In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Warum die Corona-Krise kein „schwarzer Schwan“ ist
piqer:
Antje Schrupp
Mit Bezug auf die derzeitige Corona-Pandemie wird manchmal gesagt, das Ereignis sei wie ein „schwarzer Schwan“, in Anspielung auf das gleichnamige Buch des Risikoforschers Nassim N. Taleb, in dem es darum geht, wie man vernünftigerweise mit der Tatsache umgehen sollte, dass auch völlig unerwartete Ereignisse eintreten können.
In diesem kurzen Meinungsstück erklären Taleb und sein Co-Autor Mark Spitznagel, warum erstens die Corona-Krise kein „schwarzer Schwan“ ist, sondern ganz im Gegenteil ein „weißer Schwan“, also „ein Ereignis, das mit Gewissheit irgendwann eintreffen wird“. Und zweitens gibt es darin ein paar Argumente dazu, warum staatliche Rettungspakete für große Firmen in der Regel falsch sind: „Wir dürfen Finanzhilfe für Einzelne auf der Basis dessen, was diese nötig haben, nicht verwechseln mit Finanzhilfe für Unternehmen auf Basis der Tatsache, dass wir sie nötig haben.“
(Aus eben denselben Gründen ist es im Übrigen notwendig, kleinen Einzelhändlern die Miete ihrer derzeit geschlossenen Geschäfte zu stunden, nicht aber Konzernen wie Adidas und Co.)
Heinz Bude: „Die Zeit der Minimierung des Staates und des Rückbaus von Sozialsystemen ist vorbei“
piqer:
Dirk Liesemer
Dies ist nicht nur die Zeit der Virologen, sondern auch der Zeitdiagnostiker. Denn es wird immer klarer, welche tiefen Spuren das Corona-Virus in unserem politischen Bewusstsein hinterlässt. Rückblickend wird man eines nicht allzu fernen Tages wohl von einem globalen 9/11 sprechen, von einem folgenreichen Angriff auf die Weltgesellschaft. Wie sich die Welt ändern wird, unser Denken und unsere Einstellungen, aber auch die Gesundheits- und Wirtschaftssysteme, ist kaum abzusehen. Schon jetzt gibt es allerdings Debatten darüber, dass Medikamente künftig wieder mehr in Europa hergestellt werden müssen.
Viele Interviews mit Soziologen, Historikern und Philosophen erscheinen in diesen Tagen. Hin und wieder überlege ich, das ein oder andere zu piqen, aber die meisten Äußerungen gehen dann doch nicht über banale Einsichten hinaus. In diesem Interview mit dem Soziologen Heinz Bude ist das anders. Während mittlerweile stark die negativen Effekte der Quarantäne thematisiert werden (Gewalt in den Familien, Bewegungsmangel), stellt Bude auch positive Seiten heraus, etwa die weit verbreitete Erleichterung darüber, endlich einmal für ein paar Momente aus einer überhitzten, also gestressten Gesellschaft entkommen zu sein.
Wie viele andere erkennt Bude darüber hinaus eine Rückkehr des Staates und eine neue Akzeptanz der Staatlichkeit, aber er sieht zudem auch eine Rückbesinnung auf kollektive Güter. Und er weist darauf hin, dass sich Populisten über all diese Entwicklungen gar nicht freuen – ganz im Gegenteil:
Ich glaube, dass die AfD und die Welt der AfD weniger Zustimmung bekommen wird in der Zukunft, weil teilweise ihre Vorstellungen in einer anderen Weise, ich würde sagen, in einer zivilisierten Weise übernommen worden sind und die Situation im Augenblick regieren. Ich glaube, die AfD und die rechte Gesinnung wird uns bald als eine sehr frivole Angelegenheit vorkommen und man im Grunde schulterzuckend davorsteht und sagt, was war das eigentlich für eine komische Angelegenheit.
Das heißt sicher nicht, dass die Populisten verschwinden, aber sie dürften doch erheblich Federn lassen. Dazu passt denn auch ein aktuelles ZDF-Politbarometer: CDU gewinnt enorm dazu, AfD verliert gleich einige Prozentpunkte.
