Fremde Federn

Konjunkturpaket, struktureller Rassismus, Big Four

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Unterschiedliche Blickwinkel auf die beschlossenen Konjunkturmaßnahmen, welche Auswirkungen die Corona-Krise auf häusliche Gewalt hat und warum eine Branche, die Skandale verhindern soll, immer wieder eigene Skandale produziert.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Wirtschaftsprüfer und Steuerberater – gut gemeint, schlecht gemacht?

piqer:
Thomas Wahl

Ist der Ruf erst ruiniert, so lebt es sich völlig ungeniert, sollte man denken, wenn man sich die Branche der Wirtschaftsprüfer und Steuerberater anschaut:

Wirtschaftsprüfer, die bei der Arbeit schlampen. Interne Kontrolleure, die statt der Arbeitsqualität lieber den Anschein verbessern und dafür gegen Gesetze verstoßen. Staatliche Kontrolleure, die der Karriere oder des Geldes wegen ihr Berufsethos vergessen. Der Fall, dessen Details die US- Börsenaufsicht sowie die Staatsanwaltschaft des Southern District of New York beschrieben haben und von KPMG eingeräumt wurden, zeichnet ein katastrophales Bild. Er liefert einen selten anschaulichen Einblick in eine traditionell diskrete, manche sagen: verschlossene Branche, …

Wie schlimm ist es wirklich? Dem geht dieser Artikel in „brand eins“ zum Zustand und zur Geschichte dieser kleinen, aber feinen Beraterelite nach. Über Unternehmungen „Buch zu führen“ ist sicher eine Jahrtausende alte Praxis. Man findet z. B. In Hattuscha, der alten Hauptstadt des Hethiter-Reiches, Tontafeln über Lagerbestände oder mit Kauf- und anderen Verträgen aus dem Beginn des 2. Jahrtausends v. Chr.

Die Idee jedoch, jemand von außen damit zu beauftragen, auf die Bücher zu schauen, kam erst Mitte des 19. Jahrhunderts in Großbritannien auf. Dort war die Industrialisierung in vollem Gange, sie brachte die Eisenbahn, neue Maschinen, den Telegrafen. All das wollte finanziert werden. Die Idee der Aktiengesellschaft griff um sich, und die privaten Investoren, für die sie gedacht war, suchten eine Art Gewähr, dass die Firmen, in die sie ihr Geld stecken sollten, solide waren.

Ja, die Branche fällt in jüngerer Zeit immer wieder durch Skandale auf. Im Focus auch der Prozess der Konzentration auf die „Big Four“: Deloitte, PwC (Pricewaterhouse Coopers), EY (einst Ernst & Young) und KPMG. Diese vier größten bringen es weltweit auf rund 140 Milliarden Euro Umsatz und 1,1 Millionen Mitarbeiter. Die Wirklichkeit ist sicher meist vielfältiger als die pauschalen Urteile von Medien und Öffentlichkeit:

Zur Wahrheit gehört auch, dass der Betrug bei KPMG dadurch aufflog, dass eine Kollegin misstrauisch wurde und das Management den Regulator einschaltete. Oder dass die Arbeit der Big Four mit dem Alltag vieler Kollegen wenig gemein hat: Während sie sich um die Topadressen der Wirtschaft kümmern, fokussiert sich die zweite Reihe auf den Mittelstand, der große Rest tummelt sich im Unterholz.

Die Versuchungen zum Schönzeichnen sind wahrlich groß, die Honorare besonders bei Großaufträgen gewaltig. Und immer wieder kollabieren Unternehmen, denen die Prüfer wirtschaftliche Gesundheit attestiert hatten. Auch Strafzahlungen, verhängt durch staatliche Kontrolleure sind nicht selten. Andererseits ist der Druck auf die einzelnen Mitarbeiter sicher hoch:

So müssen Steuerberater bei ihrer Bestellung versichern, dass sie ihre Pflichten „gewissenhaft“ erfüllen, Wirtschaftsprüfer müssen gar einen Eid ablegen. Schon die Angst um den eigenen Ruf soll bewirken, dass jeder ein Eigeninteresse hat, korrekt zu arbeiten. „Ich bin persönlich verantwortlich“, erklärt Ulrich Störk, Sprecher der Geschäftsführung von PwC Deutschland, der Nummer eins hierzulande. „Bewerben wir uns um das Mandat eines börsennotierten Unternehmens, holt dieses mittlerweile neben den Fehlerfeststellungen der öffentlichen Prüfstellen zur Prüfungsgesellschaft auch die persönliche Fehlerstatistik ein. Kolleginnen und Kollegen, die dort auffällig geworden sind, werden vom Kunden sicherlich hinterfragt.“

