Fremde Federn

Schreckgespenst Geldpolitik, 30 Jahre Einheit, EU-Agrarpolitik

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Auf welche Weise die großen Zentralbanken auf ein verändertes Umfeld reagieren, wie die deutsche und die europäische Einigung zusammenhängen und was sich aus der Wirtschaftsgeschichte der DDR lernen lässt.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Zentralbanken im Revolutionsmodus

piqer:
Jürgen Klute

Die Geldpolitik der EZB steht insbesondere in der Bundesrepublik stark in der Kritik. Nun kommen noch die durch die Corona-Krise angestoßenen, hohen Staatsausgaben dazu. Bei manchen Zeitgenossen löst diese Entwicklung Inflationsängste aus.

Der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze sieht das ganz anders. Er vertritt die These, dass sich gegenwärtig das Modell der Zentralbankpolitik auf globaler Ebene ändert.

Tooze erinnert in diesem Artikel, der ursprünglich im britischen Guardian erschien und dessen deutschsprachige Übersetzung Der Freitag veröffentlicht hat, daran, dass das heutige Politikmodell der Zentralbanken in den 1970er Jahren entwickelt wurde. Damals gab es eine deutlich höhere Inflation in vielen Industrieländern als es heute der Fall ist. Tooze erklärt das mit der relativen Knappheit an Arbeitskräften, die den Gewerkschaften seinerzeit eine erheblich höhere Verhandlungsmacht gab, als sie sie heute haben. Die in Folge dieser Verhandlungsmacht durchgesetzten Lohnerhöhungen waren eine wesentliche Treibkraft für die Inflation. Die Zentralbanken reagierten nach Tooze drauf mit Zinserhöhungen, die sich nach und nach in steigender Arbeitslosigkeit niederschlugen und die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften entsprechend reduzierten.

In den 1990er Jahren trat nach Tooze an die Stelle inflationärer Entwicklungen die Gefahr einer Deflation. Die Bekämpfung einer Deflation erfordert jedoch ein anderes Politikmodell der Zentralbanken. Aus der Perspektive dieser These analysiert Tooze in seinem Artikel die aktuellen Entwicklungen der Zentralbanken der wirtschaftlich wichtigsten Länder und ordnet die Geldpolitik der Zentralbanken in einen historischen Kontext ein. Diese historische Einordnung der Politikmodelle der Zentralbanken lässt ihr heutiges Agieren in einem anderen Licht und durchaus plausibel erscheinen, was im Blick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zu den EZB-Anleiheaufkäufen erhellend ist. Wobei die Analyse von Tooze dem BVerfG wohl eher nicht gefallen dürfte.

Trotz der schlüssigen Argumentation von Tooze bleibt aus meiner Sicht eine Frage offen: nämlich die, ob die Schwächung der Verhandlungsmacht der Gewerkschaften und die daraus resultierende Unterbindung inflationärer Entwicklungen allein auf die Zinspolitik der Zentralbanken zurückzuführen ist. Etwa zeitgleich begannen die durch die Informationstechnologie ausgelösten Automatisierungsschübe in der klassischen Industrie, die zu einer umfassenden De-Industriealisierung geführt haben und zum Abbau von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen.

Im Blick auf die veränderten Herausforderungen, vor denen Zentralbanken – auch infolge der Digitalisierung – heute stehen, spielt diese Frage allerdings nur eine untergeordnete Rolle. Denn dass Zentralbanken heute vor anderen Herausforderungen stehen als in den 1970er Jahren und sie daher ihre Politikmodelle revidieren müssen, hat Tooze nachvollziehbar dargelegt.

Eine kleine Geschichte der DDR-Wirtschaft

piqer:
Thomas Wahl

Ich hatte mir vorgenommen, zum 30. Jahrestag des Verschwindens der DDR-Volkswirtschaft eine kleine Rezension zu schreiben über Andre Steiners Buch Von Plan zu Plan, eine der wenigen umfassenden und lesenswerten Publikationen zur Wirtschaftsgeschichte der DDR. Leider ist das Buch (zumindest auf Deutsch) ausverkauft und nicht neu verlegt. Was auch einiges aussagt über das Interesse an dem, wie die DDR funktioniert hat. Ich behelfe mir daher mit einer früheren Rezension des Buches und anderen Artikeln von A. Steiner. Antiquarisch ist das Buch noch erhältlich.

