Seitdem Donald Trump Präsident der USA ist, hört man immer wieder die Forderung, dass Politik auf Evidenz basieren muss. Aber was heißt das überhaupt? Wird Politikgestaltung in Zeiten von Donald Trump irrationaler? Und ist eine Politik, die ausschließlich auf Fakten und wissenschaftlichen Ergebnissen basiert, überhaupt möglich?
Was ist evidenzbasierte Politikgestaltung?
Im Kern geht es darum, dass Entscheidungen über staatliche Programme und Politiken auf Basis von verfügbaren Forschungsergebnissen getroffen und durch experimentelle Studien und Evaluationen informiert werden – das Ziel lautet also, die Wirksamkeit von Programmen zu untersuchen. Schließlich sollen Steuergelder nicht für etwas ausgegeben werden, das nicht funktioniert oder sogar schädlich ist. In der Politik setzte sich diese Idee zuerst unter New Labour in Großbritannien und unter Bill Clinton in den USA durch.
Ursprünglich kommt die Idee aber aus der Medizin und leitete sich aus der Frage “Wie kann man die Wirksamkeit eines Medikaments nachweisen?” ab. Wenn man zum Beispiel den Effekt von Aspirin untersuchen möchte, steht man vor einem Problem: Man kann einer Person entweder das Aspirin geben oder man gibt es ihr nicht. Man kann die Person aber nicht in beiden Zuständen beobachten und kann deswegen die „was wäre gewesen, wenn…“-Frage nicht beantworten.
In der evidenzbasierten Medizin werden diese Schwierigkeiten durch sogenannte randomisierte Experimente umgangen. Dabei wird per Zufallsverfahren entschieden, welche Testpersonen das Medikament erhalten und welche nicht. In der Politik könnte das dann so aussehen: Man hat ein Aktivierungs-Programm entwickelt, welches Langzeitarbeitslose zurück in Beschäftigung bringen soll. An der Studie nehmen 200 Langzeitarbeitslose teil, von denen 100 zufällig ausgewählt werden. Nach Ablauf des Programms wird dann geschaut, ob das Programm einen signifikanten Effekt auf die Beschäftigungsquote der Projektteilnehmer hatte. Wenn ja, hat die Politik ein Argument, dieses Programm flächendeckend einzuführen. Wenn nein, dann hat der Test den Steuerzahlern wahrscheinlich viel Geld gespart.
Wenn man noch einen Schritt weitergeht, würde man viele solcher einzelnen Studien in sogenannten systematischen Reviews und Meta-Analysen zusammenfassen. Diese gelten als höchste Form von Evidenz. Durch das Synthetisieren von Erkenntnissen aus verschiedenen Studiensituationen und Versuchsanordnungen entsteht ein relativ robustes Bild davon, ob ein Medikament – oder in diesem Fall: ein Programm oder ein Gesetz – wirkt oder nicht.
Warum es nicht so einfach ist
Bis zu diesem Punkt scheint evidenzbasierte Politikgestaltung eigentlich ein „No-Brainer“ zu sein: Politik und Verwaltung schauen sich die verfügbare Evidenz an und entscheiden dann, welche Programme funktionieren und welche nicht.
Und in manchen Fällen ist die Evidenz-Grundlage für politischen Handlungsbedarf tatsächlich relativ eindeutig. Es gibt praktisch keine wissenschaftlichen Zweifel daran, dass der Klimawandel menschengemacht ist. Es gibt auch keine wissenschaftlichen Zweifel an der Evolutionstheorie. Wenn Politiker in den USA und anderswo sich weigern, auf Grundlage dieses wissenschaftlichen Konsens Politik zu machen, dann ist das dogmatisch und weltfremd. In Deutschland zeigte Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) in der Feinstaubdebatte so eine Komplettverweigerung. Dieser Dogmatismus hat aber nur am Rande etwas mit dem Kern von evidenzbasierter Politik – dem Design und der Implementierung von wirksamen Politiken – zu tun.