Die Branche, geboren um Skandale zu verhindern, bringt selber Skandale hervor. Aber ist das wirklich so erstaunlich, wie der Artikel fragt? Menschen sind fehleranfällig und unterliegen der Versuchung, dünne Bretter zu bohren, um Erfolg zu haben. Letztendlich bleibt nur der Weg, die Strukturen, Verfahren und Regeln ständig zu erneuern und anzupassen. So diskutieren die Briten etwa drei Punkte:

Erstens die organisatorische Trennung von Prüfung und Beratung, zweitens eine Obergrenze für den Marktanteil eines einzelnen Hauses im Spitzensegment, etwa bei 20 Prozent, und drittens ein Joint Audit, sprich die gemeinsame, parallele Abschlussprüfung durch zwei Anbieter.

Aber auch die Rückführung auf die ursprünglichen Kernaufgaben und die Konzentration auf die Funktion als Wächter von Recht und Gesetz sowie die Zerschlagung der großen Gesellschaften werden diskutiert.

So nicht, Autoindustrie!

piqer:
Hasnain Kazim

Ich bin kein „Autogegner“. Ich habe meine Kindheit und Jugend auf dem Dorf verbracht. Wer da lebt, braucht in der Regel nicht nur für den Weg zur Arbeit ein Auto, sondern auch für jeden Einkauf. Es gibt bestimmte Strecken, bestimmte Situationen, da macht ein Auto Sinn. In vielen Situationen aber macht es keinen Sinn. Wer das Auto zum Fetisch erhebt, kann das gerne tun (als Kind, Jugendlicher und junger Erwachsener hatte ich auch ein Faible für bestimmte Autos…) – aber bitte nicht auf Kosten der Allgemeinheit.

Deshalb bin ich froh, dass die Bundesregierung jetzt, da nach Corona eine neue Zeit anbricht, nicht wieder die ökonomisch vielleicht funktionierende, aber in jeder anderen Hinsicht völlig aus der Zeit gefallene „Abwrackprämie“ aufgetischt hat. Auch wenn die Autoindustrie geradezu darum gebettelt hat.

Lange ist VW-Chef Herbert Diess zuletzt durch Talkshows und Nachrichtensendungen getourt, um zu werben. Zu werben für die irrwitzige Idee einer Kaufprämie vom Staat für Autos mit Verbrennungsmotor. Lächelnd wiederholte sich Diess ein ums andere Mal. „Tagesthemen“-Moderator Ingo Zamperoni wirkte in einem Interview wie ein Kunde auf dem Hof, dem der Händler unnötiges Zubehör aufschwatzt.

Das schreibt der Journalist Nils-Viktor Sorge in seinem lesenswerten Kommentar zu dem Thema.

In der „Zeit“ argumentierte Marc Brost hingegen noch vor Bekanntgabe der Regierungsentscheidung, es wäre trotz der ökologischen Bedenken, trotz der Betrügereien und Lügen der Autoindustrie angezeigt, der Branche jetzt zu helfen – auch wenn sie weiterhin altmodische Verbrennungsmotorschüsseln verkauft. Und zwar um der Wirtschaft willen. „Ein letztes Mal schmutzige Jobs retten, um dann entschlossen die Innenstädte umzubauen, den Autoverkehr zurückzudrängen, Busse und Bahnen zu modernisieren, Schulen zu renovieren und Kitas und Pflegeheime zu bauen“, plädiert er für eine jetzige Hilfe für die Autoindustrie der alten Art. Ich befürchte: Wer glaubt, dass das funktioniert, der glaubt auch an den Weihnachtsmann.

Glücklicherweise hat die Bundesregierung jetzt klug entschieden – gegen Benziner und Diesel, sondern für E-Autos und darüber hinaus für vieles andere, was in ein zukunftsweisendes Konzept passt.

