In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Auf der Suche nach der „general theory“ menschlichen Wirtschaftens
piqer:
Thomas Wahl
Oded Galor ist ein israelischer Wirtschaftswissenschaftler und hatte zuletzt einen Lehrstuhl für Ökonomie an der Brown University in Rhode Island, USA. Er gilt als Begründer der „Unified Growth Theory“ der wirtschaftlichen Entwicklung. Mit dieser Theorie versucht er das Wirtschaftswachstum über die gesamte Evolution der Menschheit in einem ganzheitlichen Modell, global und über tiefliegende Faktoren und Prozesse (Evolution, Populationsdynamiken, genetische Vielfalt, Ungleichheiten) zu erklären.
Seine Forschungsfragen formulierte er u. a. in einem Interview:
Why did no country or region of the world, prior to the eighteenth century (the Malthusian era), experience lasting intensive growth, that is, sustained increases in per capita GDP?
What led to the first ‘Industrial Revolution’, and was this ‘Revolution’ inevitable?
Why did the first Industrial Revolution begin in England in the middle of the eighteenth century?
What factors can account for the demographic transition, that is, the reversal of the positive relationship between population and per capita income that characterised all of human history until the mid–nineteenth century?
What has caused the ‘Great Divergence’ in living standards across the world during the last 250 years?
Wobei er in der 2019 gehaltenen „Copernican Lecture“ zwei „Mysterien“ nennt:
Warum setzte der schnelle Wachstumsprozess erst nach vielen (hundert)tausenden Jahren relativer Stagnation ein und warum kam es dann in den letzten 250 Jahren zu der großen Ungleichheit in den Pro-Kopf-Einkommen in den unterschiedlichen Regionen der Welt?
Einerseits war für Galor der
Sprung in die Industrialisierung, mit der sich die Welt nachhaltig veränderte, nicht zufällig, sondern unausweichlich: “Die Größe der Bevölkerung beeinflusste die Wachstumsrate technischen Fortschritts. Sie beeinflusste das Angebot von und die Nachfrage nach Ideen. Sie beeinflusste auch die Verbreitung von Ideen, den Grad der Spezialisierung des Produktionsprozesses, der ‘Learning by Doing’ anregte und das Niveau internationalen Handels, das weiteren technischen Fortschritt unterstützte.”
Dieser technische Fortschritt und das Wirtschaftswachstum wiederum steigerten das Wachstum der Bevölkerungen weiter. Andererseits vollzog sich das damals nicht überall. Viele Völker betraten diesen Entwicklungspfad erst nach Westeuropa. Andere Länder taten es bis heute nicht wirklich und stecken immer noch fest in der Malthusianischen Epoche geringer Innovation und geringen Wachstums. Galors Erklärung dieses Phänomens stützt sich u. a. auf eine Hypothese namens „Jenseits-von-Afrika“:
Sie geht von der in der Evolutionsbiologie wohl nicht umstrittenen These aus, dass der Mensch seine Heimat in Ostafrika hatte, und sich dort vor 60.000 bis 90.000 Jahren Menschen in andere Regionen der Erde aufmachten – zum Beispiel nach Europa, aber auch nach Asien und nach Amerika. Der nächste Schritt ist die nach Galor belegbare Annahme, das sich die genetische Diversität dieser sich langsam ausbreitenden Menschheit mit der zunehmenden Distanz zu Ostafrika verringert hat.
Daher die zentrale Annahme Galors, nach der für den wirtschaftlichen Entwicklungsprozess ein optimaler Zustand genetischer Diversität bestimmend ist. Dieses optimale Maß oszilliert um zwei gegenläufige Tendenzen:
So ist ein hohes Maß an genetischer Diversität einerseits aus ökonomischer Sicht vorteilhaft, weil sie Vielfalt fördert und eine Vielfalt von Ideen für die Entwicklung von Innovationen förderlich ist. Andererseits ist ein hohes Maß an genetischer Diversität nachteilig, wenn sie etwa auf dem Wege von Misstrauen und Konflikten oder durch unterschiedliche Vorstellungen von der Rolle des Staates die soziale Kohäsion erschwert.
Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts war dieser Zustand in Westeuropa offenbar besonders günstig, in anderen Regionen erst später bzw. gar nicht.
Galor meint mit dem Konzept genetischer Diversität natürlich keine „Rassentheorie“ und befürwortet auch keine Politik genetischer Selektion:
Er weist nur darauf hin, dass vor Jahrzehntausenden stattgefundene Wanderungen noch heute Folgen für das Wirtschaftsleben haben können. Aus Galors Analysen sich ableitende Politikempfehlungen zielen viel eher auf eine möglichst gute Bildung der Menschen.
In einer so gedrängten Skizze ist die Erklärung einer so komplexen und mathematisierten Theorie natürlich eigentlich unmöglich. Man sollte sich daher intensiver mit den verlinkten Quellen beschäftigen. Oder gar sein Buch lesen.
Uber und Lyft wollen unbedingt Sonderregelung für Gig-Worker
piqer:
Ole Wintermann
In Kalifornien wurde in diesen Tagen zeitgleich zur Wahl des US-Präsidenten über eine Gesetzesinitiative (“Proposition 22”) abgestimmt, die Auswirkungen selbst auf die Regularien der Europäischen Union haben dürfte.
Im Jahre 2019 wurde in Kalifornien auf Initiative der Gewerkschaften die “Assembly Bill 5” verabschiedet, die vorsieht, dass eine deutlich höhere Zahl von “Gig-Workern” zukünftig denselben sozialen Schutz garantiert bekommt wie „normale“ Angestellte. Als Reaktion auf diese Vorschrift haben Unternehmen wie Uber, Lyft et al. 200 Millionen Dollar in eine Gegeninitiative investiert, die vorsieht, dass die für diese Plattform Tätigen auch in Zukunft als Selbständige und nicht als Angestellte behandelt werden.
Diese Unternehmen haben demnach für sich eine Sonderbehandlung reklamiert, um geringere Betriebskosten tragen zu müssen. Im Gegenzug haben die Unternehmen versprochen, 120% des gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohns zu zahlen und die Krankenversicherung der Selbständigen zu unterstützen. Der Haken an der Zusage: Sie gilt nur für aktive Zeiten, zu denen aber keine Wartezeiten für den nächsten Auftrag gelten und auch nur, wenn die wöchentliche Arbeitszeit 15 Stunden überschreitet. Gedroht wurde den Abstimmenden mit dem Rückzug der Dienste aus der Fläche.
Diese Aktion hat aber nicht nur eine inhaltlich umstrittene Dimension, sondern stellt auch demokratische Prozesse infrage:
“A win for the app-based companies has the potential to create a new campaign paradigm, with companies sidestepping government and spending large sums of money to sway voters with traditional advertisements and more unconventional direct marketing to customers.”
Stand heute (10.11.) führt die Unterstützer-Seite mit 58,4% der abgegebenen Stimmen. Ein Erfolg der Initiatoren sollte die politischen Entscheider in Brüssel zum Nachdenken bringen: In welcher Weise will man reagieren, wenn Unternehmen in Europa so offensichtlich in der Frage des Gig-Worker-Status versuchen würden, mit hohem finanziellen Aufwand Konsumenten gegen existierende gesetzliche Regularien zu mobilisieren?
Ist diese offene und aggressive Form des Lobbyismus schädlicher oder besser als die derzeitige intransparente Form des Lobbyismus?
Was will (und kann) Joe Biden fürs Klima tun?
piqer:
Alexandra Endres
Es stand noch nicht fest, dass er die Wahl gewonnen hatte, da kündigte Joe Biden bereits an: Die USA würden unter seiner Präsidentschaft wieder dem Paris-Abkommen beitreten – „in genau 77 Tagen“, wie er am 5. November twitterte, also gleich nach seiner Amtseinführung.