„Nach Corona: Die Finanzmärkte entmachten“ – Interview mit Ökonom Schulmeister
piqer:
Dmitrij Kapitelman
Dieses Interview mit dem österreichischen Ökonomen Stephan Schulmeister ist über weiter Strecken sehr mechanisch. Mechanisch im besten Sinne: unaufgeregt und fachlich fundiert, die horrende Bedrohungslage für die Weltwirtschaft erläuternd.
Was würde passieren, wenn die Notenbanken und Regierungen nicht den Geldhahn aufdrehen? Schritt für Schritt skizziert Schulmeister den Kollaps. Wie sehen die aktuellen Hilfsprogramme aus, die genau das verhindern sollen? Wie lange sind diese praktizierbar? Droht eine Staatsschuldenkrise? Ist der dramatische Verfall der Ölpreise wirklich gut fürs Klima? (Nach Schulmeister leider nicht.)
Wuchtig wertend werden die Worte des Wirtschaftsforschers aber zum Schluss: „Jetzt tritt der Unrat, der sich über 35 Jahre in diesem dysfunktionalen Finanzkapitalismus aufgestaut hat, zutage … Mein Post-Krisen-Szenario geht davon aus, dass die Finanzmärkte entmachtet werden. Das wäre ein Leichtes, wenn die Politik nur will.“
Warum traditionelle Frauenberufe schlechter bezahlt werden
piqer:
Antje Schrupp
Gerade zeigt sich, dass viele Berufe, die traditionell von Frauen ausgeübt werden, besonders „systemrelevant“ sind: Vor allem Krankenpflegerinnen und Verkäuferinnen im Nahrungsmitteleinzelhandel spielen eine Schlüsselrolle in diesen Tagen. Wie kommt es, dass die so genannten „SAHGE-Berufe“ (das Akronym steht für Soziale Arbeit, haushaltsnahe Dienstleistungen, Gesundheits- und Erziehungsberufe), obwohl sie doch offenbar so wichtig für das Funktionieren der Gesellschaft sind, dennoch so schlecht bezahlt werden?
In diesem Interview erklärt die Geschlechterforscherin Barbara Thiessen, warum hier klassische ökonomische Regeln nicht alles erklären können. Denn ein wesentlicher Faktor ist hier der „Geschlechtscharakter“ dieser Tätigkeiten, also, dass kulturell noch immer davon ausgegangen wird, dass Frauen eine irgendwie natürliche Begabung und Affinität zu diesen Tätigkeiten hätten, sodass es gewissermaßen nicht nötig ist, sie nach vollem Marktpreis dafür zu bezahlen. Eine Logik, die zunehmend analog auch für migrantische Arbeitskräfte Einzug gehalten hat.
Dass jetzt für Krankenpflegerinnen und Verkäuferinnen geklatscht wird, ist so gesehen zwar nett gemeint, aber nicht unbedingt ein Zeichen dafür, dass hier ein Umdenken anfängt. Denn das wohlfeile Lob für die „helfenden Hände“ der weiblichen Care-Arbeiterinnen gehört schon immer dazu. Deshalb ist es wichtig, darauf zu drängen, dass sich die Wertschätzung auch materiell und konkret niederschlägt: In höheren Löhnung und besseren Arbeitsbedingungen für diese Berufsgruppen.
Der Coronavirus verschärft die Klassenunterschiede
piqer:
Frederik Fischer
COVID-19 zeigt sehr eindrücklich alte und neue Grenzen auf. Zwischen Nationen, zwischen Stadt und Land, zwischen Alt und Jung und nicht zuletzt zwischen Arm und Reich. Dieser Text beschreibt in quälenden Details die Situation in Amerika, dessen Sozialsystem insbesondere für diese Krise skandalös schlecht aufgestellt. Viele Phänomene, die der Text beschreibt, sind aber auch in Deutschland zu beobachten: Die Reichen flüchten in ihre Ferienhäuser auf dem Land oder genießen ihre großzügig geschnittene Wohnung mit Terrasse.