Sorge kommentiert:

Es ist also nur konsequent, dass sich die Bundesregierung nicht länger zum Büttel von vielfach lernunwilligen Topmanagern, leitenden Ingenieuren und Lobbyisten macht. Diese Riege hat ihren Kredit verspielt, in der Öffentlichkeit schon länger, nun endlich auch bei den Politikern. Insofern ist das Corona-Konjunkturpaket eine überfällige Zäsur für die Branche und das Land.

Durchgesetzt haben sich ökonomischer und ökologischer Sachverstand. Kanzlerin Angela Merkel und Vizekanzler Olaf Scholz haben auf kluge Stimmen in Union und SPD gehört, sowie auf Wirtschafts- und Verkehrsexpertinnen.

Viel zu lange hat die deutsche Automobilindustrie, einst unangefochten führend in der Welt, jetzt nicht mehr so ganz unangefochten, sich träge auf bisher Erreichtem ausgeruht und wichtige Entwicklungen offenbar verschlafen. Mit krimineller Energie hat sie sich sogar dem Fortschritt verweigert. Wann, wenn nicht jetzt, wäre es an der Zeit gewesen, ihr mit Hilfe öffentlicher Gelder auf die Sprünge zu helfen?

„Kauf Dich grün“ hat noch nie funktioniert

piqer:
Daniela Becker

Was für ein tolles Konjunkturpaket! Keine Autokaufprämien (zumindest keine direkten). Ist das nicht toll? Gewinnen mit diesem „Wumms“ jetzt nicht alle; Menschen, Umwelt, Klima?

So scheint es die große Mehrheit zu sehen. Sogar von der Opposition ist nicht wirklich was richtig kritisches zu hören oder zu lesen. Selbst bei der APO von FridaysForFuture scheint die Erleichterung zu überwiegen, dass es nicht ganz so schlimm gekommen ist, wie es hätte kommen können.

Petra Pinzler hat für die Zeit kommentiert, warum aus Klimaschutzsicht dieses Konjunkturpaket durchaus geeignet ist, Magenschmerzen zu bereiten.

Denn die ganz großen Fragen der Transformation werden nicht angegangen.

Klar, Menschen müssen kaufen können: Essen, Wärme. Sie müssen sich Gesundheit leisten können, Mobilität, Kultur, Bildung. Aber wenn man leise, zweifelnd anmerkt, dass das Kaufen von jedem Unsinn, das Fliegen in jeden Urlaub und Fahren von Benzinern und Dieseln doch bekanntermaßen in einer endlichen Welt immer mehr zum Problem werden, erwidern die Ökonomen und ihre journalistischen Fans (also fast alle Wirtschaftsredakteure) unisono: Ja, stimmt – wir müssen ökologischer produzieren und leben. Aber erst mal muss der Laden wieder brummen. Wenn dann die Konjunktur wieder gut läuft, dann können wir mehr an die Ökologie denken. Deswegen müssen wir jetzt aber erst mal der ganzen Wirtschaft helfen, auch der alten, dreckigen. Also auch der Autoindustrie. Also auch Lufthansa.

Diese Strategie aber hat in der Vergangenheit noch nie geklappt. Nie hat es in Boomzeiten eine Wirtschaft geschafft, ihren Verbrauch so weit einzuschränken oder umzubauen, dass sie wirklich klimafreundlich und umweltfreundlich funktioniert – jeder Boom hat im Gegenteil auch den CO2-Ausstoß nach oben getrieben. Rebound-Effekt nennen die Experten das.

Warum sollte das diesmal anders sein? Wie gesagt, die Frage ist nicht polemisch gemeint, sondern von Sorge getrieben.

Die GroKo verschuldet das Land durch Geldspritzen auf Jahre hinaus, ohne die Wirtschaftshilfen an präzise Emissionsreduktionsmaßnahem zu koppeln. Damit werden bestehende Missstände manifestiert.

Währenddessen verrinnt das verbleibende CO2-Budget, dass noch in die Atmosphäre abgegeben werden darf, um die globale Erwärmung auf maximal 1,5°C beziehungsweise 2°C zu begrenzen, unter unseren Fingern.