Weitere Versprechen des künftigen US-Präsidenten: Bis 2050 sollen die USA netto keine klimaschädlichen Emissionen mehr ausstoßen. Bis 2035 soll die gesamte Energieversorgung des Landes aus erneuerbaren Quellen gedeckt werden. Rund zwei Billionen Dollar will Biden in den Umbau der Wirtschaft investieren. (Bidens gesamter Klimaplan aus dem Wahlkampf ist hier zu lesen.)
Klar, dass Klimawissenschaftler weltweit hoffnungsvoll auf seinen Wahlsieg reagierten, so wie beispielsweise der renommierte US-Klimatologe Michael E. Mann im Gespräch mit dem britischen Channel 4, oder die beiden wissenschaftlichen Direktoren des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, Ottmar Edenhofer und Johann Rockström.
Edenhofer sprach von einer „beispiellosen Chance“. Rockström twitterte:
1.5°C within „striking distance“ if Biden pledge of net-zero 2050 is made true. The new G4 „Net-zero by 2050“ Club for Climate can get going (EU, China, US, Japan), with good chance of tipping the logic for all countries in the world.
Also: Hält Biden sein Versprechen, und die USA werden bis 2050 klimaneutral, dann rückt das 1,5-Grad-Ziel greifbar nah. Das hat die NGO Climate Action Tracker ausgerechnet, auf die Rockström sich indirekt (via CNN) bezieht.
Zwar kommt es auch darauf an, dass die EU, China, Japan und andere große Emittenten so mitziehen, wie sie es bereits angekündigt haben. Aber die Welt braucht eben auch die USA, um die Chance zu haben, mit einer nennenswerten Wahrscheinlichkeit unter 1,5 Grad zu bleiben.
Vielleicht deshalb ließ Christiana Figueres, ehemalige Generalsekretärin des UN-Klimasekretariats und 2015 in dieser Funktion maßgeblich am Zustandekommen des Pariser Abkommens beteiligt, angesichts der Nachricht von Bidens Wahlsieg jede diplomatische Zurückhaltung fahren und führte einen kleinen Freudentanz auf, den sie sogleich twitterte: „Sorry, no containment today!“
Und das World Resources Institute in Washington, D.C. schlug gleich zehn Prioritäten für eine Bidensche Klimapolitik vor.
Die entscheidende Frage wird aber sein: Kann der künftige US-Präsident überhaupt umsetzen, was er sich vorgenommen hat? Kurt Stukenberg gibt bei Spiegel Online eine kurze Übersicht samt Einordnung dazu. Er schreibt: Biden hat im Wahlkampf
das ambitionierteste Klimaprogramm versprochen, das je von einem Präsidentschaftskandidaten vorgelegt wurde. Allerdings ist fraglich, ob nennenswerte Teile davon wirklich umgesetzt werden, ob die große amerikanische Klimawende kommt.
Kurz gesagt ist Bidens Problem, dass er auf die Mitwirkung des Kongresses angewiesen ist. Die Mehrheitsverhältnisse dort werden sich aber erst im Januar entscheiden. Zwar kann Biden ohne den Senat bestimmte Umweltauflagen wieder einführen. Doch die New York Times stellt im hier gepiqten Text fest:
If Mr. Biden wins the White House but Republicans hold Senate control, Mr. Biden’s loftiest climate pledges will certainly die.
In that scenario, “All Biden can try to do is cobble back together the Obama environmental agenda,” said Douglas Brinkley, a historian who focuses on presidents’ environmental legacies. That would include, he said, rejoining the international Paris accords — the agreement between nations to fight climate change, which President Trump is withdrawing from — and reinstating Obama-era climate regulations. And with a 6-3 conservative majority on the Supreme Court, even that could be thwarted.
