In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Sozialismus für die Reichen… gegen die argumentative Basis der Einkommensungleichheit
piqer:
Dominique Lenné
In diesem intelligenten und gut geschriebenen Long-Read des Guardian werden wir alle mit Argumentationshilfen gegen die Ungleichheit der Einkommen versorgt. Naturgemäß ist er auf die Vereinigten Staaten und das Vereinigte Königreich fokussiert, aber natürlich gelten die Grundlinien der Logik für jedes Land.
Ein zentraler Punkt darin ist die Laffer-Kurve, die das Staatseinkommen als Funktion der Steuersatzes aufträgt. Laffer stellte richtigerweise fest, dass wenn der Steuersatz oberhalb eines Optimums liegt, eine Steuersenkung zu höherer Produktion und zu mehr Staatseinnahmen führe. Er und seine Kumpanen unterstellten allerdings, dass der Steuersatz fast immer oberhalb des Optimums sei. Dies war dann die Begründung für die massive Senkung der Spitzensteuersätze von um die 70% auf um die 40% in den USA Reagans und dem UK Thatchers. Das Experiment ist aber fehlgeschlagen. Heute setzen Leute wie Piketty das Optimum bei 83% an.
Selbst das scheinbar so offensichtliche Argument, dass niedrigere Steuern zu mehr Anstrengung und mehr Produktion führe, ist Ideologie, denn der Begünstigte kann entweder beschließen, sein Leben nun auch mit weniger Arbeit bestreiten zu können, als auch sich das Mehreinkommen durch Beschneidung des Einkommens Anderer zu verschaffen, wie geschehen. (Die US CEOs erhöhten ihre Einkommen durch Senkung der Dividenden.)
Auch der „Mein Geld gehört mir“-Kampfruf wird zerlegt, indem herausgearbeitet wird, wie sehr alle Produktion eine Kollektivleistung im Kontext staatlichen Wirkens ist.
Auch dass mehr Ungleichheit zu mehr Meritokratie führe, wird als falsch entlarvt: in der Praxis führt sie zu einer de-Facto-Aristokratie.
Und so geht es weiter über etliche Bildschirmseiten.
Wie gerecht ist die CO2-Steuer? Eine mögliche Antwort: Sie verteilt das Geld vom Land in die Stadt
piqer:
Alexandra Endres
Im Modell klingt es einfach: Wer CO2 ausstößt, zahlt dafür eine Steuer, der Staat nimmt Geld ein, gibt es aber komplett wieder zurück an seine Bürgerinnen und Bürger – und wenn er es als Pro-Kopf-Pauschale auszahlt, können die Haushalte mit geringerem Einkommen unterm Strich sogar profitieren. Denn sie stoßen in der Regel weniger CO2 aus als die Wohlhabenderen, bekommen aber den gleichen Betrag pro Kopf zurück.
Soweit die Theorie. Die Praxis ist aber komplizierter. Die Wirtschaftswoche hat schon Anfang Mai Berechnungen des Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC) veröffentlicht, in denen die Wissenschaftler die Auswirkungen einer CO2-Steuer in unterschiedlicher Höhe, kombiniert mit einer Kopfpauschale, auf vier typische Haushalte untersuchten: städtisch oder ländlich, mit Kindern oder ohne, mit unterschiedlichen Einkommen. Das Ergebnis: Wohlhabende Großstadtpaare zahlen drauf. Mittelschichtsfamilien in der Stadt profitieren stärker als jene auf dem Land. Der Single in der Stadt mit geringem Einkommen hat für jede betrachtete Steuerhöhe mehr Geld in der Tasche als vorher.
Jetzt hat das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) für die ZEIT (für deren Online-Redaktion ich arbeite) eine ähnliche Rechnung aufgemacht. Sie betrachten eine Steuer in Höhe von 20 bzw. 180 Euro je Tonne CO2 und sie gehen ebenfalls davon aus, dass die kompletten Einnahmen in Form einer Kopfpauschale an die Bevölkerung zurückfließen. Dann schauen sie, wie sich das auf vier Beispielfälle und auf verschiedene Haushaltstypen auswirkt.
Die Ergebnisse: Familien profitieren eher – logisch, wegen der Kinder, denen die Kopfpauschale ja auch gezahlt wird. Wer mit Öl heizt, verliert. Wer Auto fährt, auch – beides ist auf dem Land eher der Fall als in der Stadt. Das Geld wird also vom Land in die Stadt umverteilt – das scheint mir ein wichtiger Punkt zu sein. Nicht eindeutig beantworten lässt sich laut RWI aber die Frage, ob Arme oder Reiche profitieren.
