Fremde Federn

Eurozentrismus, Geld als Medikament, Handelsstreit

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wie sich das deutsche Altersvorsorgesystem entwickelt, warum wir über unsere Beziehung zu China nachdenken sollten und wieviel Einfluss Lobbyorganisationen tatsächlich in Brüssel ausüben.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Eurozentrismus in der Klimadebatte

piqer:
Frank Lübberding

Die umweltpolitische Debatte hat mit einem Paradox zu kämpfen, das Ernst-Ulrich von Weizsäcker im Jahr 1990 so formulierte: „Es vergeht kaum ein Gespräch (vor allem mit jungen Menschen), bei welchem ich nicht … gefragt werde, woher ich die Kühnheit hätte, einen derart langsamen Weg vorzuschlagen, wo doch die Welt in Flammen stünde.“ Es ging um das Konzept einer Steuerreform, um ökologische Gesichtspunkte in Investitions- und Konsumentscheidungen einzubinden. Darum geht es auch heute – und eine CO2-Steuer ist immer noch keine Feuerwehr zum Löschen von Bränden. In dem Papier der Deutschen Bank (Autor: Eric Heymann) werden die politischen Widersprüche deutlich, die der Umsetzung entgegenstehen. Das betrifft die unterschiedlichen Interessen handelnder Akteure, und kommt zudem in diesem Zitat zum Ausdruck:

„Milliardensubventionen für bestimmte Technologien (z.B. erneuerbare Energien, Elektromobilität), Bauvorschriften für den Energieverbrauch von Gebäuden, CO2-Grenzwerte für Pkw, Effizienzstandards für elektronische Konsumgüter, das Verbot bestimmter Produkte (Stichwort: Glühbirne), aber auch Energiesteuern konnten nicht verhindern, dass die globalen CO2-Emissionen in den letzten Jahren tendenziell gestiegen sind.“

Diese Maßnahmen reflektieren den europäischen und deutschen Politikansatz. Der Eurozentrismus bestimmt nämlich bis heute unsere Perspektive auf ein globales Problem. Das war im Jahr 1990 zweifellos noch gut zu begründen. In Weizsäckers Buch „Erdpolitik“ war der phänomenale Aufstieg Chinas noch nicht abzusehen. Er erwähnte China trotzdem in einem bemerkenswerten Zusammenhang. Unglücklicherweise legten „die USA, die Sowjetunion und China als größte Beiträger zum Klimahauseffekt eine starke Zurückhaltung an den Tag.“ Das ist so geblieben, außer bekanntlich die Existenz der Sowjetunion. Die ökologische Steuerreform ist  keine politische Feuerwehr, aber eine Möglichkeit, um Innovationspotentiale zu heben. Daran hat sich seit 1990 übrigens auch nichts geändert.

Ein kanadischer Arzt „verschreibt“ eines der wirksamsten Medikamente der Welt: Geld

piqer:
Rico Grimm

In den vergangenen Jahren haben immer mehr Armutsforscher einen neuen Blick auf ihr Thema gewonnen. Sie fragten sich: Was macht Armut mit den Körpern der Menschen? Die Ergebnisse sind eindeutig. Je ärmer ein Mensch ist, desto eher wird er krank oder stirbt früher. Krankheit ist ein vielschichtiges Phänomenen, das nicht nur mit chemischen Substanzen behandelt werden kann. Das erkennen immer mehr Ärzte und Vox hat hier einen kanadischen Arzt gefunden, der die Erkenntnisse direkt in seine Behandlung einfließen lässt. Sein Ziel ist, die Menschen schrittweise aus der Armutsfalle herauszuholen:

The first thing I developed was something very simple called a clinical tool on poverty, a three-page handout offering a three-step approach to dealing with poverty in the context of a typical primary care appointment. It’s basically: Ask everybody about their income, be aware of the evidence linking poverty to poorer health outcomes, and then actually do something about it — connect patients to supports.

