In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Automatisierte Armut: Eine Guardian-Reihe zur Digitalisierung der Sozialsysteme
piqer:
Christian Huberts
Gerade erst hat das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit der Jobcenter, ihre »Kunden« zu sanktionieren, massiv eingeschränkt. Eine gute Nachricht, vor allem wenn man bedenkt, dass in Zukunft viele Entscheidungsprozesse der Sozialsysteme automatisiert werden könnten. Noch bestimmt ein Mensch mit gewissem Ermessensspielraum, ob eine Kürzung des Arbeitslosengelds II gerechtfertigt oder sinnvoll ist. Bald könnten auch Algorithmen – auf Grundlage gesammelter Daten – diese Aufgabe übernehmen.
Welche Konsequenzen daraus bereits in anderen Ländern erwachsen, offenbart die Artikelreihe »Automating poverty« des britischen Guardian. Ein UN-Report warnt eindringlich vor »Menschenrechts-freien Zonen«, in denen Technologiefirmen über das Schicksal armer Menschen entscheiden. In Australien führte die Einführung der Automatisierung zu einer Millionen zusätzlichen Auszahlungssperren bei der Sozialhilfe, unter anderem, weil Betroffene einen Telefonanruf (etwa auf Grund einer Depression) verpasst haben. Im Vereinigten Königreich stößt das »digital by default«-Paradigma gerade jene Menschen tiefer in die Armut, die mit digitaler Technologie ohnehin überfordert sind. In Indien führte der Fehler in einer biometrischen Datenbank schon zu einem Todesfall, weil der für seine Nahrungsrationen notwendige Fingerabdruck eines Mannes nicht erkannt wurde. Allen Fällen ist gemeinsam, dass Verantwortung nicht mehr klar zugeordnet werden kann.
Within that revolution, the human element of the welfare state is being diluted. Instead of talking to a caseworker who personally assesses your needs, you now are channeled online where predictive analytics will assign you a future risk score and an algorithm decide your fate.
Sie knirscht, die europäische Wirtschaftspolitik
piqer:
Thomas Wahl
Ist das Europa der 28 ein einheitlicher Markt – mit freiem Verkehr für Güter, Dienstleistungen, Kapital und Menschen? Diese Frage stellt der „Economist“. Und die Europäische Kommission verkündet dies auch. Die Wirklichkeit ist komplizierter:
This single-market policy has underpinned Europe’s continued, if somewhat diminishing, importance to the global economy. But three decades after it was dreamed up, Europe’s commercial unification is creaking. In parts it is incomplete and in others actively going backwards. At a time when Britain is attempting to leave the eu and trade wars loom, this is worrying. The health of the single market is vital to Europe’s economy.
Europas gemeinsamer Markt ist kein Konstrukt aus einem Guss, sondern das Ergebnis einer längeren Evolution und aufgebaut auf verschiedenen historischen Verträgen. Theoretisch sollten überall die gleichen Regeln gelten, aber die Ökonomien entwickeln sich schneller als jede Regulierung. So stieg etwa der Anteil der Dienstleistungen am GDP von zwei Dritteln auf drei Viertel. Die neuen Jobs des letzten Jahrzehntes entstanden dort.
The single market, on the other hand, was originally devised for goods—stuff made with the steel and coal from which the ever-closer union was to be built. Markets for such goods could be liberalised by opening up borders, or boosted by agreeing joint rules on things like product safety. Abolishing barriers to trade in services is much harder.
Die EU schätzt, dass etwa 5.000 unterschiedliche nationale Gesetze existieren, um den jeweils eigenen Dienstleistungsmarkt zu schützen. Dieser Vorteil für das produzierende Gewerbe führt u. a. dazu, dass wir ein Kontinent der güterproduzierenden Unternehmen bleiben. Was Auswirkungen auf die Löhne hat, die bei modernen digitalen Dienstleistern wie etwa Amazon oder Google höher sind.
Europa, Du musst schneller und einheitlicher werden – kann man da nur sagen. Die Zeit für „applying bricks-and-mortar rules to a digital economy“, sie ist vorbei.
