In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Freizeit, Internet und die globale Freizeitökonomie
piqer:
Thomas Wahl
In den wohlhabenden Ländern nutzen 81% der Bevölkerung das Internet. Das sind etwa 1 Milliarde, viel mehr werden es dort nicht werden. Weltweit sind es hingegen nur 50%, in China etwas mehr und in Indien nur etwa 30%, von Afrika nicht zu reden. Hier liegen die Wachstumspotentiale der Digital- und Unterhaltungswirtschaft. Insbesondere durch die Verbreitung preiswerter Smartphones, wie der Artikel am Beispiel eines indischen Dorfes zeigt:
That was in September 2016, when nobody in the villages had a phone. “Now everybody has one,” says Ms Sharma of Madhogarh. “You see old people walking around watching ‘Mahabharat’,” a television series based on a Hindu mythological epic. Down the road from her home three men sit in the shade of a rohida tree, playing a game of ludo on one of their phones.
Wie Feldforschungen zeigen, sieht man auch bei den „Armen“ den Trend „play dominates work, and leisure overtakes labour.” Wobei man ursprünglich dachte, es sei die gewerbliche Nutzung, die dominieren würde. Es entsteht eine Ökonomie zur „Zeitverschwendung“ für Milliarden. Ganz vorn liegt das Konsumieren von Videos.
In 2016 there were only 20 Indian YouTube channels with more than 1m subscribers. Today there are 600.
Man kann sagen, der digitale HighTech-Kapitalismus erreiche die Freizeit der Menschen in den aufstrebenden Ländern. Und wie wir den Prozess kennen, bedeutet dies schnelles Wachstum und Transformation kultureller und sozialer Gegebenheiten, große Chancen, aber auch Risiken.
Providing access to entertainment, opportunities for a richer social life and the ability to speak and be heard to hundreds of millions will mark a profound improvement in humankind’s aggregate quality of life.
Und die Affinität zu digitalen Medien wird in die Arbeitswelt ausstrahlen. Die Globalisierung geht weiter, ob es uns hier passt oder nicht.
Chinas Rolle im Iran-USA-Konflikt
piqer:
Lars Hauch
In der sicherheitspolitischen Debatte gibt es relativen Konsens darüber: Der Machtkampf zwischen China und den USA steht im Mittelpunkt geopolitischer Dynamiken. Die Kontrolle über den Golf von Oman, die derzeitige Bühne des Konflikts zwischen den USA und Iran, ist da keine Ausnahme (Hier eine super Folge von „Mit offenen Karten“, die greifbar macht, Teil welchen Gerangels der Indische Ozean ist).
Im Originalartikel erklärt Robert D. Kaplan die strategische Bedeutung Irans und der angrenzenden Gewässer als Teil von Chinas „neuer Seidenstraße“. Da geht es um Militärstützpunkte, Häfen, Pipelines und Straßen. Eine echte Perspektiverweiterung in Richtung Osten.
Außerdem kritisiert Kaplan die Kurzsichtigkeit Washingtons. Während China das große Ganze im Blick habe und seine Rolle als wirtschaftliche Macht immer weiter ausbaue, arbeiteten die USA sich an einem aussichtslosen Konflikt mit Iran ab.
Was also tun? Kaplans Antwort lässt nicht auf rosige Zeiten schließen. Zumindest nicht für die USA. Aber entscheidet selbst!
While the United States contemplates a war with Iran, the Chinese are engaged in trade and infrastructure building there. Gwadar is central to the maritime aspect of the Belt and Road Initiative, but China’s interest in Iran is about both land and sea. The routes that China has already built across Central Asia link China with Iran — an unbeatable combination in Eurasia, where Iran is a demographic and geographic organizing point.
An American war with Iran will drive the country even further into the hands of China, which already accounts for almost a third of all Iran’s energy trade. While China’s energy ties with Iran may be curtailed as a result of the Trump administration’s sanctions, as well as by the complexities of the Beijing-Washington trade talks, China and Iran will eventually find a way to cooperate and thwart the United States.