Die New York Times beleuchtet Bidens Möglichkeiten und die möglichen Stimmverhältnisse im Senat recht ausführlich. Die Quintessenz: Ohne ein Klimagesetz, das vom Parlament bestätigt werden müsste, wird es für die USA schwierig werden, ihren Beitrag zur Einhaltung des Pariser Klimaabkommens zu leisten.
The rest of the world will be watching.
(…) Laurence Tubiana, who served as France’s chief climate ambassador during the 2015 Paris negotiations ( ..) said, spending money and reinstating rules will not be enough to meet the emission reductions needed from the world’s largest economy, nor will that secure the global influence the United States once had. For that, she said, “it will be essential to have a law.”
Ist der Atomausstieg doch keine Lösung?
piqer:
Sven Prange
Ich habe selber zwei Mal hinschauen müssen, um die Wirklichkeit an dieser Stelle zu akzeptieren: Die Erzählung vom Atomausstieg als einzig nachhaltiger Schritt in die Energiezukunft ist eine sehr deutsche Erzählung. Sie hat sehr viele Anhänger in Deutschland und Österreich. Und sonst an nicht sehr vielen anderen Plätzen auf der Welt. Das ist die Grundlage, auf der auch in Deutschland immer wieder Stimmen argumentieren: Der Atomausstieg ist vor dem Hintergrund der Klimaziele ein Irrweg. Und ein deutscher Sonderweg. Die Lösung für eine klimaschonende Energiepolitik der Zukunft liege im Atom. Aber stimmt das?
Was stimmt: Die Atomenergie ist, auch aufs Ganze gerechnet, deutlich CO2-sparender als die in Deutschland eingeplanten Braunkohlekraftwerke. Und wohl auch als Gas, aber das ist schon nicht so unumstritten. Was auch stimmt: Viele Länder in der Welt setzen eher auf Ausbau statt Ausstieg in Sachen Atomenergie. Boris Johnson träumt beispielsweise von Mini-Nuklearkraftwerken und auf anderen Kontinenten bauen sie ohnehin Atomreaktoren, als gäbe es die Probleme mit der aktuellen Generation nicht.
Dieser Argumentation geht der hier geqipte Film nach. Und doch räumt er, zumindest bei mir, nicht mit dem Gefühl auf: Der Atomausstieg ist richtig. Weil die Frage des Atommülls ungelöst ist, weil die Kosten deutlich höher sind als beim Ausbau erneuerbarer Energien – und weil viele der Technologien, die derzeit von Atombefürwortern als Zukunftslösungen propagiert werden, allenfalls solche sind, wenn man Zukunft sehr weitläufig definiert. Denn wirklich erprobt ist kaum etwas davon.
Solidarność: Was ist aus der Solidarität in Polen geworden?
piqer:
Ulrich Krökel
Vor 40 Jahren, am 10. November 1980, erkannte die Regierung in Warschau die Gründung der ersten freien Gewerkschaft in der Volksrepublik Polen an. Ohne die Solidarność (Solidarität) und den charismatischen Streikführer Lech Wałęsa wäre die Geschichte des Landes sicher anders verlaufen. Wałęsa, Friedensnobelpreisträger von 1983, war später erster Präsident des postkommunistischen Polens. Dass die Solidarność mit ihren zeitweise zehn Millionen Mitgliedern aber weit mehr war als Wałęsa und auch mehr als eine Gewerkschafts- und Freiheitsbewegung, führen Anja Schrum und Ernst-Ludwig von Aster in einem großartigen Reportage-Podcast der nicht weniger großartigen DLF-Reihe Gesichter Europas vor, die ich hier verlinkt habe.
