In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Sind Staatsschulden eine Last für die nachfolgenden Generationen?
piqer:
Rico Grimm
Formidable kleine Debatte, die die FAZ hier auf die erste Seite geholt hat: Deutschland hat im Zuge der Corona-Krise mehr als 300 Milliarden Euro neuer Schulden aufgenommen. Über Staatsschulden lässt sich ja aus mehreren Perspektiven diskutieren: ein Argument, das immer wieder gegen sie angeführt wird, betrifft die zukünftigen Generationen. Ist es fair, unseren Kindern und Enkeln so viele Schulden zu hinterlassen?Jeweils zwei Ökonomen beantworten diese Frage in den Texten bei der FAZ. Die Originaltexte sind lesenswert, aber auch voller Fachchinesisch. Ich fasse ihre Kernargumente für Laien verständlich zusammen.
Team 1 – Christian Bayer (Uni Bonn) & Philip Jung (TU Dortmund): „Ja, mit neuen Schulden werden die zukünftigen Generationen belastet.“
Es braucht einen differenzierten Begriff von „Generation“, wir können nicht einfach alle lebenden Menschen in einen Topf werfen, sondern müssen zwischen Jungen und Alten, die jetzt leben unterscheiden. Es seien vor allem die Jungen, die Staatsanleihen kaufen, also dem Staat Geld leihen, und das mit Konsumverzicht bezahlen. Gleichzeitig werden sie in der Zukunft (wenn sie alt sind) als Steuerzahler die Staatsschulden zurückzahlen müssen (genauso wie die dann lebende nächste Generation von Jungen). Heutige Kosten werden also über die Zeit gestreckt in Form von Schulden. Die Autoren schreiben:
Wir vererben nicht nur Schulden und Vermögen, sondern auch möglicherweise kostspielige Verteilungskonflikte.
Gleichzeitig sei es auch ein Mythos, dass es risikolos für einen Staat wie Deutschland sei Schulden aufzunehmen: Ja, die Zinsen sind heute niedrig. Aber das kann sich ändern. Bayer und Jung erinnern daran, wie Deutschland vor 20 Jahren einmal der „kranke Mann Europas“ war. Wenn sich die Regierung heute verschuldet, bürdet sie also den nachfolgenden Generationen das Risiko auf, höhere Zinsen zahlen zu müssen, noch dazu für Schulden, die vielleicht nicht besonders gut investiert wurden. Auch das ein Risiko.
Team 2: Jens Südekum (Uni Düsseldorf), Moritz Schularick (Uni Bonn): „Schulden müssen kommende Generationen nicht belasten“
Die beiden Autoren unterstreichen, dass es wichtig ist, was der Staat mit den Schulden macht. Auf die Spitze getrieben: Wenn er damit Urlaube auf Teneriffa für die Älteren finanzieren würde, wäre das natürlich eine Belastung für die Jüngeren. Wenn er aber in die Zukunft investiert, seien Schulden eben keine Belastung. O-Ton:
Es ist gut möglich, dass sich die alte Generation bei Schuldenfinanzierung weniger an diesen Investitionen beteiligt als die jüngere Generation. Aber das ist auch völlig in Ordnung, da die Alten nicht mehr leben werden, wenn der Handyempfang in der Bahn irgendwann nicht mehr alle fünf Minuten verlorengeht. Nutzen und Lasten fallen komplett in der jungen Generation an.
Allerdings müsse der Staat die richtigen Dinge fördern: „Wenn das Kernproblem in dieser Auswahl liegt, dann sollte mehr unabhängige Expertise in den politischen Entscheidungsprozess eingebracht werden.“
Deutschland braucht eine Abgabe für Superreiche
piqer:
Emran Feroz
Die Corona-Krise hat vor allem eines deutlich gemacht: Die Ungleichheit in diesem Land.
Immobilienpreise schießen weiterhin in die Höhe, während viele damit kämpfen, ihre Mieten zu bezahlen. Das wohlhabende Bürgertum fährt während des Lockdowns mit dem SUV in Skigebiete, während viele andere Menschen öffentliche Verkehrsmittel benutzen müssen und in einem dystopischen Gefängnis, bestehend aus kleiner Wohnung, Netflix und Amazon, verweilen müssen.
