In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Der Hunger auf Rohstoffe: Verdreifacht seit 1970
piqer:
Nick Reimer
Ehrlich gesagt hätte ich liebend gern zu den bevorstehenden Schulstreiks gepiqd: „Christian Lindner hat sich gerade selbst zur Karikatur eines alten Sacks gemacht“, titelte das Lifestyle- und Jugendmagazin vice. Der FDP-Chef hatte den Schülern geraten, Klimaschutz „den Profis“ zu überlassen. Weshalb die sich nun zusammenschlossen, um Laien wie Lindner Beine zu machen: Mehr als 12.000 Wissenschaftler*innen unterstützen die Proteste der Schüler*innen und fordern von Lindner und Co. endlich konsequentes Vorgehen gegen den Klimawandel.
Da ist erfreulich viel Musik drin, in der neuen Bewegung. Allerdings ist diese auch dringend notwendig, wie neue Erkenntnisse der Wissenschaft zeigen: Der soeben erschienene Global Resources Outlook 2019 kommt zu dem Schluss, dass sich der Abbau von Rohstoffen seit 1970 mehr als verdreifacht hat. Geht es so weiter, wird sich der Ressourcenverbrauch bis 2060 auf 190 Milliarden Tonnen pro Jahr gegenüber 1970 verdoppelt haben.
Damit werden auch die Treibhausgasemissionen steigen. Das International Resource Panel (IRP), ein UN-Wissenschaftler*innen-Forum ähnlich dem „Weltklimarat“ IPCC, prognostiziert, dass die Konzentration der Wärmeblocker bei dieser Entwicklung bis 2060 um 43 Prozent wächst. Denn Abbau und Verarbeitung von Materialien, Brennstoffen und Nahrungsmitteln verursachen die Hälfte der globalen Treibhausgasemissionen und über 90 Prozent des Verlusts an biologischer Vielfalt und Belastung der Gewässer. Mit seinem neuen Prognosebericht fordert die UN politische Maßnahmen zu einer rohstoffschonenden, ressourceneffizienten, zirkulären Wirtschaft.
Nicht die einzige Hiobsbotschaft aus der Wissenschaft, die Schüler*innen dazu zwingt, auf die Straße zu gehen: Bisher identifizierten Wissenschaftler 16 unumkehrbare Klimakipppunkte im Erdsystem. Nun aber scheint ein weiterer identifiziert: In 40 Jahren könnte die Fähigkeit der Biosphäre, Kohlendioxid zu binden, schwinden. Derzeit „schluckt“ die Natur noch viel von unserer Klimaschuld.
„Der Liberalismus lässt die Menschen in Ruhe, aber nicht im Stich“
piqer:
Thomas Wahl
Auch wenn die Tendenzen der Vermögensungleichheit etwas eindimensional ausgelegt werden, ist dieser Text ein wichtiges Plädoyer für eine zukünftige liberale Politik, die an das Freiburger Programm von 1971 anknüpft. Damals propagierte die FDP einen „Sozialen Liberalismus“ mit einer Reform des Kapitalismus. Auch der Umweltschutz war angesprochen – er sollte Vorrang vor Gewinnstreben und persönlichem Nutzen haben.
Digitalisierung und Globalisierung sind in der Tat neue Herausforderungen:
Wir müssen den Kapitalismus deshalb erneut bändigen – wenn auch mit völlig anderen Instrumenten als in den 70er-Jahren. Besonders zu denken geben sollte uns, dass sich Millionen Menschen in den Industriestaaten als Verlierer der Globalisierung fühlen, weil die Verlagerung von Arbeitsplätzen nach Fernost Jobs gekostet und den Druck auf die Löhne erhöht hat. In Ländern wie Italien und Großbritannien, wo Populisten besonders großen Zulauf haben, sind die Reallöhne seit 2010 sogar gesunken.