Wer auf 30qm lebt, mit vielen Kindern eingesperrt ist, wer nicht einmal einen kleinen Balkon sein/ihr Eigen nennt, erlebt diese Zeit radikal anders. Genau so, wie die vielen Menschen, die jeden Tag weiterhin arbeiten müssen. Die Pfleger*innen und Kassierer*innen, die Bauarbeiter und Polizist*innen. Auch die vielen Menschen in den immer noch zahlreichen Gemeinden mit schlechtem Netz haben andere Sorgen als eine zu enge Taktung von Zoom-Meetings.
Wenn wir uns jetzt noch vorstellen, wie sich eine Quarantäne in Delhi anfühlen muss, wenn die Temperaturen über 40 Grad steigen, erscheinen die eigenen (Luxus-)Probleme in neuem Licht.
Hier noch drei weitere Empfehlungen zum Thema:
Massiver Rollback in der US-amerikanischen Umwelt- und Klimagesetzgebung
piqer:
Daniela Becker
Mit-piqer Ralph hat ja bereits zusammengetragen, warum das Corona-Virus mittelfristig eher keinen positiven Effekt auf den Klimaschutz haben wird.
In den USA tragen die Behörden noch aktiv dazu bei, die Situation zu verschlimmern. Die oberste Umweltschutzbehörde (EPA) hat dort vergangene Woche eine pauschale Aussetzung der Durchsetzung von Umweltgesetzen erlassen und Unternehmen wie Raffinerien und Chemiewerken mitgeteilt, dass sie während des Coronavirus-Ausbruchs keine Umweltstandards einhalten müssten. Und das auf unbestimmte Zeit.
Dies betrifft Grenzwerte für die Luft- und Wasserverschmutzung und natürlich auch den Ausstoß von Treibhausgasen. Die EPA ist dabei sogar noch über das hinaus gegangen, was sich das American Petroleum Institute (API), also die Öl-Lobby gewünscht hatte. Die EPA hat sich nämlich nicht einmal das Recht vorbehalten, zu intervenieren, wenn eine unmittelbare Bedrohung der öffentlichen Gesundheit besteht, kritisieren Umweltschützer.
Doch das ist noch nicht alles. Wie die NYT berichtet, wird die Trump-Regierung in Kürze auch alle CO2-Grenzwerte für den Automobilbau zurücknehmen.
Die neue Regelung, die von der Umweltschutzbehörde und dem Verkehrsministerium verfasst wurde, würde es erlauben, dass die Fahrzeuge auf amerikanischen Straßen während ihrer Lebensdauer fast eine Milliarde Tonnen mehr Kohlendioxid auszustoßen als nach den Obama-Normen und hunderte Millionen Tonnen mehr, als sie nach den in Europa und Asien geltenden Normen ausstoßen dürfte. Klimaschutz adé. Alles natürlich unter dem Deckmäntelchen, „die Wirtschaft zu schützen“. Doch selbst dabei schießt Trump über das Ziel hinaus, denn
Even many large automakers, which had asked Mr. Trump to slightly loosen the Obama-era rule, had urged him not to roll it back so aggressively, since that plan is certain to get bogged down in court for years, leaving their industry in regulatory limbo.
Und als wäre das alles nicht schlimm genug, haben einige US-Staaten das Corona-Chaos genutzt, um Gesetze zu erlassen, die neue strafrechtliche Sanktionen für Proteste gegen Infrastruktur für fossile Brennstoffe wie Öl-Pipelines zu erlassen. Das berichtet die Huffington Post.
“While we are all paying attention to COVID-19 and the congressional stimulus packages, state legislatures are quietly passing fossil-fuel-backed anti-protest laws,” Connor Gibson, the researcher at Greenpeace USA who tipped HuffPost off to the bills’ passage, said by email Friday. “These laws do nothing new to protect communities. Instead they seek to crack down on the sort of nonviolent civil disobedience that has shaped much of our nation’s greatest political and social victories.”
Die USA nach der Corona-Krise: Was lernen sie daraus?
piqer:
Anja C. Wagner
Nun also die westliche Welt. Innerhalb eines Monats gelangte sie zur Vollbremsung dank eines Virus, der für viele aus dem Nichts kam. Auch die USA befinden sich nunmehr in Schockstarre. Circa zwei Wochen nach Deutschland wurde die Handbremse gezogen und das Militär in den Krisenmodus gesetzt.