Doch evidenzbasierte Politikgestaltung hat natürlich auch Grenzen. Beispiel bedingungsloses Grundeinkommen: Derzeit werden überall auf der Welt Experimente zu den Effekten des bedingungslosen Grundeinkommens durchgeführt (unter anderem in Finnland). Ein abschließendes Bild dazu, was passieren würde, wenn man das Grundeinkommen flächendeckend einführt, kann die Wissenschaft aber so nicht bieten – egal wie viele Experiment durchgeführt werden. Das bedeutet, dass Parteien letztendlich entscheiden müssen, ob sie auf dieser Plattform antreten. Es ist und bleibt in erster Linie eine politische und ideologische Entscheidung.
Auch evidenzbasierte Politikgestaltung ist immer noch politisch
Dass evidenz-basierte Politikgestaltung ein hoch komplexer Prozess ist, zeigt sich auch an anderer Stelle: Selbst ein Commitment zu evidenzbasierter Politik führt nicht zu komplett rationalen Politikentscheidungen. Paul Cairney, Professor für Public Policy an der University of Stirling, nennt das “Die Politik hinter evidenzbasierter Politikgestaltung”: Menschen sind keine voll-rationalen Wesen. Wir müssen ständig Entscheidungen treffen, die auf unvollständigen Informationen basieren, und werden von allen möglichen Seiten beeinflusst. Das trifft insbesondere auch dann zu, wenn es um etwas Komplexes wie das Produzieren neuer Programme geht. Dagegen sind weder Konservative noch Progressive gefeit. Und so wird es auf allen Seiten immer auch Politiken geben, die Forschungsergebnissen widersprechen. Rationale Politikgestaltung bleibt also mehr Ideal als Realität.
Ein Beispiel ist das amerikanische Programm “Scared Straight”, welches darauf abzielt, straffällig gewordene Jugendliche mit dem harten Alltag in Gefängnissen zu konfrontieren und so „zu läutern“. In einer Meta-Studie von mehreren randomisierten Experimenten wurde festgestellt: Die Intervention hat wahrscheinlich keinen positiven Effekt und ist möglicherweise sogar schädlich für die Teilnehmer: Jugendliche, die an dem Programm teilgenommen haben, wurden sogar eher rückfällig als Jugendliche, die nicht teilnahmen. Das könnte unter anderem dadurch erklärt werden, dass die Insassen, die sie im Gefängnis treffen, als Vorbilder gesehen werden. Trotz dieser relativ klaren Ergebnisse gibt es das Programm noch in vielen US-Bundesstaaten – auch in demokratisch regierten.
Die Förderung von evidenzbasierter Politikgestaltung
Wissenschaftliche Studien helfen, die Wirkung von Gesetzen und Programmen zu evaluieren und so bessere Policy-Entscheidungen zu treffen (oder zumindest sehr schlechte zu vermeiden). Ob Trumps Regierung ein großer Fan dieses Konzepts ist, darf bezweifelt werden, und Populisten stellen mit ihrem postfaktischen Politikstil eine besondere Herausforderung für die westlichen Demokratien dar. Aber auch schon vor Trump und Co. war der Gesetzgebungsprozess kein rationaler Prozess, der ausschließlich auf Fakten und wissenschaftlichen Ergebnissen basierte.
Es lohnt sich jedoch, gerade auch angesichts der Herausforderungen des Populismus evidenzbasierte Politikgestaltung unabhängig davon zu betrachten – und entsprechend zu fördern. Abschließend nur drei Ideen dazu (die ich in weiteren Beiträgen noch ausführen werde):
- Sozialpolitische Programme sollten in Deutschland konsequent und unabhängig evaluiert werden.
- Es sollte eine Stelle für evidenzbasierte Politikgestaltung im Bundeskanzleramt geschaffen werden.
- Wissenschaftler sollten ihre Forschung breiter und verständlicher kommunizieren und aktiv versuchen, Entscheidungsträger zu unterstützen.
Zum Autor:
Johannes Müller ist Data Scientist und Sozialwissenschaftler. Er ist Vorsitzender von CorrelAid e.V. und Fellow am Hertie Innovationskolleg. An der University of Oxford hält er einen Master of Science in „Evidence-based Social Intervention and Policy Evaluation”. Außerdem bloggt er regelmäßig auf Medium, wo dieser Beitrag zuerst in einer früheren Form erschienen ist. Auf Twitter: @jj_mllr. Webseite: johannesmueller.xyz