Reich, mächtig, klimaschädlich: Die schmutzigen G20
piqer:
Nick Reimer
20 Staaten sind zusammen für etwa 80 Prozent der weltweiten Treibhausgase verantwortlich: die Länder der G20, also Industrienationen wie die USA, Japan, Kanada, Australien und Staaten der EU sowie Schwellenländer, die sich zu den größten Volkswirtschaften der Welt gemausert haben: China etwa, Indien, Südafrika, Südkorea, Russland, Brasilien, Indonesien oder Saudi-Arabien.
20 Länder, die 64 Prozent der Weltbevölkerung vereinen, aber 80 Prozent der Treibhausgase: Das Netzwerk Climate Transparency hat untersucht, wie die Klimapolitik der G20-Staaten zu bewerten ist. Ergebnis: Trotz Parisvertrag und Lippenbekenntnis zu mehr Klimaschutz stiegen die Emissionen aus G20-Quellen 2018 um 1,8 Prozent an. Die Bundesrepublik fällt im Bericht mit zwei Negativ-Rekorden auf: Für das Heizen und Kühlen von Häusern verursachen die Deutschen rund 50 Prozent Emissionen mehr als der Durchschnitt der EU. Im Vergleich mit den anderen G20-Staaten liegen die Emissionen sogar doppelt so hoch. Und auch im Verkehrssektor liegen deutschen die Pro-Kopf-Emissionen deutlich über dem G20-Schnitt: bei 1,99 Tonnen Treibhausgase jährlich ohne Flugverkehr im Vergleich zu 1,13 Tonnen.
Auf Kurs für das 1,5-Grad-Ziel ist laut Bericht kein einziges Land der G20. Die Autoren haben dennoch eine optimistische Botschaft: Rund die Hälfte der G20, darunter die EU, dürfte ihre bisherigen, selbst gesetzten Klimaziele erfüllen. Allerdings zeigt der Befund auch, wie wenig ambitioniert diese Ziele waren: Aktuell schlittert die Welt wegen der G20-Staaten in ein durchschnittlich drei Grad wärmeres Klima am Ende des Jahrhunderts. Der Weltklimarat IPCC hatte mit seinem Sonderbericht vor einem Jahr deutlich gemacht, dass bereits bei einer Zwei-Grad-Erwärmung unkontrollierbare Folgen der Klimakrise drohen.
„Flammendes Inferno“: Vorahnungen auf das, was kommt, lassen sich derzeit in Australien besichtigen. Allerdings steht zu befürchten, dass die Folgen in einer mehr als zwei Grad wärmeren Welt wesentlich schlimmer werden.
Brauchen wir die Schuldenbremse?
piqer:
Frank Lübberding
Im Jahr 2009 beschloss der Bundestag im Rahmen der Föderalismuskommission II die Neuregelung der staatlichen Ausgabenpolitik im Grundgesetz. Der Art. 109 GG löste den zumeist als wirkungslos beschriebenen Art.115 GG in der alten Fassung ab. Im neu gefassten Art. 115 GG findet man deren Konkretisierung. Was das Bundesfinanzministerium darunter versteht, ist hier nachzulesen.
Nun gibt es seit Monaten eine Debatte über diese verfassungsrechtliche Schuldenbremse, die jenseits der früheren Lagerbildung unter Ökonomen geführt wurde. Michael Hüther ist das interessanteste Beispiel für diesen Diskussionsprozess. In dem Kommentar von Gerald Braunberger werden die beiden zentralen Argumente zur „schwarzen Null“ und zur „Schuldenbremse“ genannt:
„Das Konzept der „Schwarzen Null“ ist hilfreich, wenn damit in guten wirtschaftlichen Zeiten staatliche Neuverschuldung verhindert wird. Aber das Konzept ist kontraproduktiv, wenn in einer schweren Rezession der Staat verpflichtet werden soll, auf jeden Fall Haushaltsdefizite zu vermeiden. Das alles ist seit Jahrzehnten bekannt. Die „Schuldenbremse“ ist nicht identisch mit der „Schwarzen Null“. Denn hinter der „Schuldenbremse“ verbirgt sich neben einer politischen auch eine ökonomische Logik: Sie gestattet dem Staat in einer Rezession einen bestimmten finanzpolitischen Spielraum, verpflichtet ihn ansonsten aber zu einem strengen Wirtschaften.“
Pro und Contra kann man ansonsten noch in den Links finden. Die zentrale Frage ist aber nicht ökonomischer, sondern verfassungspolitischer Natur. Sie betrifft den Umgang mit dem Grundgesetz, das meint, politisches Handeln unter immer mehr rechtliche Vorbehalte stellen zu müssen. Dafür war diese Grundgesetzänderung von 2009 ein desaströses Beispiel. Damit verschwindet politische Verantwortung hinter einem rechtlichen Vorhang. Das befördert aber in Krisen wiederum die Phantasie von Politikern, nach Umgehungstatbeständen zu suchen. Etwa bei der Schuldenbremse: Nur falls jemand danach suchen sollte.