Flugverkehr: Abschied vom Wachstumskurs

piqer:
Ralph Diermann

Auch wenn die Flugzeugflotten derzeit zum großen Teil noch am Boden bleiben: Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis der weltweite Luftverkehr wieder auf den Wachstumskurs der Vor-Corona-Zeit einschwenken wird. Mit den bekannten Folgen für das Klima.

Aber muss das wirklich so sein? Wie könnte eine Abkehr von diesem Kurs aussehen – und zwar auf sozialverträgliche Weise? Dieser Frage geht Daniela Becker jetzt in einem Hintergrund-Stück für RiffReporter nach. Ihre Prämisse: Der ökologische Umbau muss auch ein sozialer sein, da sich sonst keine demokratischen Mehrheiten für den Prozess gewinnen lassen.

Ansatzpunkte dafür gibt es genug. Daniela nennt eine Fülle von Beispielen: etwa die Verknüpfung von Staatshilfen für angeschlagene Airlines mit Klimaschutzauflagen, eine Reform des EU-Emissionshandels im Luftverkehr oder eine internationale Kerosinsteuer (um nur einige zu nennen) – alles verbunden mit dem Aufbau alternativer, klimafreundlicher Verkehrsangebote. Also in erster Linie dem Ausbau des Bahnverkehrs.

Und die Jobs in der Luftfahrtindustrie? Die befragten Experten schlagen unter anderem vor, die Arbeitszeiten zu verkürzen, Dumping-Angebote zu erschweren und die Mitarbeiter umzuschulen, etwa für den Zugverkehr. Allerdings ist auch klar: Es entstehen Zielkonflikte, die sich selbst mit größter Anstrengung nicht vermeiden lassen.

„Wir erleben das Todesröcheln eines sterbenden Amerikas.“

piqer:
Tino Hanekamp

Unbedingt empfehlenswert: Dieses Interview mit dem afroamerikanischen Historiker Eddie Glaude Jr. über die Proteste in den USA, ihre Ursachen, Bedeutungen und Folgen. Auszüge:

Hier bricht gerade eine wirtschaftliche und politische Ideologie zusammen. Wir erleben das Todesröcheln eines sterbenden Amerikas. Ein Amerika, das von Donald Trump repräsentiert wird. Die Leute wissen, dass die Republikanische Partei und ihre demografische Basis nicht mehr expandieren, sondern schrumpfen. Sie wissen, dass die Zahl der christlich-konservativen Weißen, die die Republikaner unterstützen, schrumpft. Sie wissen, dass Amerika immer weniger weiß wird. Politisch hat das zu manischen, panischen Anstrengungen geführt, um an dem Amerika festzuhalten, das im Sterben liegt. Covid-19 und George Floyd haben diesen Prozess nun beschleunigt. Während eine alte Welt stirbt, versucht eine neue Welt geboren zu werden. Und wir sind die Hebammen.

Mitten in einer Pandemie riskieren die Leute gerade ihr Leben, um gegen Polizeibrutalität zu demonstrieren. So wie viele jeden Tag ihr Leben riskieren müssen, nur um wieder arbeiten zu können. Doch wenn wir ein neues Amerika gebären wollen, dann müssen wir nun mal alles riskieren, und das ist auch gut so. Das geht auch weit über die Wahl im November hinaus. Es geht nicht nur darum, Trump aus dem Amt zu jagen und Joe Biden ins Amt zu bringen. Es geht darum, den moralischen Schwerpunkt des Landes zu verschieben, der Wall Street und dem Silicon Valley zu entkommen. Es geht um fundamentale Fairness. Die reichste Nation in der Weltgeschichte darf nicht so viele Arme haben. Wir stehen am Beginn eines revolutionären Moments.

SPIEGEL: Glauben Sie, dass die Unruhen in den USA im Sommer weitergehen?

Glaude: Es wird nicht besser werden. Wir steuern durch einen Sturm. Schnallt euch gut an!

Warum reagieren Polizist*innen „verstört & wütend“ auf das neue Berliner Antidiskriminierungsgesetz?

piqer:
Mohamed Amjahid

In der Bundeshauptstadt hat die Rot-Rot-Grüne Landesregierung vergangene Woche ein neues Antidiskriminierungsgesetz verabschiedet. Ziel dieses Gesetzes ist, Angehörige von Minderheiten vor struktureller Diskriminierung bei Behörden und insbesondere vor Sicherheitsbeamten zu schützen. Das schon geltende Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) konzentriert sich vor allem auf die Gleichbehandlung von Menschen auf dem Wohnungs-, Arbeits- und Bildungsmarkt. „Wenn beispielsweise drei weiße Männer eine Gaststättenerlaubnis beantragen und sie bekommen, ein schwarzer Mann aber nicht, muss man genauer hingucken, woran das liegt„, erklärt der Berliner Justizsenator Dirk Behrendt von den Grünen das neue, ergänzende Gesetz in Berlin.