Wo die deutsche Energiewende auch scheitert

piqer:
Rico Grimm

Ein ernüchternder Text, aber ein wichtiger. Die Zeit-Reporterin Laura Cwiertina ist durch Deutschland gereist, dort entlang, wo die große Stromtrasse von Nord nach Süd laufen soll, die das Herzstück der Energiewende sein soll. Sie ist Protest begegnet, wo sie auch hinkam und zwar versucht die Autorin, diesen Protesten einen größeren Überbau zu geben, aber so ganz klappt das nicht. Die Protestler selbst sagen es: „Gut, ein bisschen Egoismus gehört dazu, das muss man zugeben.“

Was sie sich stattdessen wünschen? Dezentrale Stromerzeugung. Was wiederum unter anderem Windräder aufzustellen (gegen die ja auch immer wieder protestiert wird). Ob dieser Wunsch wirklich glaubhaft ist, solltet ihr nach der Lektüre des Textes selbst entscheiden.

piqd Wirtschaft #4: Altersvorsorge

piqer:
Moritz Orendt

Das vierte Wirtschaftsthema, das ich mir zusammen mit Georg Wallwitz vorgenommen habe, ist die Altersvorsorge.

Vor der Aufnahme dachte ich, dass dieses Thema sehr groß und komplex ist und wir deswegen wahrscheinlich ewig darüber sprechen werden.

Aber dann ist eine Episode von gerade mal 20 Minuten rausgesprungen und zumindest ich habe das Gefühl, dass wir alle wirklich wichtigen Aspekte behandelt haben und Altersvorsorge eigentlich nicht kompliziert ist.

Zu diesen Fragen haben wir Antworten gesucht:

  • Auf welchen drei Säulen fußt die Altersvorsorge in Deutschland?
  • Auf welchem System basiert die gesetzliche Rente in Deutschland?
  • Wo geht es hin mit der gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland?
  • Wie können wir sinnvollerweise privat für das Alter vorsorgen?
  • Warum haben zum Beispiel die Italiener so viel mehr Vermögen angespart als die Deutschen?
  • Was ist von Riester und Rürup zu halten?

Mit einem lapidaren Brief erklärt das US-Arbeitsministerium: Gig-Worker sind keine Angestellten

piqer:
Ole Wintermann

Nicht nur in der Handels- und der Außenpolitik verlässt die Trump-Administration den Pfad bewährter Verwaltungsprozesse und Berechenbarkeit. Auch in dem wenig beachteten Bereich des Arbeitsministeriums ist grad ein solcher Fall eingetreten, auf den Noam Scheiber in der NYT in einem relativ kurzen Text hinweist. So hat das Ministerium auf die Anfrage eines Plattform-Unternehmens unbekannten Namens auf die Frage nach dem Status der Menschen, die für die Plattform arbeiten, lapidar geantwortet, dass diese Menschen mitnichten Arbeitnehmer seien. Hiermit wurde mit einem sogenannten Opinion Letter – und nicht auf dem Wege der gerade durch die Obama-Administration etablierten Verwaltungsanordnungen – quasi mit einem Handstrich über das finanzielle und soziale Schicksal der auf Plattformen tätigen Menschen (UBER et al.) entschieden.

“The Obama administration discontinued opinion letters precisely because they are a capricious tool for settling complicated regulatory questions.”

Mit einem einfachen Brief wurde über das Schicksal von bis zu 5 Millionen Menschen in den USA entschieden. Die betreffenden Unternehmen haben mit diesem Brief aller Voraussicht nach im gleichen Zuge die Zusage milliardenschwerer Zusatzgewinne in der Zukunft erhalten, denn Mindestlöhne, Beiträge zu sozialen Sicherungssystemen oder die Bezahlung von Überstunden sind damit höchstwahrscheinlich vom Tisch. Der Autor jedenfalls weist am Ende deutlich darauf hin, dass dieser Brief ganz klar als strategische Vorentscheidung mit Blick auf die Unternehmen UBER und Lyft gesehen werden kann, die bereits in der Vergangenheit massiv Einfluss auf die politische Willensbildung dahingehend ausgeübt haben, dass sie den bei ihnen tätigen Menschen nicht die üblichen, wenn auch geringen Gestaltungsmöglichkeiten wie die Lohnentwicklung einräumen müssen. Der Oligarch ist also auch in dem Politikfeld ganz besonderen Interessen verbunden.

Welchen Einfluss hat der Lobbyismus in Brüssel tatsächlich auf die europäische Politik?

piqer:
Sven

Wer einer tiefer gehenden Einblick in den Lobbyismus am Hauptsitz der Europäischen Kommission sucht, wird in dieser einstündigen Audio-Diskussion fündig.

