommen vom Staat, 80% von Unternehmen.

Angesichts der Corona-Krise kam allerdings auch der Innovationssektor weiter unter Druck. Die Probleme sind seit Jahren bekannt und werden (zu?) langsam politisch angegangen. Dabei ist die Grundlagenforschung in Deutschland gar nicht schlecht, wohl aber der Transfer in erfolgreiche „Made-in-Germany“-Produkte. Hier gelte es, nachzubessern über „Forschungsmissionen“, die konkrete Problemfelder adressieren – und auf ein „schlagkräftiges, risikobereites, gut ausgestattetes Unternehmertum“ treffen. Was es auch aufzubauen gelte.

Offenbar gebe es Schwierigkeiten in der Entwicklung, Markteinführung und Anwendung neuer Technologien. In der deutschen F&E-Politik müsse daher die Agilität steigen. Neue Entwicklungen müssten früher erkannt, Schlüsseltechnologien mehr gefördert, Rückstände rasch aufgeholt werden.

Im Gutachten selbst wird die Verantwortung der F&I-Politik eingefordert, die großen gesellschaftlichen Herausforderungen anzugehen. Mit dem „Politikansatz der neuen Missionsorientierung“ gelte es hier, Innovationsaktivitäten in gesellschaftlich verabredete Richtungen zu lenken, die privatwirtschaftliche Akteure nicht von sich aus einschlagen. Dazu sollten konkrete Zielsetzungen aus den Missionen mit klarem Zeitbezug abgeleitet werden, die auch messbar sind. Sich dabei beim Zeithorizont nicht auf die Dauer von Legislaturperioden zu beschränken, sondern sich an der Zielsetzung der Mission zu orientieren, wäre das Gebot der Stunde. Aber auch eine positive Fehlerkultur gelte es zu implementieren bei der Umsetzung von Missionen. Politiklernen wäre dringend erforderlich und dazu bräuchte es vermehrt Reflexions- und Freiräume in den Ministerien und bei den Projektträgern.

Aus unserer Sicht geschieht dies in den letzten Jahren immer öfter. Die Politik lernt im Prozess, hat aber oft auch nicht die Macht, systemische Strukturen auszuhebeln, die einen agilen Innovationsprozess behindern.

So ist die im Gutachten ebenso drängend eingeforderte Anpassung der beruflichen Aus- und Weiterbildung an die digitale Transformation nach unseren Erfahrungen in der vorgeschlagenen Form nicht zielführend. Und das liegt an den (non-)formalen Strukturen, die viel zu träge sind, um im exponentiellen Zeitalter die notwendigen Anpassungsprozesse zu leisten. Das wird über den im Gutachten vorgeschlagenen Weg nicht funktionieren, auch wenn einzelne Punkte wie regionale Netzwerke zur Unterstützung der KMU durchaus sinnvoll sind. Aber über angepasste Ausbildungsordnungen, die Qualifizierung des Weiterbildungspersonals (top-down) und weitere Akkreditierungsverfahren wird sich der notwendige Umschulungsprozess nicht ansatzweise zeitgemäß aufsetzen lassen. Hier bräuchte es radikalere Reformen.

Wie Schiedsgerichte Europas Klimaziele gefährden

piqer:
Alexandra Endres

Yamina Saheb hat es sich zur Aufgabe gemacht, einen bislang eher wenig bekannten Investitionsschutzvertrag bekannt zu machen: den internationalen Vertrag über die Energiecharta (hier als PDF). Saheb selbst hat einst an dem Vertrag mitgearbeitet. Heute verbringt sie ihre Zeit damit, vor ihm zu warnen.

Sie spricht mit EU-Parlamentarier:innen, NGO-Mitarbeiter:innen und Journalist:innen wie uns – um zu verhindern, dass dieser Vertrag die EU für viele weitere Jahre an Öl, Gas und Kohle bindet.

Denn der Energiecharta-Vertrag, auch ECT abgekürzt, erlaubt es Energieunternehmen, Staaten vor internationalen Schiedsgerichten auf Milliarden-Entschädigungen zu verklagen, wenn sie sich unfair behandelt fühlen. Zum Beispiel durch neue Klimagesetze.

Das war ursprünglich nicht so gedacht. Einst sollte der Vertrag Unternehmen schützen, die in Staaten mit unsicherer Rechtslage investieren. Aber weil der Text schwammig formuliert ist, können ihn die Investoren auch nutzen, um gegen Klimagesetze zu klagen. Auch Vattenfall beruft sich in seiner Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen des Atomausstiegs auf den ECT. Und RWE begründet seine Klage gegen die Niederlande wegen des dortigen Kohleausstiegs ebenfalls damit.