Ein Land ohne Kapitalisten, ohne besonders Reiche, ohne Profitstreben und „wohl geplant“ im Interesse des Volkes – man sollte meinen, dass dies ein bevorzugtes Studienprojekt aller Linken wäre. Die damalige sowjetische Besatzungszone war bereits vor dem Krieg hoch industrialisiert, mit einer erfahrenen Arbeiterklasse. An sich gute Voraussetzungen für ein Sozialismusexperiment. Für Steiner konstituierte allerdings die Wechselwirkung von Wirtschaftssystem und Wirtschaftspolitik einen „politisch induzierten Krisenzyklus“ – von Plan zu Plan:

Diese Planwirtschaft war bewusst als Gegenmodell zum liberalen und marktverfassten System geschaffen worden. Die nach dem Krieg nicht nur im Osten anzutreffende Faszination durch die Planwirtschaft beruhte vor allem auf den historischen Erfahrungen mit den wirtschaftlichen Turbulenzen der Zwischenkriegszeit, insbesondere mit der Weltwirtschaftskrise der frühen 30er Jahre, und deren politischen und sozialen Folgen. Jedoch hatte die Planwirtschaft grundlegende, systemimmanente Anreiz-, Informations- und Innovationsprobleme, die die wirtschaftliche Entwicklung der DDR wesentlich bestimmten: Zum einen kämpfte man mit der Schwierigkeit, den Betrieben und den Beschäftigten adäquate Anreize zu schaffen, um die Effizienz der Produktion zu steigern. Zum anderen ergab sich bei dem Versuch der Steuerung einer gesamten Volkswirtschaft ein gravierendes Informationsproblem. Auch diese beiden Momente führten zu einer systemimmanenten Innovationsschwäche.

Am 17. Juni 1953 erlitt diese Wirtschaftspolitik ihre erste nachhaltige Niederlage. Die Folge war ein defensives Denken in der Führung. Um die politische Stabilität zu sichern, gingen relativ viele Ressourcen in Löhne und Sozialpolitik – zu Lasten wichtiger Investitionen. 1961 wurde die Mauer errichtet. Die massenhafte Abwanderung von qualifizierten Arbeitskräften in die wohlhabendere Bundesrepublik drohte, die DDR-Wirtschaft zu erdrücken. 1963 startete Ulbricht dann ein Reformprojekt, das durch marktwirtschaftliche Elemente (Eigenständigkeit, -verantwortung der Unternehmen, Dezentralisierung, Leistungsboni) das Wachstum stimulieren sollte. Dieses „Neue Ökonomische System“

führte trotz zwischenzeitlicher Erfolge wiederum von einer Überschätzung des Systempotenzials in eine Überspannung der Kräfte. Die technologisch-strukturpolitische Orientierung der späten 1960er-Jahre war zwar, wie Steiner zu Recht hervorhebt (S. 161), grundsätzlich dem Entwicklungsstand der ostdeutschen Volkswirtschaft angemessen. Sobald dieses Wachstumsmodell aber aus dem Ruder zu laufen drohte, reagierte das politische System mit einem Schwenk, der die nächste Krise vorprogrammierte. Das Reformjahrzehnt wurde 1970/71 nicht nur mit einer Rückkehr zum alten Planungsmodell beendet, sondern auch mit dem Übergang zu einer Sozial- und Konsumpolitik, die die wirtschaftlichen Leistungsmöglichkeiten weitgehend ignorierte.

Steiner weist auch auf die relativen Erfolge der DDR-Wirtschaft in den 60er und 70er Jahren hin. Zwischenzeitlich wurden beachtliche Wachstumsraten erreicht, Industrie und  Landwirtschaft modernisiert und der Lebensstandard spürbar erhöht. Aber die

Fixierung auf eine materielle Beschwichtigung der Menschen sollte sich in der Ära Honecker … zunehmend gegen das System selbst richten. Denn die verkündete ,,Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ erwies sich unter den veränderten Bedingungen der Weltwirtschaft ab Mitte der 70er Jahre zunehmend als nicht mehr finanzierbar. Auf der einen Seite stiegen die Sozial- und Konsumausgaben des Staates sowie die Weltrohstoffpreise stetig an, auf der anderen Seite verloren die DDR-Exportindustrien wegen des informationstechnischen Vorsprungs des Westens immer mehr ihrer Weltmarktanteile. Diese auseinander klaffende Schere führte die DDR in die Schuldenkrise.

Diese Geschichte zeigt m. E. deutlich die Probleme der direkten politischen Steuerung einer Volkswirtschaft.