Vier Diskutanten mit unterschiedlichem Hintergrundwissen und Blickwinkeln ((1) Handelsverband Deutschland, (2) politischer Spitzenkandidat für die Europawahl, (3) NGO mit Schwerpunkt Transparenz, (4) Dozent zu Wirtschaftsjournalismus) beleuchten Funktionen, Arbeitsweisen, Stärken und Schwächen sowie Änderungsbedarf des Lobbyismus in Brüssel.

Eine Gefahr für die Demokratie besteht bei Weitem nicht. Aktivitäten zur Einflussnahme auf politische Entscheidungen sind auf europäischer genauso wie auf nationaler Ebene notwendiger Bestandteil eines funktionierenden demokratischen Systems. Die konkrete Ausprägung im Detail entscheidet darüber, ob diese Funktion Mehrwerte oder Nachteile für das Funktionieren der Demokratie erzeugt. Die Gesprächsrunde gibt daher Antworten u.a. auf folgende Fragen: Wo verlaufen die Grenzen zwischen Interessenvertretung und Korruption? Welche Mittel der Einflussnahme sind erlaubt? Wie können sich Minderheiten und finanzschwache gesellschaftliche Gruppen bei den EU-Parlamentariern Gehör verschaffen? Und welche Rolle spielen dabei die Medien? Welche Voraussetzungen braucht die journalistische Berichterstattung aus Brüssel, um das Beziehungsgeflecht zwischen Lobbyisten und Politikern in der EU angemessen darstellen zu können?

Wer sich dieser einstündigen Aufzeichnung annimmt, tätigt meines Erachtens eine gute zeitliche Investition abseits eines oberflächlichen Bashings europäischer Politik.

Eine Stadt ist immer nur so groß wie ihre Öffis.

piqer:
Paul Boes

Die Idee hinter dem heutigen piq finde ich besonders schön, weil sie einfach, elegant und wichtig ist: Wenn in einer großen Stadt alle Leute immer im Verkehr feststecken, dann reduziert sich die Population dieser Stadt effektiv, sodass genau diejenigen Dynamiken, die Großstädte normalerweise zu wirtschaftlich besonders produktiven Orten machen, auf der Strecke bleiben.

Genau das suggerieren, grob gesagt, die Ergebnisse einer aktuellen Studie von drei Forschern des Open Data Institute Leeds. Sie haben versucht zu erklären, warum in Deutschland, Frankreich und den USA größere Städte auch meist eine größere Pro-Kopf-Produktion aufweisen, aber im Vereinigten Königreich nicht. Die Antwort, die sie finden, ist erst unglaublich und dann einleuchtend: In letzterem sitzen die Leute in mittelgroßen Städten so viel im ÖPNV fest, dass die Ballungsraum-Effekte, die normalerweise für den Anstieg der Pro-Capita-Produktion verantwortlich gemacht werden, nivelliert werden durch die kleinere „effektive“ Bevölkerungsgröße dieser Städte. Natürlich gibt es in Deutschland und Frankreich auch Berufsverkehr, aber im UK sind die U-Bahnen viel weniger ausgebaut als etwa hierzulande, sodass der öffentliche Verkehr vor allem auf Bussen basiert, deren Fahrzeiten deutlich stärker der Rushhour ausgesetzt sind.

Der Artikel führt sehr angenehm und verständlich durch die verschiedenen Schritte der Analyse, sodass man die Schlussfolgerungen der Autoren gut nachvollziehen kann. Gleichzeitig ist der Artikel nicht peer-reviewed und offensichtlich müsste man noch weitere Tests durchführen, um zu entscheiden, ob es sich bei der Verbindung zwischen Per-Capita-Output und ÖPNV wirklich um einen kausalen Zusammenhang handelt. Aber in jedem Fall ist die Idee plausibel und die Lektüre stimulierend.

Warum der Westen sein Verhältnis zu China überdenken muss

piqer:
Dirk Liesemer

China und die USA haben sich in einem zunehmend heftigen Handelsstreit verkeilt. Manche sprechen auch schon von einem „Handelskrieg“. Eine chronologische Übersicht über die bisherige Eskalation findet sich auf der Seite der NZZ. Während wir die Position der USA einigermaßen einschätzen können (jedenfalls sind wir mit Einschätzungen rasch zur Stelle), ist uns das Reich der Mitte bis heute fremd geblieben. Deshalb habe ich hier nun einen kostenpflichtigen „Weckruf“ von Bernhard Zand gepiqd, der seit einigen Jahren für den Spiegel aus China berichtet. Anlass für den Text war der kürzlich abgehaltene Seidenstraßengipfel. Vor allem aber handelt es sich um ein Plädoyer dafür, sich viel intensiver mit diesem widersprüchlichen Land, seiner konfliktreichen Geschichte und seinem furiosen Aufstieg auseinanderzusetzen.