So sehr dabei der Schutz von Privatsphäre, Solidarität und Sozialstaat gefragt sind, plädiert der Autor auch für ein liberales Korrektiv. Einen überschießenden „Angriff“ auf das Kapital sieht er als Gefahr für den Wohlstand – eine Balance ist gefordert.
Der Artikel ist der erste einer Reihe zu den angesprochenen Themen und wird in den nächsten Wochen fortgesetzt.
„Die Komplexität der Energiewende wird massiv unterschätzt“
piqer:
Ralph Diermann
Nachdem piqd-Chef Marcus vor ein paar Tagen dem sich-selber-Piqen in einem Kommentar die Absolution erteilt hat, will ich hier ein kurzes Interview empfehlen, das ich mit dem Technikphilosophen Armin Grunwald geführt habe. Das Interview liegt mir sehr am Herzen, weil Grunwald, Leiter des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag, einige diskussionswürdige Thesen zur Energiewende vertritt, die in der Debatte bislang praktisch keine Rolle spielen.
Grunwald argumentiert, dass wir bei der Energiewende nur deshalb so langsam vorankommen, weil wir deren Komplexität dramatisch unterschätzen. Denn Politik und Wirtschaft gehen davon aus, dass es genügt, alte durch neue Technik zu ersetzen und einige Marktregeln zu verändern, so Grunwald. Die Energiewende sei aber nicht nur eine technische und ökonomische, sondern auch eine kulturelle und psychologische Aufgabe. Denn das Energiesystem präge in vielem unser Leben, privat wie beruflich. Dessen Umbau verlange also, Gewohnheiten und Rollen zu verändern – zum Beispiel bei der Mobilität. Zudem kollidiere die Energiewende mit tief sitzenden kulturellen Mustern, etwa Landschaftsidealen. Was jede Bürgerenergiegenossenschaft zu spüren bekommt, wenn sie einen neuen Windpark errichten will.
Grunwald plädiert nicht etwa dafür, Abstriche bei den Energiewendezielen zu machen. Sondern für mehr Ehrlichkeit in der Debatte über den Umbau des Energiesystems. Dazu gehöre auch, klipp und klar zu sagen: Es wird dabei viele Verlierer geben.
Nullwachstum kann keine Lösung sein
piqer:
Thomas Wahl
Der Artikel ist schon 2017 in Makroskop erschienen. Rainer Land, der Autor, beschäftigt sich seit den 1980er Jahren mit der Theorie J.A. Schumpeters und darauf aufbauend mit einer evolutorischen Sozialökonomik der Moderne und der Möglichkeit von Ökokapitalismus. Unsere ökologischen Krisen werden, seiner nachvollziehbaren Meinung folgend, verursacht durch den
die Umwelt zerstörende Ressourcenverbrauch: die CO2-Emissionen und die Emission anderer Klimagase, Schadstoffe und Abfälle und die Nutzung von Rohstoffen jenseits der Tragfähigkeitsgrenzen (beispielsweise Wasser und Abwasser, seltene Erden, Erdöl und andere Rohstoffe). Es geht also um die Stoffströme zwischen der menschlichen Produktion bzw. Konsumtion und der Natur, die Entnahmen und die Abprodukte.
Kann man das durch das Nullwachstum der Postwachstumsvertreter wirklich ändern oder wäre es nicht zielführender, die Stoffströme selbst zu reduzieren oder umweltverträglich zu gestalten? Der Autor meint, dass das quantitative Denken vieler Wirtschaftswirtschaftler, die Erklärung der Ökonomien durch die Zunahme oder Abnahme von numerischen Größen, in die Irre führt. Seine Strategie:
Wir brauchen Entwicklung. Wir brauchen sinkende Stoffströme und Ressourcenbelastungen, aber durch neue Produkte und Verfahren. Ich habe nichts gegen weniger Massenkonsum und bin für eine sinkende Arbeitszeit, wenn dies trotz des für den Umbau erforderlichen Investitionsschubs möglich ist.