Doch es sind vor allem die Superreichen, die abermals aus der Krise Profit ziehen und sogar besser dastehen als zuvor. Ein Prozent der deutschen Bevölkerung verfügt über ein Drittel aller Vermögen. Warum sollten also jene Reichen nicht zusätzlich in die Tasche greifen, um dem Staat (und damit auch der Gesellschaft) unter die Arme zu greifen? Genau hierfür plädiert Harald Schumann im Tagesspiegel und schreibt u.a. folgendes:
Darum wäre es nur recht und billig, bei diesem einen Prozent eine Zukunftsabgabe zu erheben, wie es die Linke fordert. Würden Vermögen ab einem Freibetrag von zwei Millionen Euro mit einer progressiven einmaligen Abgabe von zehn bis dreißig Prozent belegt, kämen hierzulande verteilt auf zwanzig Jahre 337 Milliarden Euro zusammen, kalkulierte das DIW. Käme es dazu, wären die Corona-Programme finanziert und der Staat bliebe für die weiteren Aufgaben handlungsfähig – notfalls auch auf Kredit.
Dies macht vor allem Sinn wenn man bedenkt, dass die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie noch auf uns zukommen werden und schwerwiegender sein können als sich gegenwärtig viele vorstellen. Dass sich das eine Prozent vor seiner Verantwortung drückt, darf nicht weiterhin der Fall sein.
Aus diesem Grund sollten solche Forderungen auch nicht als „radikal“ betrachtet werden, sondern als das einzig Richtige. Ich wage sogar zu behaupten, dass ansonsten die kommenden Jahre in wirtschaftlicher Hinsicht extrem düster werden könnten.
Die EIB: Der hintergründige Finanzier der EU-Politik wird grün
piqer:
Jürgen Klute
Die Europäische Investitionsbank – kurz: EIB – ist ein weithin unbekannter Finanzmarktakteur. Die 1958 gegründete und mittlerweile auch außerhalb der EU aktive Bank mit Sitz in Luxemburg ist der weltweit größte multilaterale Darlehensgeber und Anleiheemittent. Seit ihrer Gründung hat die EIB weltweit mehr als 1,2 Billionen Euro für mehr als 12.700 Projekte in 162 Staaten bereitgestellt.
Obgleich die EIB ein wichtiges Instrument zur Umsetzung der EU-Politik – vor allem der Kohäsions-Politik – ist und ihre Arbeit durch jährliche Berichterstattungen vom Europäischen Parlament begleitet wird und sie sich auch regelmäßig der Diskussion mit dem EP stellt, ist sie keine EU-Institution. Eigner der EIB sind die EU-Mitgliedsstaaten, die sie mit einem Kapital von 243 Milliarden Euro ausgestattet haben (Stand 01.02.2020). Auch wenn die EIB bisher in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde, ist sie ein kaum zu überschätzender Finanzmarktakteur. (Quelle der Zahlenangaben: EIB About, EIB Zahlen und Fakten sowie GTAI.)
Vlagyiszlav Makszimov hat die Entwicklung der EIB in den letzten Jahren in einem Artikel für Euractiv beschrieben. Einen wesentlichen Meilenstein auf dem Entwicklungspfad der EIB stellt das Management des 2015 eingerichteten so genannten Juncker-Plans dar. Der Fonds war eine politische Antwort auf die sozialen und ökonomischen Verwerfungen innerhalb der EU infolge der Eurokrise und zielt auf eine Stärkung der Kohäsions-Politk der EU, also auf eine wirtschaftliche Stärkung weniger entwickelter Regionen der EU.
Vom Junker-Plan schlägt Makszimov den Bogen zum nächsten Meilenstein: zum Umbau und Ausbau der EIB in Richtung einer Klimaschutz-Bank, die an zentraler Stelle dazu beitragen soll, den Green New Deal der aktuellen EU-Kommission in konkretes wirtschaftliches Handeln zu übersetzen. Dem entsprechend will die EIB „keine Projekte mit Bezug auf fossile Brennstoffe und den Ausbau von Flughäfen mehr finanzier[en]“.