Der Titel „Auf der Suche nach der Solidarität“ lässt bereits erkennen, worum es geht: Von Aster und Schrum spüren nicht nur den historischen Ursprüngen der Bewegung nach, sondern vor allem dem Erbe der Solidarność und damit auch der Bedeutung von Solidarität und Zusammenhalt in der polnischen Gesellschaft des Jahres 2020, die als ähnlich gespalten gilt wie die US-amerikanische. Man denke nur an den jüngsten Streit über eine weitere Verschärfung des Abtreibungsrechts. Dass es um etwas sehr Grundsätzliches geht, zeigt die Gegenüberstellung der Erinnerungen der Solidarność-Veteranin Małgorzata Niesobska-Urbaniak mit den Erfahrungen, die Agnieszka Mróz als Gewerkschaftsgründerin bei Amazon in Posen macht:
Als Arbeitsschutzkontrolleurin ist die 26-jährige Niesobska-Urbaniak [im Sommer 1980] für die Stettiner Baustellen zuständig. Es war eine graue Zeit, erinnert sich mit ihren heute 66 Jahren]. Die Regale in den Geschäften sind leer, manchmal fehlt sogar Brot, der Schwarzmarkt blüht, wer kann, besorgt sich Lebensmittel auf dem Land. […] Als auf der Stettiner Werft der Solidarność-Streik ausgerufen wird, organisiert Niesobska-Urbaniak den Ausstand auf den Baustellen. Ob alt oder jung, alle machten mit, erinnert sie sich: „Ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn ich daran denke. Was das für eine Atmosphäre war. Das war der reine Wahnsinn.“
Von überbordender Solidarität und Gänsehautgefühlen ist bei der Gewerkschaftsarbeit von Agnieszka Mróz wenig zu spüren:
Zehn-Stunden-Tage, Schichtdienst, Zeitverträge, Kameraüberwachung, permanente Leistungskontrolle und Bruttostundenlöhne leicht über dem Mindestlohn, zwischen 4,50 Euro und fünf Euro: Gewerkschaftsarbeit ist in der Betriebsphilosophie des Weltkonzerns Amazon nicht vorgesehen, sagt Agnieszka Mróz. Sie und einige ihrer Kollegen wollten das ändern und gründeten in Posen einen Ableger der Inicjatywa Pracownicza (IP), zu Deutsch: Arbeiterinitiative, eine Basisgewerkschaft, die vor Ort versucht, Arbeiter und Arbeiterinnen zu organisieren und dabei auf einen bürokratischen Überbau verzichtet. Von Arbeitern mit Arbeitern für Arbeiter: Das ist die Idee. […] 700 Mitglieder hat die IP in den elf polnischen Amazon-Werken, fünf Prozent der Belegschaft, [in der] die Fluktuation und der Anteil von Zeitarbeitern hoch sind.
Es ist kein Zufall, dass mit Niesobska-Urbaniak und Mróz hier zwei Frauen zu Wort kommen. Ohne es groß zu betonen, zeichnen Schrum und von Aster ein eher weiblich geprägtes Bild der Solidarność-Geschichte und ergänzen damit die üblichen Wałęsa-Erzählungen. Auch das erfrischt und macht den Podcast sehr hörenswert.
Viele Europäer sind Westler, damit WEIRD und etwas „seltsam“
piqer:
Thomas Wahl
Der Economist rezensiert eine spannende Analyse über uns WEIRD-Bürger im industrialisierten Westen der Welt. Mit WEIRD meint Joseph Henrich in seinem Buch „The Weirdest People in the World: How the West Became Psychologically Peculiar and Particularly Prosperous“ auch uns Westeuropäer – Western, Educated, Industrialized, Rich and Democratic. Damit unterscheiden wir uns in unseren psychologischen Eigenarten und in unserem Verhalten mehr oder weniger deutlich vom großen Rest der Menschheit – wir sind positioniert am extremen Rand der Verteilungskurve menschlichen Verhaltens. Gleich in der Einleitung seines Buches hält Henrich über unser Wissen zur Verhaltenspsychologie fest:
1. Massively biased samples: Most of what was known experimentally about human psychology and behavior was based on studies with undergraduates from Western societies. At the time, 96 percent of experimental participants were drawn from ,northern Europe, North America, or Australia, and about 70 percent of these were American undergraduates.