Gestern & Heute: Warum ist DAS KAPITAL aktueller geworden?
piqer:
Achim Engelberg
Gelegentlich liest man, nachdem man seit 2008 wieder öfters vom Kapitalismus spricht, das sei doch veraltet, das sei doch der olle Marx. Ach, wirklich? Wie oft schreibt denn Marx in seinem Hauptwerk vom Kapitalismus?
Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine „ungeheure Warensammlung“, die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware.
So der erste Satz von DAS KAPITAL.
Der Philosoph Wolfgang F. Haug kann in seinem Vortrag aus der ARD-Mediathek dieses Buch in 45 Minuten nicht vollständig erhellen, aber Marx als Denker der Übergänge, der Entwicklungen vorstellen, der den „genetischen Code“ von Gesellschaften und ihre treibenden Zwecke untersucht. Marx war der erste Theoretiker des Weltmarkts mit klassisch klaren Einsichten wie der, das Arbeit keinen Wert hat, sondern Wert bildet.
Wolfgang F. Haug wirft Fragen auf:
Warum bleibt diese Methode unübertroffen, obwohl Marx Computer oder Handys nicht mal erahnte?
Wie bestimmt das gesellschaftliche Sein unser Bewusstsein?
Warum spricht Marx vom Fetischcharakter der Ware?
Warum benötigt die kapitalistische Produktionsweise immer Kreditketten?
Weswegen erfolgt, wenn diese reißen, der Ruf nach dem Staat?
Welche Handlungsmöglichkeiten haben Staaten?
(Anmerkung: Nach 1929 finanzierte der US-Staat den New Deal, die Nazis die Rüstungproduktion. In beiden Fällen griff der Staat ein, was bisher in allen großen Krisen geschah, zuletzt nach 2008.)
Gerade Ökonomen, die Staatseingriffe für Sozialismus halten, kennen den genetischen Code unserer Wirtschaft nicht.
Der aufschlussreiche Vortrag verhält sich wie eine Hausapotheke zu einem Krankenhaus, aber manchmal ist erstere nützlich.
Arbeitnehmer optimieren ihre Arbeit selbsttätig mit Technik: Wem gehören die Produktivitätsgewinne?
piqer:
Ole Wintermann
Dieser Text auf forbes.com greift ein drängendes Thema auf, das allerdings im Moment noch nicht in der allgemeinen Debattenöffentlichkeit angekommen ist: Es geht um die Automatisierung von Jobs – allerdings in anderer Weise als dies im Moment mehrheitlich diskutiert wird. Die Autorin des Beitrags, Jeanne Meister, stellt im Gegensatz zu den Standard-Studien von McKinsey und Co. die Frage:
“What happens when either full time workers or gig workers self automate their jobs? (…) Who should benefit when workers develop a „hack“ into how their job gets done?”
Ausgangspunkt dieser Frage ist der Debatten-Thread auf einer der wichtigsten Debattenplattformen für Programmierer im Netz, dessen Ursprungspost inzwischen fast eine halbe Millionen Mal angeklickt wurde und in dem der Initiator fragt, ob es unethisch sei, Produktivitätsgewinne gegenüber dem Unternehmen zu verheimlichen.
Jeanne Meister fragt daher, wie wir mit Optimierungen des Arbeitsprozesses umgehen sollten, die von den Beschäftigten selbst umgesetzt worden sind. Wer profitiert finanziell von diesen Optimierungen und wie gehen wir mit den Folgen dieser Änderungen im Unternehmenskontext dann um? Wie kann das Unternehmen und wie können die Beschäftigten profitieren, wenn Arbeitnehmer mit Hilfe externer KI Prozesse optimieren? Wie teilen wir die Produktivitätsgewinne auf?
Meister appelliert an die Unternehmen, solche Bemühungen zu ermutigen und mehr wert zu schätzen, da diese Form des innovativen Umbruchs am besten “vor Ort” am Arbeitsplatz geschieht. Sie stellt die sogenannten “buy out”-Verträge, mit denen Arbeitnehmer pauschal sämtliche Arbeitsleistungen dem Arbeitgeber zur Verfügung stellen, infrage, da diese das Engagement der Arbeitnehmer zur Selbst-Automatisierung verhindern.