Staatsplan-Kapitalismus –
oder doch ein Sozialismus?
piqer:
Thomas Wahl
Ein neues System zur sozialen und wirtschaftlichen Steuerung von Gesellschaften kristallisiert sich in China aus. Es könnte zur ultimativen Herausforderung für den demokratisch-kapitalistichen Westen werden.
… durch die aktuellen Entwicklungen in der Digitalisierung werden die Karten neu gemischt. Big Data und künstliche Intelligenz können dazu beitragen, dass die Transaktionskosten im Sinne Williamsons in zentralistischen Gesellschaften minimiert werden. Über soziale Indikatoren lässt sich ein selbst steuerndes System nach dem Anliegen „der Planer“ installieren.
Das Ganze wäre nicht nur ein anderes Wirtschaftssystem, sondern auch eine soziale Gesamtsteuerung durch Informations- und Kommunikationstechnologien – der Traum Lenins von der „Sowjetmacht + Elektrifizierung“ würde in gewisser Weise wahr. Digitale Innovation zur Messung und Steuerung von menschlichem Verhalten, zur Planung der Wirtschaft und das bei steigender Produktivität und Wohlstand. Mit dem „Social Credit Score“ und der Gesichtserkennung züchtet man den „Neuen Menschen“. Ob neben der Parteiführung dann noch andere Bürger mit entscheiden, die soziale Kreativität bestehen bleibt und was mit den Privatunternehmen passiert, das wird sich zeigen.
Eine mich insgesamt erschreckende Entwicklung, die aber heute nicht unwahrscheinlich ist:
Das mag der chinesischen Bevölkerung sogar als relativer Fortschritt erscheinen, weil das System im Vergleich zu Kaderwillkür transparenter sein kann. Westliche Gesellschaften aber sollten angesichts dieser Entwicklungen genau hinschauen …
Gerade bei den großen Herausforderungen der Gegenwart – vom Klima bis zum globalen Wettbewerb – könnten solche zentral administrierten Gesellschaften wirtschaftlich und politisch überlegen sein. Sie reagieren schneller und können große Projekte ohne große Diskussionen durchziehen. Zumindest so lange wie der Wohlstand wächst und das Volk mitzieht.
CO2-Preise wirken: Gaskraftwerke verdrängen Kohlemeiler
piqer:
Ralph Diermann
Das Fraunhofer Institut für Solare Energiesysteme (ISE) hat frische Zahlen zur Entwicklung der Stromerzeugung in den ersten fünf Monaten dieses Jahres: Wie die taz mit Bezug auf das ISE berichtet, produzierten Braunkohlekraftwerke von Januar bis Ende Mai 17 Prozent weniger Strom als im Vorjahreszeitraum, Steinkohlemeiler gar 22 Prozent.
Autor Bernward Janzing liefert dafür mehrere Erklärungen. Eine davon passt sehr gut zur gegenwärtigen Debatte um eine allgemeine CO2-Bepreisung: Die zuletzt spürbar gestiegenen Preise für EU-Emissionszertifikate hätten dazu geführt, dass Kohlekraftwerke unwirtschaftlicher, die deutlich saubereren Gaskraftwerke jedoch wirtschaftlicher würden. Das könne man unter anderem am Stromhandel mit den Niederlanden ablesen: Die Holländer produzieren nun selbst mehr Strom in ihren Gaskraftwerken, statt Kohlestrom aus Deutschland zu importieren. Auch in Deutschland erzeugten Gaskraftwerke mehr Strom (plus zehn Prozent) – ein schönes Beispiel dafür, wie CO2-Preise in angemessener Höhe eine Lenkungswirkung entfalten können.
Einwanderungspolitik als Reparation
piqer:
J. Olaf Kleist
Oft wird in der Migrationsdebatte beschworen, dass es oberste souveräne Pflicht sei, die Grenzen zu schützen. Dabei wird gerne vergessen, dass gerade europäische Staaten kein Problem damit hatten und haben, Grenzen anderer Staaten zu missachten: von Kolonialismus über Kriege bis zum Klimawandel, seit hunderten Jahren bis in die Gegenwart. Dabei ist der Bezug zwischen den anderen Grenzen und den europäischen nicht nur rhetorisch: es sind häufig die langfristigen Konsequenzen des weltweiten Handelns des Westens, die zu Armut, Konflikten und Diktaturen führen – vor denen Menschen heute und in Zukunft fliehen. Ethisch gesehen kann hier durchaus eine direkte Linie der Verantwortung von den einen Grenzen zu den anderen gezogen werden. Migration kann aber auch ganz praktisch als Reparation dienen: Die Gelder, die Migrant*innen in ihre Herkunftsländer senden, sogenannte Remittances, sind dreimal mehr als die globale Entwicklungshilfe.