Kernstück der neuen Regelung: Wenn eindeutige Hinweise für eine Diskriminierung zum Beispiel wegen der Hautfarbe oder Herkunft vorliegen, ist die entsprechende Behörde verpflichtet den Fall zu prüfen, aufzuarbeiten und das Gegenteil zu beweisen. Ein eindeutiger Hinweis kann zum Beispiel ein Schriftverkehr sein oder ein Video, das Polizeigewalt und den dazugehörigen Kontext dokumentiert.

Die Opposition aus CDU, FDP und AfD in Berlin schäumt vor Wut. Teilweise werden schon juristische Mittel gegen das neue Gesetz angekündigt. Doch auch in anderen Bundesländern ist die Empörung groß: Bayerns Innenminister Joachim Herrmann will nun prüfen lassen, ob er bayerische Polizisten noch nach Berlin schicken muss. Die Berliner Landesregierung habe „ein gestörtes Verhältnis […] zu ihrer Polizei“, sagt Herrmann. Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen von der CDU will mit seinen Kollegen bei der Innenministerkonferenz „über die Folgen des neuen Berliner Gesetz sprechen„. Die CDU in Thüringen stellt Einsätze ihrer Landespolizei in Berlin komplett in Frage.

Jörg Radek von der Gewerkschaft der Polizei beschreibt die Reaktionen unter den Beamten*innen als „verstört und wütend“, das Maß sei voll. Radek erklärt die Sicht seiner Gewerkschaft wie folgt: „Was die Angreifer offensichtlich immer noch nicht verstanden haben, ist, dass sich hinter der Uniform Mütter, Väter, Töchter, Söhne, Freunde, Nachbarn, also Menschen verbergen. Menschen, die die schwierige Aufgabe übernommen haben, unseren Rechtsstaat zu schützen.“

Aus meiner Sicht als Journalist of Color fallen leider auch diesmal die zahlreichen, reaktionären Kommentare in deutschen Medien auf. Sie stützen sich komplett auf die Perspektive der Polizeien und Innenminister von CDU/CSU. Leider musste ich in den vergangenen Tagen sehr lange suchen, bis ich einen erklärenden und auf Recherche basierenden Text zum Thema gefunden habe. Auf dem Weg dorthin begegneten mir rechts außen Kolumnisten, die das Gesetz ohne Wissensgrundlage „Antibullengesetz“ nennen (weil Polizist*innen die wahren Diskriminierten seien), ein Text aus dem Hause Springer trägt die Überschrift „Mit diesem Gesetz werden Polizisten zum Freiwild“, ein anderer Springer-Artikel ist mit folgender Aussage überschrieben: „Justizsenator Behrendt drückt Gesetz durch, das Polizisten schadet.“ Der Focus schafft es sogar, sogenannte Clan-Kriminalität mit der aktuellen Diskussion um das neue Gesetz gar ohne Recherche zu verknüpfen.

Hier nun die Einschätzung einer Richterin aus dem oben verlinkten Text der Legal Tribune Online zum Thema Diskriminierungen „glaubhaft“ machen:

Katrin Schönberg, Vorsitzende des Berliner Richterbunds und Richterin am Kammergericht Berlin, erklärt: „Das ist ein Prinzip, das allen Zivilrichtern vertraut ist. Es gibt ja jetzt schon Fälle, in denen es darauf ankommt, dass eine Partei bestimmte Tatsachen glaubhaft macht, etwa bei einer einstweiligen Verfügung. Damit können wir umgehen.“ In der Praxis bedeutet das häufig, dass eine eidesstattliche Versicherung abgegeben wird. Schönberg glaubt auch nicht, dass die Gerichte mit zahlreichen neuen Verfahren überlastet werden: „Auch als das AGG eingeführt wurde oder der Anspruch auf Entschädigung für überlange Gerichtsverfahren, war die Rede von einer Klagewelle. In beiden Fällen kam es nicht dazu. Natürlich wird es Klagen geben, die sich auf das neue Antidiskriminierungsgesetz stützen, aber ich glaube, dass die Gerichte das bewältigen können.“