Wer finanziert Nigel Farage und seine Brexit-Partei?

piqer:
Silke Jäger

Brexit ist gleich dodgy money, also seltsame Geldflüsse. Vermutlich gibt es niemanden, bei dem es dazu mehr Fragezeichen gibt als beim Brexit-Posterboy Nigel Farage. Im Video des britischen TV-Senders Channel 4 News bleibt Farage leider alle Antworten schuldig, aber das nutzt ihm nicht viel. Auch der Guardian hat dazu Interessantes herausgefunden. Sein Haus, seine Bodyguards, seine Reisen, sein Büro, sein gesamter Lebenswandel kosten mehr als er mit dem Gehalt eines EU-Abgeordneten bezahlen kann. Und dass er nicht pleite geht, dafür sorgt einer, den aufmerksame piqd-Leser schon kennen: Arron Banks, der Selfmade-Millionär, gegen den in UK ermittelt wird – wegen Verstoßes gegen die Parteienfinanzierung.

Doch was sich Farage in Privatangelegenheiten organisieren kann – intransparente Förderung – gelingt ihm in politischen Angelegenheiten natürlich auch. Und das sollte eigentlich die Aufsichtsorgane des EU-Parlaments in höchste Alarmbereitschaft versetzen. Denn die Art und Weise, wie Farages Brexit-Partei zu Geld und Mitgliedern kommt, ist mehr als fragwürdig, wie dieser Text aus dem neu gegründeten Indie-Projekt Byline Times enthüllt.

Bereits vor Gründung der Partei hat Farage Geld eingesammelt. Zum Start am 12. April hatte er bereits 750.000 Pfund zusammen, in „kleinen Scheinen“. Die Mitgliederzahlen gehen dank kreativem Registrierungsverfahren über seine Website durch die Decke. Und wer Mitglied wird, „spendet“ per Klick gleich noch 25 Pfund Mitgliedsgebühr. Per Paypal.

Das Merkwürdige: Das System zählt jeden, der sich registriert als Parteimitglied, auch wenn er nichts bezahlt. Paypal lässt die Rückverfolgung der Spendernamen nicht zu und wer für die Partei die Großspende von 80.000 Pfund übrig hatte, will Farage erst nach der EU-Wahl sagen.

Noch Merkwürdiger: Kaum eine Behörde scheint das zu interessieren, sagt die Byline Times hier …

Das Video liefert einen guten Einstieg, aber die Byline-Times-Texte sind eine dringende Leseempfehlung. Man bleibt kopfschüttelnd zurück …

Händetrockner vs. Papiertuch – ein erstaunlich dreckig geführter Industriekrieg

piqer:
Dmitrij Kapitelman

„Seien Sie darauf gefasst, oft angelogen zu werden“, sagt George Campbell. Ja, von einem regelrechten Krieg im Händetrocknungs-Business redet der Marketingmann. Papiertuch versus elektrische Händetrockner! Absurd? Eigentlich nicht, wenn man die umkämpften Margen betrachtet. Fünf Milliarden Dollar fließen jährlich auf dem Trocknungsmarkt.

Herrlich trocken zeichnet Autor Samanth Subramanian zuerst die historisch gewachsene Dichotomie beider Verfahrensweisen nach. Verortet sie kulturell und führt nebenbei in einige grundsätzliche philosophische Probleme des Feldes ein: Wie trocken ist trocken? Sind alle Hände gleich geschaffen?

Aber der Hauptfokus bleibt beim Handelskrieg. Recycelt? Ganz toll! Aber emissionsreich um die Welt geschifft werden müssen die Tücher trotzdem! Teuer und umweltfeindlich! Sagt die eine Seite. Die Papierlobby kontert. Mikro-Kot umherblasende Drecksschleudern! Möglicherweise sogar Brutbecken für antibiotika-resistente Superbazillen! Beide Seiten instrumentalisieren die Wissenschaft, um ihre Thesen wasserdicht zu machen. Finanzieren Studien, veranstalten Konvente (sabotieren die der anderen). Dieser Aspekt ist themaübergreifend vielleicht der spannendste in diesem toll recherchierten und großartig aufgeschriebenen Text über ein omnipräsentes und doch meist unbeachtetes Thema.