Meister schließt am Ende dieses wichtigen Posts zu Recht mit dem Aufruf:
“It’s time we turn the conversation from employers using automation to displace jobs to workers using technology to find better ways to do their jobs!”
Unpiq: Der Nationalsozialismus war kein Sozialismus
piqer:
Achim Engelberg
Über Enteignungen und Sozialismus wird wieder gesprochen – hierzulande, ja selbst in den USA. Das ruft Gegenstimmen hervor. Der Beitrag bündelt viele der Ansichten und bisher kippten viele Sozialismusversuche ins Autoritäre. Allerdings war die Nazi-Diktatur kein sozialistischer Staat, wie nun öfters behauptet, sondern ein kapitalistischer.
Das große Kapital profitierte von der Gewaltherrschaft – durch Zwangsarbeit und Enteignungen von jüdischem Besitz. Im Gegenartikel heißt es treffend:
Fast alle politischen Kräfte wollten unmittelbar 1945 deutsche Firmen sozialisieren. Die Möglichkeiten dazu sind in Länderverfassungen und im Grundgesetz der Bundesrepublik festgeschrieben. Damals war die Verstrickung deutscher Firmen mit dem Nationalsozialismus allgemein bekannt. Antifaschismus beinhaltete auch Antimonopolismus. Dass schließlich kaum sozialisiert wurde, hing mit dem Ausbruch des Kalten Krieges zusammen.
Es gibt zahlreiche sprechende Beispiele: Überall – auch in Auschwitz – waren die Unternehmen von der Allianz versichert. 1944 bestand die Hälfte der 100.000 Menschen umfassenden Daimler-Belegschaft aus Zwangsarbeitern. Viele Unternehmen vervielfachten ihren Umsatz – Siemens verfünffachte ihn. Das Vermögen der Industriellenfamilie Quandt, die als reichste Familie Deutschlands gilt, basiert auf Zwangsarbeit und der Enteignung jüdischen Besitzes.
Brosamen vom Herrentisch heißt ein Buch des Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Kuczynski, das auf seinem Gutachten aus dem Jahre 1999 fußt, in welchem er errechnete, dass Deutschland den Zwangsarbeitern 180 Milliarden DM an vorenthaltenem Lohn schulde. Dazu kommen die Leiden; an diesen trugen viele ein Leben lang schwer. Sogar im Bundestag diskutierte man darüber, aber am Ende erhielten die Überlebenden lediglich 10 Milliarden.
Die Stimmen, die Nazi-Diktatur und Sozialismus gleichsetzen, sind Wärter des Marktfundamentalismus. Gerade verstieg sich einer in die These, nicht der Berliner Senat ist Erfinder des Mietendeckels, sondern Adolf Hitler.
Kapitalisten und das unternehmerische Risiko
piqer:
Frank Lübberding
In früheren Zeiten war eines unumstritten, wenigstens in den kapitalistischen Ökonomien des Westens: Der Markt ist eine effektive Form zur Organisation des ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels. Diese Erkenntnis beruhte auf einem schlichten Gedanken: Niemand kennt die Zukunft. Deshalb ist der Markt mit seiner dezentralen Entscheidungsstruktur allen planwirtschaftlichen Verfahren überlegen. Vor allem lassen sich Irrtümer schneller korrigieren. Dann scheitert nicht der ökonomische und gesellschaftliche Wandel, sondern die Geschäftsmodelle der Investoren, die ihn falsch einschätzten.
Davon ist nichts mehr geblieben. Darüber gibt VDA-Präsident Bernhard Mattes zur Elektromobilität Auskunft. Beim Thema Ladeinfrastruktur argumentiert er ordoliberal in jede Richtung. Da findet sich mehr Staat und mehr Markt, und das beides gleichzeitig. Nur eines findet man nicht: Das Vertrauen in ein funktionierendes Geschäftsmodell. Das war bei Tesla anders. Die dachten für ihre vermögende Kundschaft beides zusammen: Sie investierten in Autos und die entsprechende Infrastruktur. Elon Musk geht damit unternehmerische Risiken ein.