Eine Freundin von mir, die nicht aus Deutschland stammt, kommentierte diese Diskussion by the way wie folgt: „Wie? Ihr habt in Deutschland bis jetzt noch kein Antidiskriminierungsgesetz?“

Laut einer Studie wurden im Lockdown in Deutschland so viele Frauen vergewaltigt wie Köln Einwohnende hat

piqer:
Theresa Lachner

Eine repräsentative Studie der TU München bestätigt, was nach entsprechenden Berichten aus China schon zu befürchten war:

Körperliche Gewalt: 3,1 Prozent der Frauen erlebten zu Hause mindestens eine körperliche Auseinandersetzung, zum Beispiel Schläge. In 6,5 Prozent der Haushalte wurden Kinder körperlich bestraft.

Sexuelle Gewalt: 3,6 Prozent der Frauen wurden von ihrem Partner zum Geschlechtsverkehr gezwungen.

Emotionale Gewalt: 3,8 Prozent der Frauen fühlten sich von ihrem Partner bedroht. 2,2 Prozent duften ihr Haus nicht ohne seine Erlaubnis verlassen. In 4,6 Prozent der Fälle regulierte der Partner Kontakte der Frauen mit anderen Personen, auch digitale Kontakte, zum Beispiel über Messenger-Dienste.

Höher waren diese Zahlen aufgrund folgender Risikofaktoren:

sich die Befragten zu Hause in Quarantäne befanden (körperliche Gewalt gegen Frauen: 7,5 %, körperliche Gewalt gegen Kinder: 10,5 %).

die Familie akute finanzielle Sorgen hatte (körperliche Gewalt gegen Frauen: 8,4 %, körperliche Gewalt gegen Kinder: 9,8 %).

einer der Partner aufgrund der Pandemie in Kurzarbeit war oder den Arbeitsplatz verloren hatte (körperliche Gewalt gegen Frauen: 5,6%, körperliche Gewalt gegen Kinder: 9,3 %).

einer der Partner Angst oder Depressionen hatte (körperliche Gewalt gegen Frauen: 9,7 %, körperliche Gewalt gegen Kinder: 14,3 %).

sie in Haushalten mit Kindern unter 10 Jahren lebten (körperliche Gewalt gegen Frauen: 6,3 %, körperliche Gewalt gegen Kinder: 9,2 %).

Weil diese Zahlen so unvorstellbar sind, hab ich sie kurz mal grob runtergebrochen: Deutschland hat derzeit 83.1 Mio Einwohner*innen, davon 42.1 Mio Frauen. 3.6 Prozent davon sind 1.515 600 Frauen.

KORREKTUR: In der Studie wurden nur Frauen von 18-65 Jahren befragt. Von den 1.5 Millionen Frauen müsste man deshalb grob überschlagen ein Drittel abziehen.

Wie man mit Pizza-Lieferungen risikofrei sehr viel Geld verdient (theoretisch)

piqer:
Rico Grimm

Irgendwie haben sie es dann doch geschafft: Lieferdienste für Essen haben sich in das Leben vieler Menschen geschlichen. Obwohl die Arbeitsbedingungen für die Lieferfahrer überschaubar gut sind, obwohl Restaurants eher unter ihnen leiden. Die Lieferdienste haben das nur geschafft, weil sie sich mit horrenden Marketingausgaben in den Markt gekämpft haben. Bis heute gibt es nur wenige Dienste, die wirklich Geld verdienen. Dieser Text zeigt auf eine sehr pointierte Weise, was daran problematisch sein kann, am Beispiel von Doordash, einem Lieferdienst aus den USA.

Eine Pizzeria bekommt plötzlich Beschwerde-Anrufe: die gelieferte Pizza ist kalt, die Pizza ist falsch belegt usw. So weit, so normal. Nur: Die Pizzeria hat gar keine Pizza-Lieferung! Was ist passiert? Doordash hat einfach begonnen, eine Lieferoption für diese Pizzeria anzuzeigen und dazu frei zugängliche Informationen von der Webseite abgesogen, allerdings: falsch abgesogen. Die Preise waren falsch. Da kostete eine einfache Käse-Pizza plötzlich so viel wie die Spezialpizza. Das bot eine Chance: Arbitrage. Dabei macht man sich Markt-Ineffizienzen zu Nutze, Profit entsteht aus großen Preisunterschieden.