Pandemien demokratisieren Erfahrungen. Menschen, deren Privilegien und Macht sie normalerweise vor einer Krise schützen würden, sind mit Quarantänen konfrontiert, werden positiv getestet und verlieren ihre Angehörigen. Senatoren werden krank. Die Folgen der Defundierung von Gesundheitsbehörden, des Verlusts von Fachwissen und der Ausdehnung von Krankenhäusern manifestieren sich nicht mehr als verärgerte Meinungsäußerungen, sondern als stockende Lungen.
In diesem Longread wird die kurze Historie dieser epidemiologischen Verwerfungen in den USA erzählt und die Optionen dargelegt, wie sich die weitere Entwicklung der Pandemie entfalten könnte. Irgendwann wird sie beendet sein, wie auch immer und hoffentlich mit so wenigen Toten wie möglich. Aber was dann?
Die Lehren, die Amerika aus dieser Erfahrung zieht, sind schwer vorherzusagen, insbesondere in einer Zeit, in der Online-Algorithmen und Partisanensender nur Nachrichten liefern, die mit den Vorurteilen ihres Publikums übereinstimmen. Diese Dynamik wird in den kommenden Monaten von entscheidender Bedeutung sein, sagt Ilan Goldenberg, außenpolitischer Experte am Center for a New American Security. „Bei den Übergängen nach dem Zweiten Weltkrieg oder dem 11. September ging es nicht um eine Reihe neuer Ideen“, sagt er. „Die Ideen sind da draußen, aber die Debatten werden in den nächsten Monaten aufgrund des fließenden Verlaufs des Augenblicks und der Bereitschaft der amerikanischen Öffentlichkeit, große, massive Veränderungen zu akzeptieren, schärfer werden.“
In welche Richtungen könnte sich das politische Tableau verschieben? Trumps Zustimmungsrate scheint gestiegen. Wird er dieses Momentum im Wahlkampf nutzen, um die USA als widerstandsfähigen Helden gegenüber dem „chinesischen Virus“ zu feiern und anzukündigen, sich aus den verbliebenen internationalen Bündnissen zu verabschieden?
Oder wird sich die USA wie nach dem Zweiten Weltkrieg wieder weg vom Isolationismus und hin zur internationalen Zusammenarbeit entwickeln? Wird es große Investitionen in den (E-)Health-Sektor geben, die die klügsten Köpfe anziehen und ein Gesundheitssystem aufbauen, das vergleichbar zum dann modernisierten Bildungssystem als erste Verteidigungslinie der Außenpolitik betrachtet wird?
Die heranwachsende „Gen C“, die in diese Phase hineingeboren wird, lernt ausländische Plagen als neue Bedrohung ihrer Generation kennen – wie wird die internationale Politik der Zukunft diese globalen Herausforderungen adressieren?
Der Autor endet mit einer ambitionierten Challenge, deren Tragweite wir alle derzeit erahnen und die unser gesellschaftliches Handeln leiten sollte:
Im Jahr 2030 taucht SARS-CoV-3 aus dem Nichts auf und wird innerhalb eines Monats zur Strecke gebracht.
Weltweit am besten.
Corona und die Zahlen: Johns Hopkins, die Stunde der Statistiker und wo ihr gute Zahlen herbekommt
piqer:
Alexander Sängerlaub
In diesem piq möchte ich euch verschiedene Statistiken vorstellen, erläutern, warum sie mit Vorsicht zu genießen sind und wie sich die verschiedenen Statistiken lesen lassen.
Derzeit bemessen wir den Verlauf der Krise vor allem an drei Zahlen – der Zahl der Infizierten, der Zahl der Genesenen sowie der Zahl der Gestorbenen. Die weltweit sicherlich am meisten zitierten Zahlen stammen von der in Baltimore ansässigen amerikanischen Johns Hopkins University und sind hier als Map im piq verlinkt. Auch die WHO bietet tägliche „situation reports“ zu allen Ländern.
Die unzuverlässigsten Zahlen sind dabei die der Genesenen, da diese in vielen Ländern nicht meldepflichtig sind und damit nicht sauber erfasst werden. Hingegen (zumindest in Deutschland) sind Covid-19 Erkrankungen meldepflichtig und auch Todesfälle werden selbstverständlich einigermaßen zuverlässig gezählt. Demnach ist die Zahl der Verstorbenen derzeit der zuverlässigste Indikator, um den Verlauf der Pandemie zu beurteilen.