Nun, Migration ist kein Allheilmittel und die Bedingungen, unter denen Migrant*innen meist leben müssen, sind alles andere als leicht. Ein solcher Ansatz lässt sicherlich viele Fragen offen: Wie können die Rechte von Migrant*innen gesichert werden, gerade wenn es eine historische Schuld ihnen gegenüber gibt? Bedeutet historische Verantwortung, dass es gegenüber manchen Gruppen eine präferierte Einwanderungspolitik geben sollte, oder dass alle Betroffenen das Recht haben, einzuwandern? Dennoch ist das Argument dieses New York Times Artikels bedenkenswert, nicht nur für die USA, sondern auch für Deutschland und Europa (und alle mächtigen Staaten). Sollte etwa historische Verantwortung in einem punktebasierten Einwanderungssystem berücksichtigt werden? Letztlich müssen sich auch unsere Grenzen und Einwanderungspolitik weiter entwickeln, denn gerade das macht Souveränität aus – wie auch Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen.
Warum Klimaschutz Wachstum braucht
piqer:
Ralph Diermann
Klimaschutz verlangt, die Logik des steten Wachstums zu durchbrechen – das ist Common Sense in weiten Teilen der Umweltbewegung. Ralf Fücks – ehemaliger Grünen-Spitzenpolitiker, langjähriger Geschäftsführer der Heinrich-Böll-Stiftung und Streiter für einen progressiven, undogmatischen Liberalismus – hat daran aber so seine Zweifel. In einem Interview mit dem IPG-Journal (herausgegeben von der Friedrich-Ebert-Stiftung) liefert er einige interessante Thesen zum Zusammenhang von Klimaschutz und Wirtschaftswachstum.
So argumentiert Fücks vereinfacht zusammengefasst, dass der ökologische Umbau enorme öffentliche wie privatwirtschaftliche Investitionen erfordert. In einer schrumpfenden Volkswirtschaft würden dafür aber die Mittel fehlen. Was in den Augen mancher Klimaschützer aber kein Problem wäre, weil auch das Schrumpfen zu einer Minderung der CO2-Emissionen führt. Für Fücks ist das der falsche Ansatz, da dies zu einer Spaltung der Gesellschaft führen würde. In der Folge käme es zu einer Blockade notwendiger Klimaschutz-Maßnahmen – siehe Gelbwesten-Proteste.
In diesem Zusammenhang warnt Fücks auch vor einer „moralischen Überhöhung der ökologischen Frage“. Klimaschutz dürfe nicht zu einem „Kulturkampf zwischen den ökologisch Einsichtigen und den Verstockten und Zurückgebliebenen“ werden. Klimaschutz sei nicht in erster Linie eine Frage der privaten Lebensführung. Stattdessen sei vor allem die Politik gefordert: Sie müsse die Voraussetzungen für eine grüne industrielle Revolution schaffen – zum Beispiel über die Internalisierung von ökologischen Kosten in die Marktpreise.
Vom Citoyen zum Transferempfänger –
die Aufarbeitung der Aufarbeitung tut not
piqer:
Achim Engelberg
Wolfgang Engler sieht die toxische Mitgift der DDR. So hängen für ihn die Ausfälle von Jugendlichen gegen Ausländer, etwa 1992 in Rostock-Lichtenhagen, vor allem mit dem letzten Jahrzehnt des untergegangenen Staates zusammen.
Den Aufstieg der Rechten im Osten heute verbindet er mit den Widersprüchen des Einigungsprozesses.
Die Westdeutschen erhielten nach 1945 die Demokratie von oben geschenkt, der Osten erkämpfte sie 1989 von unten.