Die Folgen des ECT für die europäische Klimapolitik haben Investigate Europe und Buzzfeed gemeinsam recherchiert. Über die Ergebnisse berichten auch die Frankfurter Rundschau, der Merkur und weitere europäische Medien.

Ich piqe die Überblicksseite von Investigate Europe, auf der alle Veröffentlichungen aus der Recherche und weiterführende Materialien gesammelt sind. Der zentrale Satz dort:

In den kommenden Jahren könnten Europas Staaten Milliarden an Entschädigung zahlen müssen oder aus Angst davor geplante Klimagesetze aufweichen. Das ist kein fernes Zukunftsszenario. Es hat bereits begonnen.

Über eine Reform des ECT wird schon seit einiger Zeit verhandelt. In der kommenden Woche soll die vierte Runde der Gespräche stattfinden. Anlässlich dessen haben NGOs gerade eine Petition gestartet: Ihre Forderung: Die EU und ihre Mitgliedsstaaten sollen aus dem ECT austreten. Deutschland hat sich bislang gegen einen Austritt ausgesprochen.

Ergänzung: Daniela Becker hat schon im vergangenen September mit einem piq auf das Thema aufmerksam gemacht, danke für den Hinweis!

Kirchen stehen auf der tarifpolitischen Bremse

piqer:
Jürgen Klute

In der Bundesrepublik gehören die Kirchen mittlerweile zu den größten Arbeitgebern. Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie dominieren mit insgesamt etwa 1,5 Millionen Beschäftigten den Pflege- und Sozialsektor, also einen beachtlichen Teil des Dienstleistungssektors.

Im Kontext der Corona-Pandemie ist deutlich geworden, dass der Pflegesektor ein für das Funktionieren der Gesellschaft wichtiger Wirtschaftsbereich ist. Und dass dieser Bereich unter vergleichsweise schlechten Arbeits- und Lohnbedingungen leidet. Durch einen Branchentarifvertrag für den Pflegebereich sollten diese Bedingungen flächendeckend und grundlegend verbessert werden.

Doch im Pflegesektor stehen sich nicht einfach nur eine Arbeitnehmerseite (Gewerkschaft) und eine Unternehmensseite (Arbeitgeberverband) gegenüber. Es gibt gleich mehrere Arbeitgeberverbände. Es gibt privatwirtschaftliche Anbieter. Es gibt gemeinnützige Anbieter. Und es gibt die kirchlichen Anbieter. Und für die gilt auch noch ein besonderes Arbeitsrecht – sie sind arbeitsrechtlich autonom. Das läuft unter dem Stichwort Dritter Weg. Dahinter verbirgt sich allerdings das arbeitsrechtliche Konzept der „Dienstgemeinschaft“ der Nationalsozialisten für den öffentlichen Dienst. Welches die Kirchen bei der Gründung der Bundesrepublik als arbeitsrechtlichen Sonderweg in die neue politische Struktur „hinüberretten“ wollten und was ihnen mit Unterstützung der Adenauer-Regierung auch gelungen ist. Mehr dazu auch aus wissenschaftlicher Sicht auf Wikipedia unter dem Stichwort „Dienstgemeinschaft“ und dem vom Autor dieser Zeilen mit verantworteten Blog „Verhängnisvolle Dienstgemeinschaft“.

Der Beitrag von Christina Harland auf der Webseite des NDR versucht, dieses Geflecht etwas zu entflechten und durchschaubarer zu machen. Leicht ist es nicht. Aber wer ernsthaft an einer Verbesserung der Arbeits- und Lohnbedingungen im Pflege- und Sozialbereich interessiert ist, sollte diesen Artikel lesen. Denn nur wer die Komplexität dieser Strukturen und vor allem die Rolle der Kirchen und ihrer politisch mehr als fragwürdigen Sonderstellung in diesem Geflecht versteht, hat Chancen, in diesem Bereich etwas in Bewegung zu setzen.

In diesen Tagen sind einige Artikel zu den Auseinandersetzungen um den Branchentarifvertrag Altenpflege erschienen. Nach meinem Eindruck ist es Christina Harland mit ihrem Beitrag sehr gut gelungen, die komplexen Hintergründe zu diesem Thema auch für Leserinnen und Leser, die mit diesem Thema nicht so vertraut sind, nachvollziehbar darzustellen. Es ist ist einerseits ein trockenes Thema. Andererseits kann es jedem Leser und jeder Leserin dann doch eines Tages passieren, ganz persönlich mit diesem Thema konfrontiert zu werden. Das sollte eine Motivation sein, sich mit den Strukturen, der Funktionalität und den Arbeitsbedingungen dieses Wirtschaftsbereichs zu befassen.