Die Treuhandanstalt – politisches und wirtschaftliches Kalkül der Wiedervereinigung

piqer:
Maximilian Rosch

Die Treuhandanstalt hat die Leben Millionen ehemaliger DDR-Bürger bestimmt. Sie „sollte die Umstrukturierung der ostdeutschen Wirtschaft im Rahmen der Wiedervereinigung organisieren.“ So weit, so bekannt. Am 31. Dezember 1994 beendete sie ihre Arbeit und wurde in „Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben“ umbenannt. Bis dahin hatte sie

  • 6546 Betriebe vollständig oder mehrheitlich privatisiert,
  • 3718 Betriebe liquidiert,
  • 1588 Betriebe reprivatisiert und
  • 310 Betriebe kommunalisiert (bpb.de, wie auch die weiteren genannten Zahlen).

Etwa 2,6 Mio. Menschen verloren im Zuge der Umstrukturierungen ihre Jobs, der Staat verlor weit über 100 Mrd. Euro. Ich hätte mir gewünscht, hierüber in meiner Schulzeit viel mehr zu erfahren (Abi 2012, Thüringen). Zumal einer der Präsidenten der Treuhand, Detlev Karsten Rohwedder, auch noch in meiner Heimatstadt geboren ist.

Durch verschiedene Hinweise bin ich auf die unten verlinkte ZDF-Doku gestoßen, in der es um die Hintergründe des tödlichen Attentats auf Rohwedder geht. Zwar bekannte sich die RAF dazu, aufgeklärt wurde es jedoch nie richtig. Rohwedder wurde am 1. April 1991 erschossen.

Nachfolgerin wurde die CDU-Politikerin Birgit Breuel, die einen deutlich rigoroseren Kurs verfolgte. Während Rohwedder den Ansatz verfolgte, erst zu sanieren und dann zu privatisieren, lief es unter Breuel umgekehrt. Edgar Most, ehemals im Vorstand der Deutschen Bank und 2015 verstorben, beschrieb die Treuhand in seinem letzten Interview als „eine einzige Schweinerei„, eine Einschätzung der skandalumwitterten Anstalt, der sich wohl viele anschließen würden.

Hier noch einige weiterführende Links:

 

Warum die neue GAP so wichtig fürs Klima ist

piqer:
Leonie Sontheimer

Nächste Woche ist eine wichtige Woche fürs Klima: Am Montag, den 12. Oktober, berät das Europäischen Parlamentes über die zukünftigen Agrarsubventionen. Ein riesiges Budget:

Jeder dritte Euro des EU-Budgets geht an Bauern, jährlich sind es rund sechs Milliarden Euro allein in Deutschland, 60 Milliarden Euro in der EU.

Das Besondere an der GAP (das steht für Gemeinsame Agrarpolitik): Sie gilt jeweils für sieben Jahre. Wenn wir es bis 2030 schaffen wollen, die Treibhausgas-Emissionen um 55 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren, muss auch in der Landwirtschaft einiges geschehen. (7,4 Prozent der gesamten jährlichen Treibhausgas-Emissionen entfallen in Deutschland auf die Landwirtschaft. Die Prozente bei Methan und Lachgas liegen weit über 50 Prozent.) Und die Weichen dafür müssen jetzt gestellt werden.

Nun schreiben jedoch Annika Joeres und Katarina Huth aus der Klimaredaktion von CORRECTIV: „Die bisherige Klima-Bilanz der Agrarsubventionen ist verheerend.“ Und erklären, wie das sein kann:

Die Greening-Prämie spart kaum eine Tonne CO2. Und die zweite Säule, das grüne Gewissen der EU, vergibt manchmal Subventionen – auf legale Weise – für Brücken und Parkplätze.

Der Beitrag erklärt diese Begriffe, die großen Zusammenhänge anhand von kleinen Beispielen und schlägt auch – vom Layout hübsch hervorgehoben – Lösungen vor.

Der CO2-Fußabdruck ist eine Erfindung der Fossilindustrie

piqer:
Ralph Diermann

Na, schon deinen CO2-Fußabdruck ausgerechnet? Umweltbundesamt, WWF und viele andere Klimaschutz-Organisationen haben Online-Tools erstellt, mit denen man schnell und einfach ermitteln kann, zu welchen Treibhausgas-Emissionen das eigene Konsum- und Mobilitätsverhalten führt. Das soll vor Augen führen, wo die stärksten Hebel für die Minderung des eigenen CO2-Ausstoßes sind.