Kaum war das primäre Ziel des ostdeutschen Aufbruchs erreicht, verbriefte Grundrechte und elementare Freiheiten für jedermann, verloren Millionen von Ostlern den wirtschaftlichen und sozialen Halt. Bestimmungsgewinn in politischer und rechtlicher Hinsicht und sozialökonomischer Bestimmungsverlust gingen Hand in Hand. .. Ohne Kenntnisnahme dieses Grundwiderspruchs wird die gesamte nachfolgende Entwicklung unverständlich.
Dabei vergleicht er diesen Wandel mit ähnlichen, zeitlich aber ausgedehnteren Prozessen anderswo; im Rust Belt der USA oder in Industrieregionen in England und Frankreich. Hier vollzog sich für den Deuter des Umbruchs im Osten
dieselbe, tief greifende Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft – mit demselben Resultat: der massenhaften Entfremdung der Bürger von demokratischen Institutionen, Verfahren und Prozessen sowie des dazu komplementären Aufstiegs nationalistischer, vulgärdemokratischer Strömungen und Parteien.
Im Geist von Mephisto im Faust, der eine Kraft ist, die das Böse will und das Gute schafft, interpretiert Wolfgang Engler, der frühere Direktor der Schauspielschule Ernst Busch, die Situation:
Der Auftrieb der Neuen Rechten bewirkte eine Repolitisierung der Gesellschaft, die bis heute anhält. Die Wahlbeteiligung steigt, die Profile der Parteien schärfen sich, die derweil weitverzweigten Kanäle der öffentlichen Meinungsbildung reflektieren die wachsende Polarisierung der Gemüter und verstärken sie zugleich. Der Druck, selbst Stellung zu beziehen, wächst. Zuschauer des politischen Geschehens werden zu Akteuren.
Europäische Mieter-Initiativen – eine bisher kaum beachtete Entwicklung
piqer:
Jürgen Klute
David Harvey schrieb in seinem Buch „Rebellische Städte“ (Suhrkamp 2013), dass sich der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit mehr und mehr in die urbanen Zentren verlagert und sich dort als Konflikt zwischen Investoren und Bürger*innen ereignet. Harvey reflektiert diese Verschiebung anhand vieler konkreter Beispiele rund um den Globus. Eine Variante dieses Konfliktes ist der um bezahlbaren Wohnraum. Aus Harveys Sicht fehlte es zum Zeitpunkt der Arbeit an seinem Buch allerdings noch an der Vernetzung dieser Konfliktpunkte auf globaler Ebene.
Europäische Mieter-Initiaven teilten diese Sicht Harveys und begannen bereits 2013 mit der Vernetzung ihrer Arbeit, die in der öffentlichen Wahrnehmung bisher allerdings kaum eine Rolle gespielt hat.
In Berlin fand in diesen Tagen ein Treffen dieses Netzwerks statt. Volkan Ağar berichtet über dieses Vernetzungs-Treffen und schildert sowohl die unterschiedlichen Problemlagen der Initiativen wie auch deren bisherige Aktivitäten und weitere Planungen, die in Berlin auf der Tagesordnung standen.
Kann das Elektroauto die Umwelt retten?
piqer:
Sven Prange
Die Versuche, das Auto nachhaltiger zu machen, gingen bisher nach hinten los: Mit dem Diesel wollte die Autoindustrie den Verbrennungsmotor sparsamer machen, verschmutzte aber die Luft noch mehr. Dann sollte Treibstoff aus nachwachsenden Rohstoffen Autofahren umweltfreundlicher machen, schuf aber die Konkurrenz von Tank und Teller. Nun soll das E-Auto die individuelle Mobilität retten, indem es Autofahren sauberer macht. Aber tut es das wirklich? Für eine Antwort zeichnen die Autoren die Lieferkette für das Herzstück des Elektrofahrzeugs nach, die Batterie: Man lernt, dass für die Herstellung des Lithiums für eine Batterie 80.000 Liter Wasser in Wüstenregionen benötigt wird, dubiose Händler aktiviert und indigene Völker beraubt werden.
„Ich habe den Eindruck, die Industrie reagiert auf die Frage, woher kommen Ihre Rohstoffe mit: Die werden uns geliefert. Wir wollen nichts davon hören, welche Umweltschäden wir anrichten“,
fasst der Physiker Harald Lesch das Dilemma zusammen. Der Film erklärt, warum dennoch gerade Politik und Wirtschaft voll auf das E-Auto setzen: Weil es Autofahrern leichter zu verkaufen ist, als Rad- oder Bahnfahren. Weil es Industriestrukturen fast unangetastet lässt. Weil es das Nachdenken über eine Mobilitätsrevolution erspart. Das freilich tut der Film auch und endet, bevor Alternativen diskutiert werden.