Offensichtlich handelt es sich bei dieser aktuellen Neuausrichtung keineswegs nur um eine PR-Aktion. Neben Repräsentantinnen der EIB lässt Makszimov in seinem Beitrag auch Anna Roggenbuck, Policy Officer bei der bankenkritischen NGO Bankwatch, zu Wort kommen. Sie begrüßt „die grünen Pläne der Bank“ und kommentiert den Umbau der Bank mit folgende Worten:
„Es war wirklich sichtbar, dass diese [neue] Ausrichtung sehr stark von innerhalb der Bank, von ihrem Top-Management, vorangetrieben wurde.“
Roggenbuck erinnerte allerdings auch daran, dass viele der Kohäsionsregionen weniger entwickelte Wirtschaften hätten sowie eine Infrastruktur, die oft von fossilen Brennstoffen abhängig ist. Das könne für die EIB zu einer Herausforderung bei der Umsetzung ihrer klimapolitischen Ziele.
Insgesamt gibt der Artikel von Vlagyiszlav Makszimov einen guten, nicht alltäglichen Einblick in die Arbeit und in die Entwicklung der EIB.
Klimakrise: Warum jetzt die Baubranche gefragt ist
piqer:
Leonie Sontheimer
Wie viel Prozent des deutschen CO2-Ausstoßes verursachen Gebäude (in Bau und Betrieb)? Es sind sage und schreibe 40 Prozent! Darauf weisen die Architects for Future in ihrer Petition an den deutschen Bundestag hin. Der Verein, der sich letztes Jahr aus Solidarität mit Fridays for Future gegründet hat und für die Einhaltung des Pariser Klimaabkommens und die Begrenzung der Erderwärmung auf maximal 1,5 Grad Celsius einsetzt, fordert ein „umfassendes Maßnahmenpaket für ein klima- und sozialverträgliches Bauen“. „Die aktuellen baupolitischen Rahmenbedingungen sind unzureichend und so nicht konform mit den Zielen der Pariser Klimakonferenz“, schreiben die Architekt*innen in ihrer Petition.
Doch die Architects for Future wenden sich nicht nur an die Politik, sondern auch an ihre Kolleg*innen:
Sie fordern die Baubranche auf, endlich ihrer Verantwortung gerecht zu werden, etwa indem nur noch gesunde und klimapositive Materialien verwendet werden, ein Abriss möglichst verhindern wird und falls er doch unumgänglich ist, die Rohstoffe zumindest wiederverwendet werden
, schrieb Laura Weißmüller bereits im Dezember 2020 im hier verlinkten Beitrag über den Verein.
Alternativen zu Beton
Wie schwierig es ist, bei bewährten Baustoffen umzusatteln, zeigt auch dieses Feature im Deutschlandfunk von Karl Urban. Das Problem an Beton: Der Sand geht langsam aus und das Bindemittel Zement ist für fast jede zehnte Tonne CO2 verantwortlich, die der Mensch ausstößt. Im Feature werden einige Alternativen besprochen: „Recyclingbeton, neue Zementtypen und der Gradientenbeton mit Hohlräumen könnten den immensen CO2-Fußabdruck der Betonindustrie bei gleichbleibender Bauaktivität um 60 bis 70% senken.“ Aber auch die Herausforderungen der Betonwende.
Was alternative Baustoffe und Bauweisen angeht, fand ich zwei Ausgaben der Zeitschrift Oya sehr inspirierend. In der Nummer 36 ging es 2016 bereits um enkeltaugliches Bauen (einige Artikel daraus sind online verfügbar), zuletzt ging es in der Ausgabe 58 um die Frage, wie wir mit Altlasten umgehen können (hier ein spannendes Gespräch aus der Ausgabe).
Stichwort Wärmewende
Und zuletzt – dieser Piq ist ein ziemliches Potpourri – möchte ich in diesem Zusammenhang noch das Stichwort Wärmewende nennen. Im heute erschienenen Podcast „Mission Energiewende“ von Detektor.fm haben die Kolleg*innen die Wärmewende als eines DER Klimathemen für 2021 identifiziert. (Als Wärmewende bezeichnet man den Übergang zu einer nachhaltigen Energieversorgung im Wärmesektor.) Und auch diese braucht für ihre Umsetzung die Politik sowie die Baubranche. 2021 ist also die Baubranche gefragt!
So kriegt man CO2 wieder aus der Atmosphäre
piqer:
IE9 Magazin
Will die Menschheit den Klimawandel in den Griff kriegen, muss sie den Ausstoß von klimaschädlichem Kohlendioxid so schnell wie möglich reduzieren. Doch das allein wird vermutlich nicht mehr reichen. In der Wissenschaft hat sich inzwischen die Erkenntnis weitgehend durchgesetzt, dass es zusätzlich Maßnahmen brauchen wird, um aktiv CO2 aus der Luft zu entnehmen.