Relativ unzuverlässig ist auch die Zahl der Infizierten, da diese Zahl von mehreren Faktoren abhängig ist:
- Seit wann wird auf Covid-19 getestet? Einige Länder haben erst später angefangen, die USA haben beispielsweise erst einen eigenen Test entwickeln wollen, der allerdings nicht funktioniert hat; in Italien geht man inzwischen davon aus, dass das Coronavirus in einigen Regionen wahrscheinlich schon seit Dezember wütet – da wurde aber noch gar nicht auf Covid-19 getestet.
- Stehen genug Tests und Testkapazitäten zur Verfügung? Deutschland wird bspw. von Christian Drosten immer als ein Beispiel angeführt, wo vergleichsweise noch relativ zuverlässig getestet wird.
- Wann und wer wird überhaupt getestet? Jedes Land hat hier eigene Regeln definiert und die verändern sich auch während der Pandemie. Auch in Deutschland hat das RKI die Kriterien verändert: Früher musste man direkt einen Kontakt zu einem Infizierten nachweisen/aus einem Risikogebiet stammen, das fällt heute weg. Symptomfreie Menschen werden zudem derzeit auch nicht flächendeckend getestet. Einige Länder (Italien) prüfen derzeit z.B. nur, wenn man ins Krankenhaus eingeliefert wird. Das alles verzerrt natürlich extrem die Daten und auch die Relationen.
- Wie schnell werden die Zahlen gemeldet? Manche Meldeketten sind relativ lang und kompliziert, das ist auch der Grund, warum das deutsche Robert-Koch-Institut den Zahlen der John Hopkins University hinterherhinkt. Wie aufwendig das Meldeverfahren ist, hat die Tagesschau einmal zusammengestellt. Die JHU zieht ihre Zahlen aus öffentlich einsehbaren Seiten von z. B. Gesundheitsämtern und kann daher schneller Hochrechnungen produzieren, als bpsw. das RKI.
All das trägt dazu bei, dass 1) die Dunkelziffern der Infizierten je Land weitaus höher sind, 2) die Zahlen zwischen den Ländern schwer vergleichbar sind und 3) die korrekt berechenbare Sterblichkeit vor allem in den Ländern am besten berechnet werden kann, die relativ großflächig und umfassend testen (z.B. Südkorea). Besonders hoch scheint daher die Sterblichkeit in Ländern wie Italien (derzeit fast 10%), wo man mit dem Testen aufgrund der vielen Fälle kaum noch hinterherkommt und viele Menschen eben derzeit erst bei der Einlieferung ins Krankenhaus überhaupt noch getestet werden.
Die absoluten Zahlen nach Ländern sind wiederum nicht sonderlich hilfreich, um zu beurteilen, wie die derzeitige Lage ist, weil hier die Anzahl der Einwohner eines Landes entscheidend ist. So hat die meisten Infizierten auf 100.000 Einwohner gerechnet, derzeit die Schweiz. Mit (Stand heute) offiziell 12.300 Coronavirus-Infizierten, haben die Schweizer zwar absolut gesehen nicht so viele Fälle, da die Schweiz allerdings nur ca. 8 Mio. Einwohner hat, kommt sie auf derzeit 144 Fälle pro 100.000 Einwohnern und liegt damit sogar noch vor Spanien (137) und Italien (133) (Deutschland kommt derzeit auf 57 Fälle pro 100.000 Einwohner). Diese Zahlen berechnet bpsw. der Tagesspiegel.
Für die Zukunft wird nicht nur entscheidend sein, dass die Zahl der Infizierten sinkt, sondern das diese auch möglichst identisch gemessen wird. Ein Richtwert ist dabei die Verdoppelungszeit*, wie sie die SZ in ihren sehr guten Infografiken zeigt.
Zusätzlich sollten alle Länder auch versuchen zu erheben, wie viele Menschen bereits immun sind, indem beispielsweise Antikörper im Blut flächendeckend nachgewiesen werden können. Erst dann können die Maßnahmen vorsichtig gelockert werden.