2. Psychological diversity: Psychological differences between populations appeared in many important domains, indicating much greater variation than one might expect from reading the textbooks or major journals in either psychology or behavioral economics.
3. Psychological peculiarity: When cross-cultural data were available from multiple populations, Western samples typically anchored the extreme end of the distribution. They were psychologically weird.
Was WEIRD-Gesellschaften stark macht, ist der Glaube der Bürger an die Rechtsstaatlichkeit (trotz der Möglichkeit der persönlichen Bestrafung), die Offenheit für Experimente in Wissenschaft und Gesellschaft und die Bereitschaft, Fremden zu vertrauen – seien es Politiker oder Geschäftspartner. Aber etwas Paradoxerweise ist die andere Seite der Medaille, wie Henrich schreibt:
WEIRD people are highly individualistic, self-obsessed, control-oriented, nonconformist, and analytical. We focus on ourselves—our attributes, accomplishments, and aspirations—over our relationships and social roles. We aim to be “ourselves” across contexts and see inconsistencies in others as hypocrisy rather than flexibility.
Wir „Westler“ sind im Durchschnitt also individualistischer und unabhängiger gegenüber der Großfamilie. Was wahrscheinlich die römische Kirche durch das Verbot der Eheschließung von Verwandten mit verursacht hat, wie wir aus den Versuchen, Demokratie zu exportieren, wissen können – etwa in Afghanistan: Die Landbevölkerung dort versteht nicht, wie man jemanden wählen könnte, der nicht zur eigenen Großfamilie gehört.
Viele Ethnien verstehen auch nicht, dass Verbrechen unabhängig von den sozialen Beziehungen gleich behandelt werden können. Im mittelalterlichen China etwa wurde das Töten eines Familienmitgliedes anders gewertet als das eines Fremden. Könnte es sein, dass unsere Werte nicht ganz so universalistisch sind, wie wir meinen? Sicher leben die Bürger des Westens auch nicht überall in reinen WEIRD-Gesellschaften. Eher wie der Economist in seiner Rezension zum Buch schreibt:
Hundreds of millions of people live neither in atomistic weird-land nor in kin-obsessed pre-modern societies, but in an interesting limbo, sometimes dynamically and sometimes tragically. Think, say, of a family from a poor, remote part of south-eastern Europe, whose younger members are working and raising children in assorted European cities, while their elders keep the home fires burning in the village. An extraordinary range of roles and attitudes co-exist in three generations.
Das ist sicher ein Grund für manche unserer Probleme in der Europäischen Union – die kulturellen Prägungen und damit unterschiedliche sozialpsychologische Verhaltensweisen, Werte und Wertungen sind immer noch spürbar und wirkmächtig. Wir sollten sie kennen, akzeptieren und in Kompromissen (jedenfalls nicht mit Gewalt) Lösungen finden. Davor müsste allerdings jede Volksgruppe ihre historisch gewachsenen Eigenarten realistischer sehen und vielleicht das Selbstbild mal renovieren. Also Joseph Henrich lesen …
Schwebebahnen mit KI sollen Verkehrsprobleme lösen
piqer:
IE9 Magazin
In der Stadt kann es im Berufsverkehr ziemlich eng werden. Nicht nur in großen Metropolen, sondern auch in Mittelstädten – und das selbst (oder gerade) in Corona-Zeiten. Eine Möglichkeit, das zu ändern, wäre es, schnelle und flexible Alternativen zum Auto anzubieten. An genau so einer arbeitet das Start-up Ottobahn aus München. Im Grunde ist dessen Idee eine Schwebebahn – jedoch mit kleinen Kapseln, die einfach per Smartphone bestellt werden und Passagiere fast überall abholen können.
Die Kapseln, die für bis zu vier Personen oder eine Tonne Fracht Platz bieten, sollen nicht fest auf dem Schienennetz sitzen, sondern von Hebevorrichtungen auf- und abgenommen werden können. Je nachdem, wie gerade der Bedarf ausfällt. Die kleinen Kapseln sollen durch ein durchdachtes Netz, vor allem aber durch ein ausgeklügeltes Leit- und Steuersystem und eine nutzerfreundliche App genau dort unterwegs sein, wo sie gebraucht werden.