Allein schon deshalb, weil es Industrien wie der Bau- oder Luftfahrtbranche oder manchen Staaten, die stark auf Viehzucht oder Kohlekraft setzen, vermutlich nicht gelingen wird, bis 2050 ihren Ausstoß von Treibhausgasen auf null herunterzufahren. Auch die Klimaforscherin Daniela Jacob vom Climate Service Center Germany meint, wir müssen uns darauf vorbereiten.
„In irgendeiner Form ist inzwischen jeder vom Klimawandel betroffen“, sagt die Professorin Daniela Jacob. In allen Weltregionen seien seine Folgen zu spüren: Hitzewellen und Dürren, Starkregen und Überflutungen. Je mehr die Temperatur steige, umso größer der Schaden. Die Versprechen vieler Länder, ihre Treibhausgasemissionen zu verringern, seien daher ein gutes Signal. „Aber die globale Erwärmung ist bereits so weit fortgeschritten, dass wir nicht mehr von Versprechen leben können.“
Bäume, CO2-Produkte und CO2-Sauger
Die Frage ist: Wie kriegt man das CO2 wieder raus aus der Atmosphäre? Dafür gibt es verschiedene Technologien. Der einfachste und bewährteste Ansatz stammt von der Natur selbst: Pflanzen anpflanzen. Bestenfalls gleich Bäume oder ganze Wälder. Die größten und schnellsten Erfolge dürften dabei durch die Wiederaufforstung erst kürzlich gerodeter Flächen erzielt werden, etwa im Amazonas-Urwald.
Allerdings werden Bäume allein wohl nicht ausreichen – unter anderem, weil die Flächen dafür mit der Landwirtschaft konkurrieren und weil es schlicht zu lange dauern könnte, das Problem nur dadurch zu lösen. Unsicherheit besteht auch, weil es unklar ist, ob riesige neue Waldflächen nicht sogar zur globalen Erwärmung beitragen könnten, weil sie die Oberfläche des Planeten verdunkeln. Dadurch wird mehr Sonnenlicht aufgenommen.
Doch es gibt andere Möglichkeiten, die ebenfalls zum Einsatz kommen könnten. Aus Pflanzenresten, in denen CO2 gespeichert ist, lässt sich Pflanzenkohle gewinnen – und die kann nicht nur in der Landwirtschaft eingesetzt, sondern auch in langlebige Produkte verwandelt werden. Das Berliner Start-up Made of Air, zum Beispiel, stellt daraus ein Thermoplastik her, das für Möbel, Fassadenverkleidung oder auch simple Dinge wie Sonnenbrillen verwendet werden kann.
„Wir haben uns angesichts der Klimakrise vorgenommen, alle möglichen Produkte, die hergestellt werden, in CO2-Speicher zu verwandeln“, sagt Allison Dring, die Mitgründerin und Geschäftsführerin der Firma. Für sie ist das überschüssige Kohlendioxid in der Atmosphäre ein Rohstoff, der genutzt werden sollte.
Auch die unmittelbare Entnahme von CO2 aus der Luft, per Direct Air Capture, ist bereits möglich. Führend dabei ist das Schweizer Unternehmen Climeworks.
14 DAC-Anlagen hat die Firma nach eigenen Angaben schon in Betrieb. Mit großen Ventilatoren wird dort Luft eingesaugt. Das darin enthaltene CO2 bleibt an speziellen Filtern hängen. Ist ein Filter voll, wird das Kohlendioxid durch Erhitzen herausgelöst und kann in seiner Reinform entweder unterirdisch gespeichert werden oder, wie schon bei Made of Air, weiterverarbeitet werden.
Die Speicherung von CO2 im Untergrund, die etwa in Norwegen schon im großen Maßstab stattfindet, ist allerdings in Deutschland auch aufgrund von Sicherheitsbedenken umstritten. Dazu kommt, das DAC nur dort Sinn ergibt, wo es überschüssigen grünen Strom und genug Wasser gibt. Denn beides benötigt die Technologie. Dennoch starten immer mehr Pilotprojekte und auch größere Anlagen, um CO2 direkt aus der Luft zu saugen.