*wie lange dauert es, bis sich die Zahl der Infizierten verdoppelt
Wir müssen unsere Armut an Vorstellungskraft überwinden, um besser für Krisen gerüstet zu sein
piqer:
IE9 Magazin
Die Zukunft bleibt auch in Zeiten schlauer Algorithmen und gigantischer Datenberge ziemlich unberechenbar. Die aktuelle Krise führt uns das schmerzhaft vor Augen. Unwahrscheinliche Szenarien treten ein, bevor wir sie überhaupt für möglich hielten. Doch das muss nicht so sein, meint der Futurist Daniel Schimmelpfennig. Wenn wir unsere Zukünftebildung oder Zukünfteliteralität stärken, können wir mit Unsicherheiten umgehen und die Komplexität der Welt zelebrieren.
Es wirkt sicherlich ungewohnt, Zukunft im Plural als Zukünfte zu lesen. Die bewusste Nutzung der Vokabel Zukünfte soll aber dabei helfen, den Irrglauben zu überwinden, die Zukunft sei eindeutig vorhergeschrieben. Die Zukunft ist natürlich nicht vollendet, sondern immer offen für Möglichkeiten – und für Überraschungen.
Daniel Schimmelpfennig empfiehlt uns eine spielerische Auseinandersetzung mit den Bildern möglicher Zukünfte und nennt ein paar einfache Möglichkeiten, wie man selbst über wahrscheinliche und unwahrscheinliche, erstrebenswerte und schreckliche Zukünfte nachdenken kann. Das ist für ihn die Voraussetzung dafür, dass wir die Welt aktiv gestalten und uns auf Krisen vorbereiten können.
Es geht um Konsequenzen, um Kausalitäten, Korrelationen, und Korrespondenzen. Nur wer eine düstere Zukunft schon einmal gedanklich durchgespielt hat, kann sich theoretisch darauf vorbereitet.
Corona-Schock: Warum in Ungarn die Existenz der EU auf dem Spiel steht
piqer:
Ulrich Krökel
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat sich kürzlich per Notstandsgesetz selbst ermächtigt, das Land per Dekret zu regieren. Genauer gesagt hat der rechtsnationale Regierungsblock Fidesz-KDNP mit seiner Zweidrittelmehrheit so entschieden und das Parlament in eine unbefristete Zwangspause geschickt – und damit sich selbst. Die Analyse von Daniel Hegedüs, die ich hier verlinkt habe, ist ein paar Tage vor der Entscheidung online gegangen, nimmt das Ergebnis aber quasi voraus, so dass die Schlussfolgerungen und Bewertungen aktuell bleiben, zum Beispiel:
Even at a time when Western governments are proclaiming states of emergency and seek extraordinary competences to fight the coronavirus epidemic, Hungary’s enabling act stands out. Under it, in practice all government decrees would not be bound by any current laws. Elections and by-elections would also be suspended for as long as the enabling act is in force. Minimal checks are built in the legislation, such as guaranteeing the functioning of the Constitutional Court. But the court has been hijacked by Fidesz since 2013 and is hardly a shield against possible violations of fundamental rights.
Mit einem Satz: Ungarn befindet sich auf direktem Weg in einen autoritären, nur noch scheindemokratischen Staat. Noch einmal Hegedüs:
With this enabling act, Orbán is trying to replace the constitutional order he has tailored to his own needs over the past ten years with unlimited, unchecked power. This new reality would be incompatible with any form of modern constitutional democracy.
Die Klarheit von Analyse, Schlussfolgerung und Bewertung macht den Text äußerst lesenswert. Alles drei hätte man sich übrigens auch von der EU-Kommission erhofft, die aber bislang zu der Entwicklung in Ungarn kaum etwas sagt. Sie scheint in der aktuell so zugespitzten Pandemie-Lage schlicht nicht fähig zu sein, dem Treiben einzelner Regierungschefs Einhalt zu gebieten. Und genau deshalb weist der Fall Ungarn schon jetzt weit über die Corona-Krise hinaus in eine Post-Corona-Zeit, in der die Existenz der EU, wie wir sie kennen, offener denn je in Frage stehen wird.