Und schon bist du einem PR-Trick von BP auf den Leim gegangen, schreibt Autor Mark Kaufman auf Mashable – das Instrument ist nämlich seiner Recherche zufolge eine Erfindung der Werbeagentur Ogilvy & Mather, die dazu vom Öl- und Gaskonzern beauftragt wurde. Der 2004 online gestellte „Carbon Footprint Calculator“ verlagert die Verantwortung für die Erderwärmung nämlich weg von der Fossilindustrie hin zu den Bürgern, argumentiert Kaufman. BP wäscht sich und die ganze Branche damit rein: Schuld am Klimawandel sind nicht die Öl- und Gaskonzerne, die fröhlich weiter neue Lagerstätten erschließen, sondern die Bürger – der CO2-Fußabdruck drückt das für jeden einzelnen Menschen in einer Zahl aus.

Was natürlich nicht heißt, dass es nicht sinnvoll ist, sich die Klimawirkung des eigenen Verhaltens vor Augen zu führen, gerne auch mit einem Carbon Footprint Calculator. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Klimaschutz in erster Linie eine politisch-gesellschaftliche Aufgabe ist.

Bauen private Firmen als erste ein Kernfusionskraftwerk?

piqer:
Hristio Boytchev

Der alte Witz zur Kernfusion geht so, dass sie angeblich in ein paar Jahrzehnten marktfähig sein wird, egal wann man fragt. Das scheint für das multinationale, staatliche ITER-Projekt in Frankreich zuzutreffen, das sich immer länger hinzieht und teurer wird.

In den letzten Jahren ist aber viel Bewegung durch kleinere private Vorhaben gekommen. Der Artikel berichtet von einem Ansatz, der in etwa zehn Jahren Strom produzieren soll. Er baut auf anderen Technologien als ITER auf und hat kürzlich seine wissenschaftliche Plausibilität dargelegt. Auch wenn die Versprechen mit Vorsicht zu genießen sind, bleibt das eine Entwicklung, die man beobachten sollte.

Hier zur Einordnung noch ein guter Überblicksartikel im „Economist“ und ein kritischer Bericht zu ITER in der „taz“ (und hier auf Piqd).

Nun aber los! – Habermas zu Korrekturen in Deutschland und der EU

piqer:
Achim Engelberg

Als im September 2020 die dichte und überraschende Gegenwartsanalyse 30 Jahre danach: Die zweite Chance. Merkels europapolitische Kehrtwende und der innerdeutsche Vereinigungsprozess in den Blättern für deutsche und internationale Politik erschien, erkannten etliche den Gehalt. Es gab Artikel über den Artikel.

Disparates verbindet Jürgen Habermas, dessen Gedanken in den Blättern stets in lesbarem Deutsch publiziert werden: der Skandal um die Kurzzeitwahl eines FDP-Politikers als Thüringer Ministerpräsident mit Stimmen von Rechtsextremen und die Pandemiebekämpfung in der EU, wo erstmals gemeinsame Schulden aufgenommen worden sind, das Wechselspiel von deutscher Einheit und europäische Einigung.

Wenn wir heute, angesichts der Wiederbelebung der europäischen Dynamik, über drei Jahrzehnte hinweg eine Parallele zur anfänglichen Verbindung des deutschen mit dem europäischen Einigungsprozess aufzeigen möchten, müssen wir zunächst an die retardierenden Folgen erinnern, die die deutsche Einheit für die Europapolitik gehabt hat. Auch wenn die Wiederherstellung des deutschen Nationalstaates mit einem folgenreichen Integrationsschub durch den Verzicht auf die D-Mark gewissermaßen erkauft worden ist, hat sie die weitere Vertiefung der europäischen Kooperation nicht gerade befördert.

Habermas erläutert wie der Brexit die gemeinsame Schuldenaufnahme erst ermöglichte, gegen die sich Merkel und die CDU lange gestellt haben, er zeigt wie der Unvereinbarungsbeschluss, der Linke und Rechte hufeisennah zusammen sah, Politik erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht.

Mittlerweile gehe auch Merkel gegen die AfD vor:

Die Europakritik diente bei dieser, nun zusätzlich durch Flüchtlingskrise und Fremdenhass beschleunigten Amalgamierung von west- und ostdeutschen Protestwählern als Katalysator. Daher konnte sich der Konflikt zwischen CDU und AfD in jenem Augenblick verdichten, als sich der Europaabgeordnete Meuthen am 8. Juli 2020 im Straßburger Parlament erhob und der Kanzlerin – bei ihrer Vorstellung des Plans eines europäischen Aufbaufonds – die Argumente entgegenschleuderte, mit denen sie selbst ein Jahrzehnt lang die Krisenagenda von Schäubles Sparpolitik begründet hatte.

