In der letzten Woche haben die ungarische und die polnische Regierung ein Veto gegen den neuen mehrjährigen Finanzrahmen der EU und das Corona-Wiederaufbauprogramm NextGenerationEU eingelegt. Dieses Veto kam nicht überraschend, sondern war die angekündigte Reaktion darauf, dass EU-Mittel künftig an Rechtsstaatsbedingungen geknüpft sein sollen. Obwohl der Rat – unter deutscher Präsidentschaft – diese Bedingungen in den Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament in den letzten Monaten bereits deutlich abgeschwächt hatte, blieben Ungarn und Polen hart. Auch eine Videokonferenz des Europäischen Rates am Donnerstag brachte keine Einigung. Seitdem ist die Aufregung groß.
Bevor es allerdings wirklich ernst wird, bleibt noch ein wenig Zeit. Der aktuelle Finanzrahmen ist noch bis Ende des Jahres gültig. Zudem handelte es sich bei der Abstimmung am vorletzten Montag nur um ein vorbereitendes Treffen des Ausschusses der Ständigen Vertreter, also der nationalen EU-Botschafter. Eine verbindliche Entscheidung wird erst auf der Ratstagung am 8. Dezember fallen. Nur wenn Ungarn und Polen dann bei ihrem Veto bleiben, wird es Folgen geben.
Gegen den Rechtsstaatsmechanismus selbst ist kein Veto möglich
Allerdings ist der langfristige EU-Haushalt aus rechtlicher Sicht kein einheitliches Paket, sondern besteht aus einer Reihe von ineinander greifenden Rechtsakten. Um die Auswirkungen des Vetos und die Optionen der EU genauer zu verstehen, ist es nötig, diese einzelnen Rechtsakte voneinander zu unterscheiden. Im Ganzen sind es vier Teile, die nun zur Abstimmung stehen.
Der Rechtsstaatsmechanismus, der den eigentlichen Stein des Anstoßes bildet. Bei diesem Rechtsstaatsmechanismus handelt es sich um eine neu vorgeschlagene Verordnung, auf die sich Parlament und Rat Anfang November geeinigt haben. Im Kern soll diese Verordnung es ermöglichen, Mitgliedstaaten, die gegen Rechtsstaatsprinzipien verstoßen, EU-Mittel zu kürzen, wenn die Kommission das vorschlägt und der Rat es mit qualifizierter Mehrheit beschließt. Damit die Verordnung in Kraft tritt, muss der Rat ihr noch zustimmen – allerdings ebenfalls nur mit qualifizierter Mehrheit. Ungarn und Polen haben hier also keine Veto-Möglichkeit.
Der Eigenmittelbeschluss, der regelt, welche Arten von Einnahmen die Europäische Union hat. Üblicherweise wird der Eigenmittelbeschluss alle sieben Jahre – jeweils parallel zur Verabschiedung eines neuen mehrjährigen Finanzrahmens – überarbeitet, wofür nach Art. 311 AEUV ein einstimmiger Beschluss des Rates notwendig ist. Rein rechtlich hat der aktuelle Eigenmittelbeschluss von 2014 jedoch keine zeitliche Beschränkung – legen Ungarn und Polen ein Veto gegen seine Erneuerung ein, bleibt der alte einfach in Kraft.
Das hätte allerdings zwei konkrete Folgen: Zum einen räumt der alte Eigenmittelbeschluss einigen Mitgliedstaaten (Deutschland, den Niederlanden, Schweden und Dänemark) Rabatt-Regelungen ein, die Ende 2020 auslaufen. Ohne den neuen Eigenmittelbeschluss, der diese Rabatte verlängern soll, wird deshalb der Anteil steigen, den diese Staaten zum EU-Haushalt beitragen.
Zum anderen – und noch wichtiger – ist der neue Eigenmittelbeschluss auch ein wesentlicher Bestandteil des Wiederaufbauprogramms NextGenerationEU. Er erlaubt es der EU, Anleihen im Volumen von 750 Milliarden Euro zu begeben, um daraus Maßnahmen zum Kampf gegen die Corona-Wirtschaftskrise zu finanzieren. Ohne neue Eigenmittel gibt es also kein Wiederaufbauprogramm, worunter vor allem die südlichen Mitgliedstaaten, aber auch Ungarn und Polen selbst zu leiden hätten.
Der mehrjährige Finanzrahmen selbst, der für sieben Jahre regelt, wie viel Geld die EU in welchen Politikfeldern ausgeben darf. Auch der mehrjährige Finanzrahmen muss nach Art. 312 AEUV einstimmig verabschiedet werden. Bleibt es beim ungarisch-polnischen Veto, gelten nach Art. 25 des aktuellen Finanzrahmens für 2014-2020 erst einmal die Bestimmungen für 2020 weiter. Der EU ginge das Geld also nicht vollständig aus. Allerdings sieht der neue Finanzrahmen eine beträchtliche Erhöhung des Budgets sowie eine Neupriorisierung von Ausgabenbereichen vor. Auch deshalb ist der neue Finanzrahmen notwendig, damit es NextGenerationEU geben kann.