Die Technik hinter der Ottobahn ist nicht revolutionär, aber clever kombiniert: Elektromotoren, Fahrstuhltechnik und Akkumulatoren, all das sind für sich genommen bewährte Teile. Dass die gut zusammen funktionieren, zeigt Ottobahn bereits im eigenen Büro. Denn dort dreht ein Prototyp seine Runden. Was die Schwebebahn letztlich besonders mache, sei die Software, sagt der Geschäftsführer Marc Schindler.
„Die Effizienz des Systems kommt aus der Softwaresteuerung“, sagt Schindler. „Alle Kabinen stimmen ihre Fahrwege KI-gestützt untereinander ab.“ Tausende Kapseln sollen von intelligenten Algorithmen in Echtzeit so koordiniert werden, dass jede von ihnen immer freie Fahrt hat. Dabei sollen auch Not- und Ausfälle mit einberechnet und das Netz auf möglichst „hohe Energieeffizienz gefahren“ werden. Die Softwareplattform, die das alles möglich macht, sei die eigentliche Herausforderung und Leistung bei der Entwicklung. Wie Gründer Marc Schindler sagt, würde sich das Ottobahn-Team daher selbst eher „als Softwarefirma verstehen“ denn als Mobilitäts- oder Ingenieursunternehmen.
Die Ottobahn könnte schnell Wirklichkeit werden
Laut dem Ottobahn-Team ist die futuristische Schwebebahn keine Zukunftsmusik, sondern könnte in weniger als zwei Jahren serienreif werden. Bereits 2023 könnten die ersten Strecken aufgebaut und in Betrieb genommen werden. Schon 20 Anfragen gebe es von potentiellen Kunden, sagt das Start-up. Auch in Deutschland könnte eine Strecke entstehen – nämlich zwischen Dachau und dem Münchner Stadtteil Moosach.
Schindler glaubt, dass die Ottobahn im Münchner Norden den Autoverkehr und auch den bestehenden Öffentlichen Personennahverkehr stark entlasten könnte – und das ziemlich schnell. „Sobald die Technologie serienreif ist, können wir eine solche Strecke in weniger als zwei Jahren aufbauen und in Betrieb nehmen“, sagt er. „Mitte 2024 ist möglich.“ Dazu könnte eine Fahrt in der Gondel weit günstiger angeboten werden als in S- und U-Bahn oder Tram. Die Verantwortlichen für den Münchner Nahverkehr wollen sich Ende November davon überzeugen und selbst im Büro von Ottobahn den Prototypen ausprobieren und sich das komplexe System hinter der Schwebebahn erklären lassen.
Äthiopien auf dem Weg in den Bürgerkrieg
piqer:
RiffReporter
Äthiopien steht am Rande eines Bürgerkriegs. Die Kriegserklärung kam via Facebook. Gegen zwei Uhr morgens hatte Premierminister Abiy Ahmed Ali am Mittwoch dort eine einschneidende Entscheidung bekannt gegeben: „Die äthiopischen Verteidigungskräfte, die von einem Kommandoposten geleitet werden, sind mit der Aufgabe betreut worden, das Land zu retten“, schrieb er. Die Regionalregierung von Tigray habe „eine rote Linie überschritten“, und er habe den äthiopischen Truppen befohlen, zu handeln. „Ich fordere die Äthiopier dazu auf, ruhig zu bleiben, in höchster Alarmbereitschaft zu sein und die militärischen Anstrengungen zu unterstützen.“
Am Mittwochmorgen berichtete der BBC-Journalist Girmay Gebru dann von Gewehrsalven in Mekelle, der Hauptstadt der Region Tigray im Norden Äthiopiens. Der Reporter des Tigrinya-sprachigen BBC-Programms hatte die Schüsse im Hintergrund gehört, während er einen Verwandten in Mekelle, 700 Kilometer von der Hauptstadt Addis Abeba entfernt, telefonisch zur Lage in Tigray befragte. Abgesehen von solchen privaten Kontakten scheint es derzeit wenig Informationsmöglichkeiten zu geben. Wie die BBC und die südafrikanische Zeitung „Mail & Guardian“ berichten, hat die äthiopische Zentralregierung das Internet blockiert und offenbar zumindest teilweise Strom und Telefon abgestellt.