Damit berühren wir die Nahtstelle, an der sich heute der europäische und der innerdeutsche Einigungsprozess erneut treffen. Denn in solchen Veränderungen des parteipolitischen Spektrums spiegeln sich tiefer liegende Verschiebungen in den politischen Mentalitäten einer Bevölkerung.

Bei seinen Erläuterungen über Ostdeutschland korrigiert Jürgen Habermas eigene Ansichten aus den 1990er Jahren. Breiten Raum nehmen bei ihm die unterschiedlichen Erinnerungen und Prägungen in Ost und West. Scharf kritisiert Jürgen Habermas wie in der alten Bundesrepublik viele Schreibtischtäter und Henker trotz Auschwitzprozess u. a. wieder aufgestiegen sind, ein Kainsmal der Demokratie. Aber auch die fehlende politische Öffentlichkeit in der DDR erkennt er.

Weil sich 1945 an die eine Diktatur eine andere angeschlossen hat (wenn auch eine Diktatur ganz anderer Art), konnte in den Jahrzehnten danach eine spontane, aus eigener Kraft geführte, mühsam selbstkritische Klärung eines verschütteten politischen Bewusstseins nicht in ähnlicher Weise wie in der Bundesrepublik stattfinden.

Nach der zweiten deutschen Einheit wiederum wurden gerade diejenigen diffamiert,

die DDR-Alltagserfahrungen hatten artikulieren und widerspiegeln können. In der alten Bundesrepublik waren sie noch literarisch gewürdigt und sogar gefeiert worden, aber in der wiedervereinigten galten jetzt Stefan Heym, Christa Wolf, Heiner Müller und all die anderen nicht mehr nur als die Linken, die sie waren, sondern als die intellektuellen Wasserträger des Stasi-Regimes, die sie nicht gewesen waren.

Nach diesem hier nur schlaglichthaft beleuchteten Ritt durch die deutsche Geschichte, weitet er den Blick auf die Chancen, dass Korrekturen bei der nationalen Einheit auch Chancen einer Vertiefung der europäischen erhöhen.

Sein Fazit:

Diese innenpolitische Verschiebung der Relevanzen können wir als Chance verstehen, den Prozess der deutschen Einigung zu vollenden, indem wir unsere nationalen Kräfte für den entscheidenden Integrationsschritt in Europa bündeln. Denn ohne europäische Einigung werden wir weder die einstweilen unabsehbaren ökonomischen Folgen der Pandemie noch den Rechtspopulismus bei uns und in den anderen Mitgliedstaaten der Union bewältigen.

Freilich, diese Hoffnung äußerte Habermas schon öfters – vergeblich.

Aber ist sie deshalb falsch?

Demokratische Normen und wie Demokratien sterben

piqer:
Emily Schultheis

Wie sterben Demokratien? Heutzutage sterben sie häufiger an der Wahlurne als durch Umstürze. Das ist der Schluss des Buches How Democracies Die von Daniel Ziblatt und Steven Levitsky, an den ich in den Wochen vor der US-Präsidentschaftswahl oft denken muss.

In diesem Podcast geht es um die Kernargumente von Ziblatt und Levitsky, was die Grundlage der Demokratien sind und wie man sie verteidigen kann. Hauptsächlich sind demokratische Normen, die ungeschriebenen Regeln in der Politik eines Landes, besonders wichtig: Ohne eine gewisse Zurückhaltung von Politikern kann eine Demokratie nicht richtig funktionieren.

Eine notwendige demokratische Norm: das Wahlergebnis anzuerkennen, was Trump letzte Woche abermals abgelehnt hat. Mit grundlosen Vorwürfen von Wahlbetrug behauptete er, dass er sich entscheiden wird, „wenn die Zeit gekommen ist“. Einen Präzedenzfall dafür gibt es in der US-amerikanischen Geschichte nicht.

Nach diesem Podcast las ich eine lange Geschichte in The Atlantic darüber, wie Trump die Wahl theoretisch stehlen könnte. Die Szenarien klingen zwar reißerisch, der Autor demonstriert aber deutlich, dass all das wirklich passieren könnte. Der Podcast und die Atlantic-Geschichte, zusammen gehört und gelesen, erleuchten die aktuelle Situation in der US-Politik und zeigen, wie schnell alles nach dem Wahlabend schief laufen könnte.

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Auf welche Weise die großen Zentralbanken auf ein verändertes Umfeld reagieren, wie die deutsche und die europäische Einigung zusammenhängen und was sich aus der Wirtschaftsgeschichte der DDR lernen lässt.