Nichts davon ist bei den deutschen Herstellern zu spüren. Die wollen sich das unternehmerische Risiko abnehmen lassen, weil sie vom Geschäftsmodell nicht überzeugt sind. Tatsächlich würden sich ansonsten alle möglichen Investoren mit Geschäftsideen überbieten, um diese Infrastruktur aufzubauen. Die Liberalisierung des Fernverkehrs ist nur ein Beispiel. Hier die Sichtweise eines Marktteilnehmers.
Klassischerweise greift der ordoliberale Staat erst ein, wenn die anfängliche Wettbewerbsintensität später zur Monopolbildung führt. Kapitalisten hielten den Wettbewerb nämlich schon immer bloß in der Theorie für eine tolle Idee. Bei der Elektromobilität soll der Staat wie der Funktionär einer staatlichen Planwirtschaft agieren. Kurioserweise unter Beifall der Kapitalisten. Die sind nämlich nicht so blöd, politische Ideen mit Geschäftsmodellen zu verwechseln.
Mit Zuversicht das System „hacken“, um politischen Druck auszuüben, empfiehlt Harald Welzer
piqer:
Anja C. Wagner
Sehr interessanter Talk zwischen dem „naiven“ Tilo Jung und dem stets braungebrannten Lacoste-Träger Harald Welzer über Klimawandel, Kapitalismus, Reichtumsverteilung etc. – und wie wir diesen Fehlentwicklungen begegnen können.
Dabei prallen naive Tagespolitik auf strukturelle Überlegungen, die das Ausmaß unserer gegenwärtigen Zeitenwende andeuten. Es bräuchte nämlich eine grundlegende Revolution, wollte man wirklich etwas verändern. Dazu müsste man aber selbst aufstehen, sich widersetzen, zivilen Ungehorsam an den Tag legen und nicht nur zustimmend der Jugend zunicken.
Unsere Lebensgrundlagen, nein unser Lebensstil ist das zentrale Problem – unser jährlich gesteigerter Konsum und eine Politik, die sich weigert, politisch zu handeln, stattdessen die Lösungen in die Privatsphäre zieht. Dazu „infantilisierend“ nicht über Wahrheiten spricht, eben dass unser Lebensmodell die Zivilisation womöglich auslöschen wird, dass nicht Arbeit der zentrale Lebenszweck ist usw. usf.
Zum Glück wird sich das Problem der Altparteien durch das Ableben ihrer Wählerschichten in nächster Zeit erübrigen. Zurück bleiben jüngere Generationen, die sich aber gut eingerichtet haben in dem neoliberalen Lebensmodell, mit Fernflügen und sicheren Pöstchen.
Nun haben wir ja nicht mehr viel Zeit, das Ruder rumzureißen, also wie gelänge es, fragt Tilo Jung. Ich fasse das kurz zusammen, empfehle aber die gesamte Ansicht des Videos.
1. Utopien statt Dystopien entwickeln.
2. Best Practice-Hacks entwickeln (z.B. autofreie Kieze, Städte, Regionen).
3. Politisch handeln und sich nicht in Symbolpolitik verlieren.
4. Sich selbst reflektieren, ob man jetzt eher auf der persönlichen oder der politischen Ebene agiert.
5. Mit der Schüler*innen-Generation solidarisieren und eine zivilgesellschaftliche Bewegung aufbauen, um Druck auf staatliche Instanzen auszuüben.
Wirklich sehens- bzw. hörenswert aus meiner Sicht!
Wie wollen wir arbeiten? Ein Überblick über gute Podcasts zum Thema Arbeit und Zukunft
piqer:
Benjamin Freund
An der Seite von Leonie Seifert führt piqer Daniel Erk alle 14 Tage knackige Gespräche. Mitunter geben Gastronominnen, Piloten und Erzbischöfe Einblicke in ihren gegenwärtigen Arbeitsalltag.