Etwas später am Mittwoch ordnete Abiy eine Militäroffensive gegen die Regionalregierung von Tigray an, als Vergeltung für die Eroberung einer Militärbasis durch militärische Kräfte, die der Regionalregierung nahe stehen. Wie die BBC berichtet, beschuldigt Abiy die dortige Regierungspartei TPLF (Befreiungsfront des Volkes von Tigray), den Angriff ausgeführt zu haben. Später erklärte er in einer Fernsehansprache, es habe viele Tote, Verwundete und materielle Verluste gegeben. Die TPLF habe sich des „Verrats“ schuldig gemacht.
Premierminister Abiy Ahmed ist Friedensnobelpreisträger. Die Auszeichnung erhielt er, weil er im Juli 2018 einen Friedensvertrag mit dem benachbarten Eritrea schloss. Das Abkommen beendete einen jahrzehntelangen Grenzkonflikt, dem zwischen 1998 und 2000 etwa 70.000 Menschen zum Opfer fielen.
Wie die Situation in Äthiopien derart eskalieren konnte, trotz eines Premierministers der als progressiv und Hoffnungsträger galt, erläutert Bettina Rühl in diesem Hintergrundartikel.
„Neun Minuten“ – Was geschah am 2. November in Wien?
piqer:
Simone Brunner
Vor einer Woche erlebte Wien den ersten großen radikalislamistischen Anschlag seiner jüngeren Zeit. Am Montag, den 2. November, um etwa 20 Uhr am Abend gingen die ersten Notrufe bei der Wiener Polizei ein. Schüsse in der Innenstadt. Mehrere Tote, mehrere Verletzte.
Neun Minuten dauerte es vom Eingang der ersten Notrufe bei der Polizei, bis der Attentäter von der Polizei erschossen wurde. Was geschah in diesen neun Minuten? Eine kurze Zeitspanne, die doch eine Ewigkeit sein kann. Drei Studenten hatten da im berühmten Ausgehviertel Bermudadreieck gerade ihre Zigaretten in den Aschenbecher ausgedrückt. Zuerst glaubten die Barbesucher, hier schieße jemand Silvesterböller. Doch Miro Grujić verstand sofort. „In Bosnien, seiner alten Heimat, wurde er mit dem Geräusch, das eine Kalaschnikow abgibt, vertraut“, heißt es in diesem Text.
Die österreichische Tageszeitung Standard hat die Ereignisse des Abends in diesem außergewöhnlich detaillierten, mitreißenden und auch beklemmenden Text versucht, nachzuzeichnen. Vanessa Gaigg, Katharina Mittelstaedt, Johannes Pucher und Fabian Sommavilla haben mit Augenzeugen gesprochen, Bewährungshelfer getroffen, die Biografie des Täter nachgezeichnet.
Während in Österreich die Aufregung – meiner Ansicht völlig zu Recht – über Boulevard-Fernsehsender groß ist, die einfach grausame Videos der Taten On Air gestellt haben, zeigt dieses Stück Journalismus, was Trash- oder Krawallsender eben nicht können: diese tragischen Ereignisse mitfühlend nachzeichnen, ohne reißerisch zu sein oder dem Täter eine Bühne zu bieten. Eine traurige, rührende, wie auch (ja, dazu muss man den Text zu Ende lesen) hoffnungmachende Lektüre, trotz allem. Unbedingt lesen!