Unabhängig davon warnen Wissenschaftler davor, Technologien zur CO2-Entnahme als Alternative zur drastischen Reduzierung des CO2-Ausstoßes zu sehen. Sie seien nur eine notwendige Ergänzung. Denn die globale Erwärmung ist schon zu weit fortgeschritten.
Argumente für Frauenquoten in der Unternehmensführung
piqer:
Antje Schrupp
Seit Jahrzehnten schon wird der geringe Frauenanteil in deutschen Unternehmensführungen beklagt – er bewegt sich immer noch bei kläglichen rund 10% und damit auf dem Niveau von Ländern wie der Türkei oder Indien; im europäischen Vergleich abgeschlagen auf Platz 24 von 27. Die Debatte, wie mit dieser Unfähigkeit oder Unwilligkeit deutscher Unternehmensführungen, sich zu diversifizieren, umgegangen werden soll, ist gespalten: Die einen fordern gesetzliche Quotenregelungen, weil ja offensichtlich geworden ist, dass sich auf freiwilliger Basis nichts ändert. Die anderen fordern, sich vom Ziel der Diversität zu verabschieden, weil es erstens für den Unternehmenserfolg egal sei und zweitens nicht genug qualifizierte Frauen vorhanden seien.
Dem widersprechen zwei Wirtschaftsprofessorinnen der TH Aschaffenburg in diesem Gastbeitrag in der FAZ. Verschiedene Forschungsprojekte hätten gezeigt, dass ein mindestens 30-prozentiger Frauenanteil in Unternehmensführungen signifikant mit einem höheren Unternehmenserfolg korreliert. Und auch das Qualifikationsargument zähle heute nicht mehr: Bei den Unter-45-Jährigen ist der wirtschaftswissenschaftliche Bildungsgrad der Frauen sogar höher als der der Männer.
Stattdessen gebe es zahlreiche sachfremde, strukturelle Gründe, die Frauen aus deutschen Unternehmensführungen fern halten – und damit nicht nur deren Karrierechancen behindern, sondern auch den Unternehmen notwendiges Know-how vorenthalten, das sie im globalen Wettbewerb gut gebrauchen könnten.
Moderne Sklaverei? FT-Recherche in den deutschen Schlachthöfen
piqer:
Simone Brunner
Covid-19 hat ein Schlaglicht auf die Zustände in der deutschen Fleischindustrie geworfen. Hungerlöhne, Massenquartiere, Tierleid und zuletzt sogar der Ausbruch der Afrikanischen Schweinepest: Die deutsche Fleischindustrie sorgte zuletzt weltweit für negative Schlagzeilen.
Durch die massenhaften Corona-Ausbrüche in den Schlachthöfen sind die katastrophalen Zustände der Leiharbeiter, die meistens aus Osteuropa stammen, in den Blick geraten. Ein unmenschliches System aus Werkverträgen, Subunternehmen und Ausbeutung, mitten in der größten und reichsten Volkswirtschaft der EU.
Subcontracting, which provided about two-thirds of abattoir workers, removed responsibility from meat companies. An abattoir did not hire workers directly; it paid subcontractors a flat rate for a given service — a certain amount of animals slaughtered or meat produced, for example. The subcontractors provided the workers, and thus were responsible for their pay, treatment and sometimes housing. But because subcontractors were paid by production, not by the hour, it was profitable to push workers to work ever faster, in long, gruelling shifts. Few workers withstood such conditions for longer than a year.
„Eine moderne Art der Sklaverei“, nennt es sogar Raya („I feel like a victim of some kind of modern slavery“), eine Bulgarin, die eigentlich anders heißt. Die Financial Times (FT) hat sie für dieses Thema in einer großen Recherche begleitet. Sie hat in einer Tönnies-Fabrik Rheda-Wiedenbrück gearbeitet und kämpft bis heute um ausstehende Zahlungen.
Bisher habe ich zum Thema keine derart umfangreiche Recherche gelesen, wie diese hier: von ausgebeuteten Arbeitern über Tönnies-Vertreter bis hin zu zuständigen Politikern und Aktivisten. Sie zeichnen ein beklemmendes Bild. Sogar ein Arzt, der in der Nähe der großen Fabrik in Rheda-Wiedenbrück arbeitet, kommt zu Wort: „Viele kommen zu mir, wenn sie den Schmerz nicht mehr länger aushalten“, sagt er.