Also begann der Eigentümer der Pizzeria, bei sich selbst Pizza zu bestellen! Von Doordash bekam er den Höchstpreis, er selbst hatte nur seine üblichen Kosten. Nun: Es hat funktioniert. Doordash hat es nie mitbekommen – und das sagt schon alles aus über eine Industrie, die nur auf blindes Wachstum der Kundenzahl ausgelegt ist.

Spülen Medien-Tech-Konzerne rechte und verschwörungstheoretische Propaganda in den Mainstream?

piqer:
Sven Prange

In seinem jüngsten und ziemlich empfehlenswerten „Zerstörungs“-Video stellt der YouTuber Rezo unter anderem diesen Zusammenhang her: Weil Journalist*innen etablierter Medien in Teilen einen ähnlichen Instrumentenkasten benutzen würden wie so genannte „Verschwörungstheoretiker*innen“ oder auch rechtsextreme Medienmacher*innen, leisteten sie der Verbreitung von genau deren Inhalten Vorschub.

Dieses Argument setzt bei der Vermutung an, dass Nutzer*innen wenn sie einmal mit einer bestimmten Funktionsweise von Informationsvermittlung vertraut gemacht worden sind, diese fortan automatisch für plausibel halten, egal aus welcher inhaltlichen Richtung auf diese Art Informationen auf sie einprasseln. Was diese Rezo-Perspektive nicht weiter verfolgt (weil es auch nicht in den Fokus seines Hauptmotivs passt), ist eine andere Resonanz zwischen eher mainstreamigen Medientechnologieanbietern und solchen Inhalteanbieter*innen, die sich eher außerhalb des Mainstreams bewegen (sollten): Wie Medien-/Techkonzerne mit ihren technologischen Plattformen der Verbreitung von rechtsextremen, menschenfeindlichen und wissenschaftsablehnenden Inhalten befördern. Diesem Pfad widmet sich dieser Film.

Die Ankündigung, sich hier vor allem über Datenrecherche einem neuen Netzwerk rechtsextremer Medien zu nähern, führt zwar etwas in die Irre. Denn zum einen tauchen hier wichtige Transmitter zwischen konservativem und rechtsextremem Gedankengut wie die Altjournalisten Roland Tichy oder Gabor Steingart nicht auf, stattdessen werden umfassend auch die Corona-bedingt in die Wahrnehmung gespülten Wissenschaftsgegner*innen breit berücksichtigt, die wiederum nicht alle zum klassischen Rechts-Netzwerk gehören.

Zum anderen nähert sich der Film dem Thema nicht nur über Datenanalyse, sondern auch über Netzwerkbeschreibungen. Und er zeichnet nach, wie eine ganze Reihe offenbar gut mit finanziellen Mitteln ausgestatteter Inhalteverbreiter*innen die Mechanismen von Plattformen wie YouTube nutzt, um ihre Inhalte sehr effektiv und lautstark in die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Mitte zu spielen und mit enormer Lautstärke zu versehen. Man lernt so, dass YouTube früher seine Nutzer*innen möglichst lange vor der Plattform halten wollte, während es sie heute möglichst „glücklich machen“ will – und sich dennoch für das Ranking bestimmter Inhalte eigentlich nichts geändert hat.

Nun ist diese Erkenntnis nicht an allen Ecken und Enden völlig neu. Wer aber im Zuge der Corona-Pandemie einmal in die inhaltlichen Untiefen dieses Umfelds hinabgestiegen ist und sich gleichzeitig fragt, warum trotz des Tons und der Lautstärke, die dort herrschen, der Großteil der Menschen in Deutschland doch vergleichsweise vernünftig zu sein scheint, erfährt hier erste Andeutungen – nämlich, dass sie größer an Lautstärke als an Zahl sind. Leider aber auch, dass sich dies schleichend ändern kann, wenn die beschriebenen Defizite der Inhaltsverbreitung sich nicht ändern.