Versorger schreiben mit Kohlekraftwerken rote Zahlen
piqer:
Ralph Diermann
Kürzlich verkündete der Energie-Branchenverband BDEW eine gute Nachricht: Die Energiewirtschaft wird ihr Klimaziel für 2020 wohl deutlich übertreffen. Grund dafür ist vor allem, dass die Kohlekraftwerke immer weniger Strom liefern. Ihnen macht die Konkurrenz durch die erneuerbaren Energien und durch Gaskraftwerke (die von billigem Erdgas profitieren) sowie der gestiegene CO2-Preis zu schaffen.
Das auf EU-Themen spezialisierte Portal Euractiv meldet nun, dass die europäischen Versorger mit ihren Kohlekraftwerken derzeit sogar richtig Geld verlieren – laut einer Studie des britischen Think Tank Carbon Tracker insgesamt 6,6 Milliarden Euro allein in diesem Jahr. Davon entfielen 1,9 Milliarden Euro auf Deutschland. Carbon Tracker prognostiziert, dass spätestens 2030 in Europa das letzte Kohlekraftwerk vom Netz gehen wird.
Diese Zahlen sind brisant, weil RWE-Chef Rolf Martin Schmitz im Frühjahr eine Entschädigung von bis zu 1,5 Milliarden Euro pro Gigawatt Braunkohleleistung dafür fordert, Anlagen im Zuge des Kohlekompromisses vorzeitig vom Netz zu nehmen. Warum aber sollte der Staat eine Entschädigung zahlen für etwas, mit dem die Unternehmen schon heute Geld verlieren?
Allerdings bezweifeln die Kraftwerksbetreiber die Ergebnisse von Carbon Tracker, wie Euractiv auch deutlich macht. So verweist Uniper darauf, dass die Hälfte des Kohlestroms per Termingeschäft verkauft worden sei – zu mutmaßlich höheren Preisen. RWE betont zudem, dass sich die Ertragslage der Kohlekraftwerke mit dem Abschalten einiger Anlagen sowie dem Atomausstieg in den nächsten Jahren bessern werde.
Dem deutschen Establishment fehlt es an kollaborativer Kompetenz
piqer:
Anja C. Wagner
Das Problem der deutschen Wirtschaft wie Gesellschaft ist das nahezu fundamentalistische Denken in klassischen Modellen mitsamt inkrementellen Verbesserungen. Entsprechend wird Digitalisierung auch eher als Versuch interpretiert, bisherige Aktivitäten digital zu verlängern. Wenn überhaupt!
Fast nirgends wird konsequent transformativ gedacht. Erst recht nicht gehandelt. In der Forschung kaum. In der Wirtschaft selten. In der Zivilgesellschaft nur in Abgrenzung zur Verteidigung bisheriger Ansprüche. Und in der Tagespolitik in der Folge auch nicht.
Ganz im Gegenteil: Die bisherigen Cash Cows werden gehätschelt und gepäppelt. Das erklärt den beständigen Versuch der deutschen Politik, die Großindustrien und bestehenden Institutionen immer wieder zum Jagen zu tragen.
Jetzt soll es GAIA-X richten. Der deutsch-europäische Plattform-Versuch, an den nur wenige Digital-Enthusiast*innen glauben. Aber dessen Entwicklung es richten soll, um der Abhängigkeit von amerikanischen oder gar chinesischen Plattformen entgegenzuwirken. So will es der deutsche Wirtschaftsminister.
Dabei kann bezweifelt werden, ob diese Entwicklung, sollte sie jemals das Licht der Welt erblicken, die deutschen Unternehmen inspiriert, mehr Initiative hin zu transformativen Geschäftsmodellen zu entwickeln.