Die Bundesregierung hat ein Gesetz beschlossen, wonach die Arbeiter ab 2021 direkt beim Fleischproduzenten angestellt werden müssen, zumindest bei der Schlachtung und Zerlegung. Somit sind Werkverträge (seit Januar) und Leiharbeit (soll ab April gelten) verboten. Immerhin. Viele zweifeln dennoch daran, dass die Missstände in der Branche damit wirklich der Vergangenheit angehören.
Wie wird Geschichte sichtbar?
piqer:
Achim Engelberg
Häufig hört oder liest man, dass die Pandemie offenlegt, was schon da war. Aber was ist das und wie geschieht es?
Vor Corona publizierte der in Jugoslawien aufgewachsene und in den USA lebende Ökonom und Ungleichheits-Experte Branko Milanović „Capitalism, Alone. The Future of the System That Rules the World“. Während der Pandemie erschien die deutsche Übersetzung bei Suhrkamp.
Im Gespräch mit Daniel Binswanger für die Schweizer Republik erläuterte der Ökonom, was die Seuche offenlegt: zerklüftete Gesellschaften.
Ungleichheit erschöpft sich nicht darin, dass ein kleiner Teil der Bevölkerung sehr viel Geld hat. Sie charakterisiert sich dadurch, dass sich die Privilegien auf Kinder und auf Kindeskinder ausdehnen. Wenn dieser Zustand zu lange anhält, wird das Versprechen von Chancengleichheit und demokratischer politischer Gestaltungsmacht hinfällig. Dann wird das Fundament des politischen Systems bedroht.
Branko Milanović sieht keine Konvergenz der verschiedenen kapitalistischen Systeme, der parlamentarisch-demokratischen, der autoritären und der breiten Skala der hybriden Zwischenstufen. Aber überall separieren sich die Herrschenden wie eine neue Aristokratie.
Das ganze System muss so reformiert werden, dass die öffentliche Bildung besser wird als die private. Sonst kann die Verbindung zwischen dem Einkommen der Eltern und dem Erfolg der Kinder nicht durchbrochen werden. Doch wenn man die reale Entwicklung in den USA anschaut, kann man nur feststellen, dass sowohl die Bildungspolitik als auch die Steuerpolitik immer weniger liberal im Sinn von Rawls werden.
Dadurch wird ein Problem relevant, das schon Marx und Schumpeter beschäftigte, die Fähigkeit einer Gesellschaft,
Talente auch aus ihren unteren Schichten zu rekrutieren. Wenn das nicht mehr klappt, hat sie ein bedrohliches Problem.
Zwar gefährden die verschiedenen Ausformungen des globalisierten Kapitalismus das gesellschaftliche Zusammenleben, aber dennoch wirken viele dieser Formen noch anziehend. Deshalb wünscht die Mehrheit die Rückkehr zur „Normalität“.
Der Erfolg des Kapitalismus beruht darauf, dass er mit unserem eigentlichen Wertesystem übereinstimmt. Wenn die überwältigende Mehrheit der Erdenbürgerinnen nicht bereit wäre, die Anhäufung von Vermögen und die Steigerung von Einkommen zum obersten Ziel zu machen, würden wir weder hart genug arbeiten noch verschwenderisch genug konsumieren, um das kapitalistische System zu erhalten und seine permanente Expansion zu ermöglichen. … Das Profitstreben gibt ihm eine unbegrenzte Dynamik. Und jeden Tag von neuem legen wir den Beweis ab, dass es das oberste unserer Handlungsmotive ist: Denn ein Gesellschaftssystem, das nicht den Grundwerten seiner Akteure entspricht, kann sich nicht durchsetzen.
Das führt überall zu Zeitdruck und kurzfristigen „Lösungen“. Deshalb setzt Daniel Binswanger mit Hinweis auf Branko Milanović mit einem Beitrag Die Welt von morgen die Debatte fort:
In der Pandemiebekämpfung wie in der Klimapolitik muss die Politik aufgrund von wissenschaftlichen Prognosen weitreichende Entscheidungen treffen, in der Gegenwart handeln, um künftige Schäden abzuwenden, wirtschaftlich extrem kostspielige Massnahmen ergreifen, die sich rechnen, aber erst auf lange Sicht. … Die westlichen Demokratien sind in der Corona-Krise mehrheitlich daran gescheitert, zwei, drei Monate vorauszublicken.