Vom Ende der Prokrastination, der Relevanz von Glaubenssätzen im digitalen Zeitalter und dem Wandel klassischer Lebensläufe erzählt dieser Podcast und erörtert zukunftsweisende Ideen:
Auf einem Trip zum Big Apple kam zwei Unternehmern aus Hamburg die Idee, ihre Begegnungen mit KI, Clouds und Arbeitsmethoden wie dem Working Out Loud in Buch und Podcast zu verewigen. Innovationsgeist knallt auf eine philosophische Grundfrage: Warum arbeiten wir?
Firmenfunk glaubt daran, dass jeder Mensch eine gute Arbeit verdient, die er mit Leidenschaft und Lust ausführen kann. Zuletzt erklärte Hotelcoach Annett Reimers, was Unternehmen für zufriedene Arbeitnehmer ändern müssen:
Eine Sendung, so angenehm wie eine Yoga-Sitzung: Wie geht Karriere ohne Karriereleiter? Wie fühlt sich ein Dreistunden-Arbeitstag an? Hilft der Powernap wirklich? Brauchen wir noch Büros? Warum sind wir alle so gestresst und was können wir dagegen tun?
Komplexe Forschung wird in der Podcast-Reihe des DGB einfach erklärt. piqerin Cornelia Daheim hatte den Podcast schon vor einiger Zeit empfohlen. Wie eine Koexistenz von Digitalisierung, Flexibilität und Selbstbestimmung denkbar ist? – Menschen müssen in der Lage sein, Arbeit und Leben gut zu vereinbaren.
Die neuen Grünen als praktizierende Systemtheoretiker?
piqer:
Thomas Wahl
Adam Soboczynski macht sich mit diesem Zeit-Artikel und den Ideen des Soziologen Armin Nassehi auf, das aktuelle Erfolgsgeheimnis der Grünen zu ergründen. Ist es die Vielfalt und Widersprüchlichkeit:
Die Grünen können sowohl für Industriepolitik (Baden-Württemberg) als auch für Enteignungen (Berlin) einstehen, für ethnische Homogenität und Zuwanderungskritik (Tübingen) ebenso wie für möglichst offene Grenzen (überall sonst) oder für Modernitätskritik. Die Freude an sexueller Liberalisierung geht Hand in Hand mit einer Vorschriftslust in Ernährungs- und Mobilitätsfragen. Derart schwer kombinierbare Ziele und Haltungen würden alle anderen Parteien an den Rand des Zusammenbruchs führen, die Grünen aber scheinen gerade aus den gesellschaftlichen Paradoxien ihre Kraft zu ziehen.
Ja, sagt Nassehi (u.a. nach Diskussionen mit Habeck), das korrespondiert mit der Vielfalt und Widersprüchlichkeit unserer in Teilsysteme ausdifferenzierten Gesellschaft – Luhmann lässt grüßen. Die überkommenen Links/Rechts-Schemata sind passé, genau wie die Volksparteien der Industriegesellschaft mit ihren abgegrenzten Klientelinteressen. Die komplexe Realität verlangt die Verschränkung unterschiedlicher Teilsysteme, meist quer zu Interessengruppen und Einzelstrategien. Der Tipp, man müsse Vertreter unterschiedlicher Systemlogiken vernetzen, erscheint da durchaus logisch, um politische Gestaltungsmacht zurückzuholen.
Luhmann hatte das ökologische Problem schon 1986 als besonders schwierig eingeschätzt:
Die Teilsysteme der Gesellschaft könnten mit ihm nämlich nichts anfangen, ökologische Probleme entsprächen einfach nicht ihrer Logik, und die Politik, auf die dann alle setzten, sei in der funktional differenzierten Moderne nur noch ein Subsystem unter anderen und unfähig, den anderen Systemen der Gesellschaft ökologisches Handeln plausibel zu machen und dieses machtvoll durchzusetzen.
Also müssen wir Akteure unterschiedlicher Betrachtungsebenen miteinander Reden – Wirtschaft, Recht, Technik, Bildung …