Obst & Gemüse: Voller Vitamine und Arbeitnehmer*innen-Missachtung

piqer:
Mohamed Amjahid

Am Wochenende war ich im Gespräch mit Fridays for Future. Mit der Klimaaktivistin Line Niedeggen habe ich auch diskutiert, wie nachhaltiges Wirtschaften funktionieren könnte; also mit Blick auf den Klimaschutz und auf die zu zentrierenden Menschenrechte und vor allem den Schutz von verletzbaren Minderheiten. Als spontanes Beispiel ist mir im Talk die europäische Landwirtschaft eingefallen. Danach habe ich diese aktuelle Recherche von Pascale Müller und Hélène Servel entdeckt. Die beiden Kolleg*innen arbeiten schon seit Jahren am Thema Arbeitnehmer*innenrechte auf europäischen Feldern. Ich will es mal so ausdrücken: Es sieht nicht gut aus.

Fünf verdreckte Toiletten für rund zweihundert Menschen. Überfüllte Bungalows, keine Dusche, mitten in der Pandemie. Unter diesen Bedingungen leben Männer und Frauen, die in Südfrankreich Aprikosen, Nektarinen und Pfirsiche ernten. Obst, das in den Einkaufswagen deutscher Verbraucher landet. Sie gehen davon aus, dass die Supermärkte, in denen sie einkaufen, angemessene Arbeitsbedingungen bei ihren Lieferanten garantieren.

In anderen Ländern, zum Beispiel Italien, Spanien und auch Deutschland, sieht die Situation nicht anders aus. Betroffen sind vor allem Geflüchtete, nicht dokumentierte Migrant*innen, allgemein People of Color und Arbeiter*innen aus Ost- und Südosteuropa. Diese Gruppen lassen sich besonders einfach ausbeuten, sie können und wollen sich nämlich nicht über die Arbeitsbedingungen beschweren. Jemand, der oder die keine Aufenthaltspapiere hat, denken sich einige Erzeuger*innen, kann man behandeln, wie es gerade in die Kalkulation passt. Alles, damit wir im Supermarkt dann die Ware zu billigen Preisen angeboten bekommen. Der Druck des Einzelhandels (vor allem in Deutschland) endet für einige Menschen auf den Feldern Europas tödlich.

Natürlich ist es schwierig, weil ich mir die teuren Bio-Produkte leisten kann, an dieser Stelle über Billigware zu schimpfen. Es zeigt aber, dass es sich hier um ein systematisches Problem handelt: Armut, Klimagerechtigkeit, sexualisierte Gewalt und Rassismus hängen miteinander zusammen und müssen auch zusammen betrachtet werden.

Was kann jede Person dagegen tun?

Im Text von Pascale Müller und Hélène Servel wird anschaulich beschrieben, warum das Siegel-Prinzip (unter anderem auch für Arbeitnehmer*innenrechte) beim Obst und Gemüse nicht so funktioniert, wie es eigentlich funktionieren sollte.

An einem heißen Tag im Juli 2011 bricht der 32-jährige Elio Maldonado in einem Gewächshaus auf der Plantage SARL Les Sources zusammen. Viele Stunden soll der Ecuadorianer Melonen geerntet haben – ohne etwas trinken zu dürfen. Die Verantwortlichen sollen keinen Rettungswagen gerufen, sondern ihn erst nach eineinhalb Stunden ins Krankenhaus gefahren haben. Dort stirbt er. Todesursache: Dehydrierung.

Und das obwohl die Melonen zertifiziert sind und angeblich unter guten Arbeitsbedingungen produziert werden. Deswegen: sich selbst informieren und nach Möglichkeit den eigenen Konsum so zu gestalten, dass nur saubere Produkte in den Warenkorb kommen, könnte im Kleinen etwas ändern. Einen politischen Markt für nachhaltige landwirtschaftliche Produkte in Europa schaffen, wäre aber besser. Denn es braucht politische Lösungen.

Union Busting – Zermürbungsmethoden gegen Arbeitnehmerorganisation

piqer:
Susanne Franzmeyer

Ein wichtiges und gut gemachtes Feature ist „Dein Feind, dein Mitarbeiter. Strategische Kriegsführung im Betrieb“ von Claas Christophersen und Norbert Zeeb aus dem Jahr 2015, das am 14.02. im NDR wiederholt wurde und noch online über die Webseite abrufbar ist.