Die wären spannend in Zeiten, in denen ein grüner Ministerpräsident wie Winfried Kretschmann mit seinen SPD- und CSU-Kollegen Stephan Weil und Markus Söder ein Bündnis zur Rettung des (E-)Autos schmiedet und sagt:
„In der Mobilitätswende wird das Auto erst mal noch eine große Rolle spielen.“
Dennoch ist der Film sehenswert. Nicht nur, weil Co-Autor Valentin Thurn, der Doyen der Öko-Filmszene, ein Meister darin ist, seine ZuschauerInnen für oberflächliches Nachhaltigkeitsstreben ein schlechtes Gewissen zu machen, ohne dabei schlechte Laune zu verbreiten. Sondern weil der Film durch starke Figuren das technische Thema emotional präsentiert.
Die SPD im Übergang vom Sinkflug in den Sturzflug
piqer:
Jürgen Klute
Die SPD befindet sich seit geraumer Zeit im Sturzflug. Einen traurigen Höhepunkt stellt das Ergebnis der Europawahl vom 26. Mai dar.
Seit Jahren reagiert die SPD auf ihren Niedergang mit einem immer schnelleren Austausch ihres Führungspersonals (das in der Tat oft wenig überzeugend war und auch ist). Doch es gibt gute Gründe zum Zweifel daran, dass der Grund des Niedergangs der SPD in Personalfragen zu finden ist.
Der Sozialhistoriker Lutz Raphael vertritt in einem Interview mit dem Spiegel die These, dass das, was wir heute als Sturzflug der SPD beobachten, schon vor langer Zeit als sachter Sinkflug begann.
Nach Raphael waren es weder die Personalentscheidungen noch die Hartz-Reformen unter Schröder, die zur heutigen Krise der SPD führten. Für Raphael begann der Niedergang bereits in den 1980er Jahren.
Raphael zeichnet in seinem Interview den langen Erosionsprozess der SPD im Zeitraffer nach.
Die Wahl der Europäer – Angst und Konsens
piqer:
Thomas Wahl
Ivan Krastev ist bekannt für seine dezidiert osteuropäische Sicht – hier auf die EU nach der Parlamentswahl. Er zeichnet aus dem Wahlergebnis verschiedene interessante Linien.
Zunächst sieht er einen Konsens, bestehend in zwei Punkten. Erstens seien die populistischen Parteien keine Exitparteien mehr, sie haben nach dem Schock des britischen Austrittsdesasters Angst bekommen. Nun wollen sie die Macht in Europa.
Der zweite Konsens:
Keine Partei ist mehr für offene Grenzen. Die Aussengrenzen zu festigen, ist also ein weiterer Konsens. War bis vor kurzem die Migration von aussen das grösste Problem, ist es nun die Innenmigration: Schengen und die Personenfreizügigkeit. … Die Bevölkerung in allen zentral- und osteuropäischen Staaten – mit Ausnahme von Tschechien, Italien, Griechenland und Spanien – macht sich grössere Sorgen über die Auswanderung als über die Einwanderung.
Vor allem die ungelöste Auswanderung könnte in Osteuropa zu tiefen Ressentiments insbesondere gegen Deutschland führen, wo diese Migrationsströme großteils hingehen. Kommt damit die Personenfreizügigkeit innerhalb der EU in Gefahr?
Ein weiteres Problem des alternden Europas, vielleicht das größte, ist seine Zukunftsangst und die Fixierung auf die Vergangenheit. Wenn zwei Drittel der Europäer glauben, das Leben in der Vergangenheit war besser, so ist dies kein gutes Omen. Ein introvertierter Kontinent, auf seine „glorreiche“ Vergangenheit orientiert, ohne Innovationen, in einer sich dramatisch ändernden globalen Umwelt? Werden wir zum Museum für Touristen aus den selbstbewussten, wachsenden asiatischen Ländern? Oder werden wir im neuen Kalten Krieg zwischen China und den USA zerrieben – ohne eigene Strategie und ohne „hard power“? Zum Schluss etwas Optimismus:
Das Gute an der Demokratie ist, dass wir über die Zukunft nachdenken müssen. Wenn wir jemanden wählen, dann aufgrund von seinen Versprechen über die Zukunft. Also kanalisiert die Demokratie die Debatte immer über die Zukunft.