Ende 2020 laufen etliche einzelne EU-Finanzierungsinstrumente aus. Das sind eine Vielzahl von einzelnen Verordnungen mit Detailbestimmungen für die Mittelverwendung einzelner Fonds, Förderprogramme etc. Da diese Finanzierungsinstrumente den Bedingungen des mehrjährigen Finanzrahmens unterliegen, sind sie wie dieser auf sieben Jahre beschränkt und werden zusammen mit ihm erneuert. Anders als der Finanzrahmen verlängern sie sich allerdings nicht von selbst, wenn es keine Einigung gibt, sondern laufen einfach aus. Wird ein Finanzierungsinstrument nicht erneuert, kann die EU also aus dem entsprechenden Fonds kein Geld mehr ausgeben – selbst wenn der (alte) Finanzrahmen dafür eigentlich Mittel zur Verfügung stellt.
Allerdings handelt es sich bei den Finanzierungsinstrumenten wiederum um einfache Verordnungen, die im Rat mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden können. Kommt es zum ungarisch-polnischen Veto gegen den neuen Finanzrahmen, wäre es also leicht, sie um die Laufzeit des (alten) Finanzrahmens zu verlängern. Interessant sind die Finanzierungsinstrumente deshalb eher, weil sie – worauf zuletzt insbesondere Lucas Guttenberg vom Jacques Delors Centre hingewiesen hat – der Mehrheit der Mitgliedstaaten ein Druckmittel in die Hand geben: Auch die Strukturfonds, zu deren wichtigsten Empfängern Ungarn und Polen gehören, werden ohne eine Verlängerung im Januar 2021 versiegen. Mit ihrem Veto gehen die beiden Regierungen deshalb ein finanziell weitaus größeres Risiko ein, als wenn sie einfach den Rechtsstaatsmechanismus hinnehmen würden.
Das Europäische Parlament wird nicht nachverhandeln
Angesichts dieses Risikos ist es immer noch wahrscheinlich, dass die beiden Regierungen nicht dauerhaft an ihrer Blockade festhalten werden. Dennoch handelt es sich natürlich auch für die EU um eine kritische Situation, die möglichst schnell und geordnet mit dem Corona-Wiederaufbauprogramm beginnen will und zudem mit dem Brexit oder der mehrfach verschobenen Konferenz zur Zukunft Europas noch weitere wichtige Themen auf der Agenda hat, die durch den Haushaltsstreit in den Hintergrund gedrängt werden. Wie also kann die EU jetzt reagieren?
Auf die ungarisch-polnische Forderung einzugehen und den Rechtsstaatsmechanismus noch weiter abzuschwächen oder gar ganz zurückzunehmen, ist offensichtlich keine Lösung. Tatsächlich haben sowohl die niederländische Regierung als auch die Fraktionsvorsitzenden im Europäischen Parlament bereits deutlich zu verstehen gegeben, dass sie nicht bereit sind, über den Rechtsstaatsmechanismus neu zu verhandeln. Wahrscheinlicher und auch politisch sinnvoller ist, dass der Rat die Verordnung am 8. Dezember mit Mehrheit annehmen und damit die polnische und ungarische Regierung vor vollendete Tatsachen stellen wird.
Politische Versprechen als gesichtswahrender Ausweg?
Allerdings ist offene Konfrontation nicht die typische Arbeitsweise des Rates, und gerade die deutsche Ratspräsidentschaft hat in den letzten Monaten deutlich gezeigt, dass sie Konflikte lieber durch kleine Zugeständnisse hier und dort wegmoderiert als sie offen auszutragen. Polen und Ungarn einen gesichtswahrenden Ausweg zu geben, könnte zudem der schnellere Weg aus der Krise sein. Eine mögliche Lösung könnte deshalb sein, dass der Rechtsstaatsmechanismus zwar rechtlich intakt bleibt, aber die ungarische und polnische Regierung ein – wie auch immer geartetes – politisches Versprechen erhalten, dass er auf absehbare Zeit nicht gegen sie eingesetzt wird.
Unglaubwürdig wäre ein solches Versprechen auf den ersten Blick jedenfalls nicht: Immerhin sind die Hürden zur Anwendung des Mechanismus (Vorschlag der Kommission, qualifizierte Mehrheit im Rat) verhältnismäßig hoch, und die Kommission unter Ursula von der Leyen (CDU/EVP) hat sich auch bislang nicht durch eine besonders harte Linie gegenüber der ungarischen und polnischen Regierung ausgezeichnet. Das Europäische Parlament wiederum wäre über ein solches Versprechen vielleicht empört, hätte aber nicht allzu viel Handhabe, um sich dagegen zu wehren.
Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass die Kommission (oder die Ratsmehrheit) ein solches Versprechen in allzu offener Form gibt. Zum einen würde sich die EU auf diese Weise massiv unglaubwürdig machen – und das Thema hat inzwischen so viel öffentliche Sichtbarkeit erreicht, dass daraus weder die Kommission noch die deutsche Ratspräsidentschaft unbeschadet hervorgehen würden. Zum anderen wäre es auch eine Einladung an andere Mitgliedstaaten, in vergleichbaren Situationen ebenfalls eigene Interessen durch Veto-Drohungen durchzusetzen. Und demokratiepolitisch falsch wäre es ohnehin: Sowohl in Ungarn als auch in Polen haben die Verstöße gegen die gemeinsamen Werte der EU inzwischen ein Ausmaß erreicht, dass die EU einfach nicht länger wegsehen kann.
Ein Wiederaufbaufonds ohne Ungarn und Polen?
Erfolgversprechender für die EU ist es daher, jetzt dem Druck standzuhalten und eine weitere Eskalation hinzunehmen. Tatsächlich ist auch der Zeitdruck für den Corona-Wiederaufbaufonds nicht so groß, wie es auf den ersten Blick scheint: Die ersten Hilfen daraus sollten ohnehin erst ab Mitte 2021 fließen. Davor dringend notwendige Maßnahmen bezahlen die Mitgliedstaaten aus eigener Tasche – was kein Problem ist, solange sie wissen, dass sie sich später aus dem Fonds refinanzieren können. Entscheidend ist deshalb, dass der Fonds irgendwann in den nächsten Monaten die Arbeit aufnehmen kann, nicht, dass er wie geplant zum 1. Januar betriebsbereit ist.
Notfalls hätte die Mehrheit der Mitgliedstaaten also auch noch Zeit genug, um einen alternativen Corona-Wiederaufbaufonds ohne Ungarn und Polen zu konstruieren. Tatsächlich war in den letzten Tagen viel von einer „intergouvernementalen Lösung“ die Rede – der Möglichkeit, den Fonds außerhalb des EU-Vertragswerks durch ein eigenständiges Abkommen der 25 übrigen Mitgliedstaaten einzurichten. Vorbilder für ein solches Vorgehen gibt es aus Zeiten der Eurokrise genug: Auch der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) entstand seinerzeit außerhalb des EU-Rahmens.
Verstärkte Zusammenarbeit statt intergouvernementaler Lösungen
Allerdings ist eine solche Verlagerung auf intergouvernementale Lösungen außerhalb des EU-Vertragswerks weder politisch wünschenswert – immerhin würden damit nicht nur Polen und Ungarn, sondern auch das Europäische Parlament umgangen – noch wirklich notwendig. Auch das EU-Vertragswerk selbst bietet mit der verstärkten Zusammenarbeit nach Art. 20 EUV schließlich ein Instrument, das es einer Gruppe von Mitgliedstaaten erlaubt voranzugehen, wenn einzelne Regierungen blockieren. Gegebenenfalls ließe sich der Wiederaufbaufonds also auch innerhalb des EU-Vertrags ohne Ungarn und Polen einrichten, wie das der frühere liberale Fraktionsvorsitzende Guy Verhofstadt (Open-VLD/ALDE) bereits gefordert hat.
Das wäre zwar mit einigen rechtlichen Ausgestaltungsproblemen verbunden: Insbesondere müsste nach Art. 332 AEUV gewährleistet sein, dass für die vom Wiederaufbaufonds aufgenommenen Kredite nur die beteiligten Mitgliedstaaten haften. Das Ergebnis würde deshalb weniger elegant ausfallen als die für NextGenerationEU eigentlich vorgesehenen EU-Anleihen. Aber unmöglich wäre es nicht.
Es wird Zeit, die Vetokratie zu überwinden
Alles in allem bleibt damit festzustellen: Wenn die EU-Mehrheit jetzt die Linie hält, wird sie diese Auseinandersetzung gewinnen. Das Veto gegen den mehrjährigen Finanzrahmen wird weder die EU im Allgemeinen noch den Wiederaufbaufonds im Besonderen lahmlegen. Die ungarische und polnische Regierung sitzen am kürzeren Hebel und werden letztlich nachgeben müssen – oder von der Mehrheit umgangen werden.
Es bleibt aber auch die (nicht wirklich neue) Erkenntnis, dass Einstimmigkeit unter den Regierungen auf Dauer kein sinnvolles Verfahren ist, um eine Union aus 27 Staaten zu steuern. Schon unter normalen Umständen führt die Vetokratie in der Haushalts-, aber auch in der Außen-, Steuer- und Sozialpolitik nicht nur zu ineffizienteren Entscheidungen, sondern auch zu weniger demokratischer Kontrolle als parlamentarische Mehrheitsverfahren. Dies gilt umso mehr, wenn im Rat zwei autoritäre Regierungen bereit sind, ihr Vetorecht zu nutzen, um die Durchsetzung eigener Interessen zu erpressen. Die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedstaaten und die Stärkung der europäischen Demokratie auch durch den Übergang zu Mehrheitsentscheiden müssen dringender denn je ins Zentrum der europäischen Verfassungspolitik rücken.
Zum Autor:
Manuel Müller ist Senior Researcher am Institut für Europäische Politik in Berlin. Er betreibt das Blog „Der (europäische) Föderalist“, wo dieser Beitrag zuerst erschienen ist. Auf Twitter: @foederalist