Wie das zu machen ist, das ist überwältigend unbeantwortbar, weshalb Daniel Binswanger Fragen stellt:
Sitzt uns diese Katastrophe tief genug in den Knochen, dass wir aus ihr wirklich lernen? Dass wir die Verteilungsprobleme, welche die heutigen Demokratien bedrohen, entschiedener angehen? Dass wir den Staaten die nötige Handlungsfähigkeit restituieren? Dass wir mit der Umwelt und mit epidemiologischen Externalitäten einen rationalen Umgang finden? Oder werden wir auch diese Krise aussitzen und warten, bis die nächste kommt? Bis autoritäre Regierungsformen dem liberalen Verfassungsstaat den Rang schliesslich abgelaufen haben?
Aber wo bleiben die Antworten?
Da kann man den Schweizer Künstler Friedrich Dürrenmatt zitieren, der heute 100 Jahre alt geworden wäre, mit seiner 18. seiner berühmten Thesen zu den „Physikern“:
Jeder Versuch eines Einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muss scheitern.
Was treibt Ökonomen in die rechte Ecke?
piqer:
Jürgen Klute
Dieser Frage gehen Benjamin Bidder und Michael Sauga in ihrem Beitrag im SPIEGEL nach. Keine andere Partei in der bundesdeutschen Parteienlandschaft ist so stark von Ökonomen geprägt wie die rechtsextreme, an den Nationalsozialismus anknüpfende AfD: Bernd Lucke, Jörg Meuthen, Stefan Homburg, Roland Tichy, Joachim Starbatty. Auch wenn mittlerweile der völkische Flügel um Björn Höcke den Einfluss der Ökonomenzunft zurückdrängt.
Was bewegt Menschen, die über eine hohe formale Bildung und höchste akademische Grade verfügen – bis auf Roland Tichy sind die genannten Ökonomen Hochschullehrer –, sich in eine politisch Ecke zu bewegen, die sich in Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts restlos diskreditiert hat?
Über die Beweggründe menschlichen Verhaltens nachzudenken ist spannend, bleibt aber selbstverständlich immer spekulativ. Letztlich bleibt nur, nach Indikatoren zu suchen, die möglicherweise Rückschlüsse auf Beweggründe zulassen. Das ist auch den beiden Autoren bewusst.
Bidder und Sauga versuchen sich den Beweggründen anzunähern, im Gespräch mit Karl-Heinz Paqué, ebenfalls Ökonom. Die Personen, um die es geht, sind ursprünglich dem liberalen Lager zuzuordnen gewesen. Paqué verweist darauf, dass der Liberalismus eine Gratwanderung bedeute zwischen einer staatskritischen und staatsablehnenden Haltung, die mitunter in Hass gegenüber dem Staat umkippen kann. Diese Ablehnung des Staates bezieht sich dann allerdings auf den existierenden demokratischen Staat.
Hinzu kommt ein zweiter Aspekt. Die der AfD zugewandten Ökonomen haben offenbar ein starres Verständnis ökonomischer Prozesse. So zitieren die beiden Autoren aus einer Debatte von Marcel Fratzscher und Joachim Starbatty, in der Fratzscher darauf verweist, dass die heutigen ökonomischen Bedingungen nicht mehr die gleichen seien, wie vor 30 Jahren und folglich auch andere Antworten zu geben seien. »Das stimmt«, entgegnete Starbatty. »Aber die ökonomischen Gesetze gelten immer noch.«
Diese Aussage lässt nicht nur Rückschlüsse darauf zu, weshalb Leute wie Starbatty einen demokratischen Staat ablehnen. Sie deutet auch darauf hin, dass die genannten Ökonomen erhebliche erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Defizite aufweisen. Denn ökonomische Prozesse sind keine naturwissenschaftlich-kausalen Gesetzmäßigkeiten. Wirklichkeit funktioniert nicht nach Lehrbüchern, sondern Lehrbücher sind der Versuch, sie verstehbar darzustellen. Ihre Begrenztheit liegt in der Begrenztheit menschlicher Erkenntnisfähigkeit begründet.
Wie gesagt, bleibt die Erforschung der Beweggründe menschlichen Handelns immer zu einem guten Stück spekulativ. Der Erklärungsversuch von Bidder und Sauge hat aber durchaus eine hohe Plausibilität und ist es wert, weiter diskutiert und präzisiert zu werden.