Wer darüber hinaus die Schwierigkeiten der deutschen Industrie kennt, im Rahmen des Industrie-4.0-Projekts ein gemeinsames Betriebssystem für die digitale Fabrik zu bauen, darf Zweifel anmelden, ob sie nun zur Zusammenarbeit bereit sind, wenn noch Mittelständler und Start-ups dazukommen.
In diesem Sinne: Weiterschlafen!
„Ich war für diese schöpferische Zerstörung“ – ein Treuhänder erzählt
piqer:
Tino Hanekamp
Die Treuhand steht symbolisch, aber oft auch praktisch für das Trauma der Ostdeutschen, sie ist „Der Gründungs-Mythos des ostdeutschen Rechtspopulismus“, es stellt sich die Frage: „Hat die Treuhand den Osten zerstört?“ Das Thema ist emotional und politisch aufgeladen und komplex, es braucht „Schlaglichter für den Weg zu einer Neudeutung“ – und neue Perspektiven. Hier die eines ehemaligen Treuhänders. Detlef Scheunert war der einzige Ossi im Vorstand des westdeutschen Abrissunternehmens und berichtet in diesem Interview pointiert und meinungsstark von seinen Erfahrungen.
SPIEGEL: Wäre es mit Ihrer Biografie nicht Ihre Aufgabe gewesen, bei den westdeutschen Treuhand-Managern für den ostdeutschen Blick zu werben?
Scheunert: Das habe ich damals selbst so nicht empfunden. Ich habe mich für Volkswirtschaft interessiert, Hayek gelesen, später von Schumpeters Konzept der schöpferischen Zerstörung. Der Jammerossi kam auf und dieses Gejammere ging mir maßlos auf die Nerven. Ich war für diese schöpferische Zerstörung. Man musste die alten Männer nach Hause schicken.
SPIEGEL: Sind Sie heute mit sich im Reinen, dass die schöpferische Zerstörung richtig war?
Scheunert: Ich war damals wie heute der Überzeugung, dass die Orientierung an der Marktwirtschaft richtig ist, weil ich die persönliche Freiheit der Menschen gesehen habe und fest davon überzeugt bin, dass Privateigentum die Grundlage von effizientem Wirtschaften ist. Ich halte wenig von Staatsbeteiligung. Der Osten, diese kleine DDR, war schon eine komische Gesellschaft. Geführt von Dilettanten, die aus ihrer Jugend heraus eine faszinierende Idee entwickelt hatten. Und dann haben sie das so vermurkst, weil sie an alten Dogmen festgehalten haben.
Was Macron wirklich sagte
piqer:
Eric Bonse
Der französische Staatschef Emmanuel Macron hat ein Interview gegeben. Dabei ist etwas Ungewöhnliches passiert: Ohne genau zu analysieren, was Macron zu sagen hatte, oder ohne bei ihm nachzufragen, wurde er schon dementiert. Kanzlerin Merkel, Ex-Verteidigungsministerin von der Leyen und Außenminister Maas beeilten sich derart, Macrons Aussagen öffentlich zurückzuweisen, dass man fast schon vermuten musste, er habe ins Schwarze getroffen.
Doch was hat Macron wirklich gesagt? Dass die Nato „gehirntot“ ist und deshalb auf den Müllhaufen der Geschichte gehört? Dass die EU „am Abgrund steht“ und deshalb nicht mehr der Mühe wert ist? Dass die USA Europa den Rücken kehren und deshalb nicht mehr zählen? Nein, all das hat Macron NICHT gesagt. Die Zitate sind richtig, aber aus dem Zusammenhang gerissen und falsch interpretiert. Wer Macron verstehen will, sollte sein Interview im Original nachlesen.
Wer sich dieser Mühe unterzieht, wird schnell feststellen, dass sich der „Gehirntod“ der Nato auf ein konkretes Ereignis bezieht – den unkoordinierten Abzug der US-Truppen aus Nordsyrien. Und dass es ihm vor allem darum geht, die Europäer aufzurütteln. Denn – so die französische Analyse – auf die USA unter Donald Trump kann sich die EU nicht mehr verlassen. Man muss diese Analyse nicht teilen. Doch man sollte sich wenigstens die Mühe machen, sie zu lesen und zu verstehen.