Murat Günes begann 1995 als Leiharbeiter bei „Neupack“, einem mittelständischen Unternehmen der Verpackungsindustrie mit zwei Standorten in Deutschland. Ein Jahr später gehörte er zur Stammbelegschaft. Er wurde Maschinenführer und -einrichter – eine harte körperliche Arbeit.

Günes berichtet, dass Gespräche unter Kollegen große Ungerechtigkeiten bei der Bezahlung, bei der Gewährung von Urlaubstagen, Weihnachtsgeld u.a. hervorbrachten. Günes schaffte es, einen Betriebsrat zu gründen, wurde Betriebsratsvorsitzender, kämpfte für einen Tarifvertrag.

2003 bekam Günes seine erste Abmahnung. Man warf ihm Stempelkartenbetrug vor. Er klagte, und der Arbeitgeber zog die Abmahnung zurück. Doch das war nicht das Ende. Allein die Betriebsratsgründung wurde vom Unternehmen massiv behindert. Ein eigenes Telefon musste gerichtlich erstritten werden. Dann war der Schlüssel zum Betriebsratsbüro auf ominöse Weise verschwunden. Doch nicht nur das. Günes wird seitdem mit fadenscheinigen Kündigungsklagen überzogen, sogar von Privatdetektiven beschattet. Neben dem ihm vorgeworfenen Stempelkartenbetrug kamen noch das „Vortäuschen eines Fußleidens“ und einer damit verbundenen Arbeitsunfähigkeit hinzu oder der Vorwurf einer „vorsätzlichen Gefährdung seiner Gesundheit“ durch wiederholtes Rauchen auf dem Hof im T-Shirt bei „Temperaturen von 8,5 ° Celsius bis 10,5° Celsius“.

Dass Günes kein Einzelfall ist, sondern er Opfer einer ausgeklügelten Strategie wurde, darauf deutet ein O-Ton des US-Amerikaners Martin Levit hin, der zunächst Unternehmen in Methoden zur Verhinderung von Arbeitnehmerorganisation beriet, später aber die Seiten wechselte. Im O-Ton hört man ihn sagen, ein Betrieb dürfe nie in die Defensive kommen, sondern solle „so viele Angriffe wie möglich“ starten. Für ein solches Prozedere entstand ein eigener Begriff: „Union Busting“, was sich etwa mit „Gewerkschaftszerschlagung“ übersetzen lässt.

Murat Günes dürfte also mit seiner Vermutung richtig liegen, wenn er im O-Ton äußert, dass er vermutet, sein Betrieb arbeite auch mit Psychologen zusammen, um ihn als Vorkämpfer für die Rechte der Belegschaft zu zermürben: „Die machen Menschen kaputt“. Zu solchen Methoden zählt auch die Versetzung an andere Standorte, um Mitarbeiter zu isolieren, oder, wie im Falle Günes‘, ihre Bespitzelung, die auch vor dem Privaten nicht Halt macht. In einem Bericht der Privatdetektei, die Günes observierte, heißt es:

„7.45 Uhr Ankunft am Einsatzort und Beginn der Observation. 7.48 Uhr Verlassen Herr Murat Günes und seine beiden kleinen Kinder das Haus durch den Vorderausgang. Anschließend bringt Herr Murat Günes seine Kinder zur Schule in die (…)-Straße 100. (…) Um 9.10 Uhr verlassen Herr Murat Günes und seine Frau die Wohnung. (…) 335 Schritte. Ein Fußleiden ist nicht zu erkennen, siehe Video…“

Ein Gerichtsurteil in erster Distanz gab der Firma „Neupack“ einen Dämpfer. Die Übergriffe im privaten Bereich werden von Murat Günes möglicherweise noch strafrechtlich mit einer Schmerzensgeldklage beantwortet.

Günes litt unter der Observation. Er spricht von Paranoia. Doch er gab nicht auf. Er denke bei seinem Kampf nicht nur an sich, sondern will etwas für die Gesellschaft erstreiten, sagt er, für zukünftige Generationen. Der Kampf der Belegschaft von „Neupack“ um einen Tarifvertrag hielt 8 Monate an. Dann stellte die Geschäftsleitung Leiharbeiter als „Streikbrecher“ ein. Einen Tarifvertrag gab es am Ende nicht.

Ein besonderes Lob gilt bei diesem Feature auch Regisseur Alexander Schuhmacher, dessen musikalisch-gestalterisches Geschick der Hörerschaft hier mit allen erdenklichen akustischen Mitteln eine Freude bereitet. So geschehen gleich zu Beginn des Features in einer Collage aus O-Ton- und E-Gitarrenfetzen, durchzogen von einem durch Verleierung verfremdeten alten Hit über das Bruttosozialprodukt. Sehr gelungen!