Selbst wenn große Teile der wohlhabenderen Welt ihren materiellen Konsum drastisch reduzieren würden, bleibt noch die nachholende Entwicklung der Armen. Auch die ist umweltschonend nur über Innovationen sinnvoll zu gestalten und nicht durch den „Export“ konventioneller Schwerindustrien.
Unbedingt lesenswert ist auch der zweite Teil des Artikels als Antwort auf verschiedene Diskussionsbeiträge.
Vom Geld der Bürger
piqer:
Georg Wallwitz
Italien hat nun ein Bürgergeld eingeführt, ein bedingungsloses Grundeinkommen. Damit haben endlich Befürworter und Gegner des Konzepts einen echten Feldversuch, an dem sich die Auswirkungen des Experiments ablesen lassen.
Geht es schief (wovon ich fest ausgehe), werden die Befürworter auf einen Fehler in der Konstruktion verweisen können: Das Bürgergeld ist für italienische Verhältnisse viel zu hoch, der Abstand zwischen der Entlohnung sozialversicherungspflichtiger Arbeit und mühelosem Einkommen ist zu gering. In einem Land, in dem Schwarzarbeit nicht zu den unehrenhaften Tätigkeiten gehört, ist die Gefahr des Missbrauchs hoch.
Ein Land wird nur Wohlstand gewinnen und verteidigen, wenn gearbeitet und investiert wird, wenn es den Unternehmen gut geht und die staatlichen Institutionen effizient arbeiten. Durch Umverteilung wird der Wohlstand nicht größer (was nicht bedeutet, dass es keine Umverteilung geben sollte – sie muss nur das richtige Maß haben).
In Italien wird seit Jahren zu wenig investiert, weil es sich angesichts von Bürokratie und Steuerlast nicht lohnt. Das Bürgergeld führt sicher nicht zu mehr Investitionen. Hätte die Regierung die 7 Milliarden Euro, die nun (optimistisch geschätzt) in das Bürgergeld fließen, in Investitionen gesteckt, würden vielleicht mehr sinnvolle Jobs entstehen und der Gesellschaft wäre langfristig mehr geholfen. Aber der Populist denkt ungerne langfristig.
Was also tun, wenn das Geld für das Bürgergeld verbraten wird und für Investitionen nichts mehr übrig bleibt? Richtig, man nimmt einen Kredit bei China auf, schließt sich dessen „Neuer Seidenstraße“ an. Im Rahmen dieser Initiative kaufen Chinesen (oftmals bestehende) Infrastruktur und verlangen für deren Nutzung künftig hohe Abgaben (oder im Fall der Finanzierung von Neubauten: Zinsen).
Auch dieses Modell wird mittelfristig sehr weh tun. Aber Hauptsache, das Bürgergeld ist da.
Warum es Netflix & Co. nicht stört, wenn ihr eure Zugangsdaten weitergebt
piqer:
Rico Grimm
Es ist mittlerweile Standard bei Online-Abos: Einer schließt es ab und eine Gruppe tut sich dann zusammen, um die Kosten zu tragen und gemeinsam das Abo zu nutzen. Die meisten können sich wohl denken, dass diese Praxis auch schon den Anbietern aufgefallen ist, mehr noch, es wäre für sie ziemlich leicht, das Zugangsteilen zu unterbinden. Aber sie machen es nicht. Warum? Das beantwortet dieser kurze lesenswerte Report in der SZ: Zurzeit wird der Kuchen aufgeteilt, es geht um Marktanteile, Marktanteile, Marktanteile, der Profit soll später folgen. Oder wie es Walter White aus dem HBO-Streaming-Hit Breaking Bad mal formulierte: „First you corner the market, then you raise the prices. Simple economics.“
Wie eine Plattform überschüssige Waren an soziale Einrichtungen vermittelt
piqer:
Cornelia Daheim
Ein smarter Ansatz: Die Kölner Plattform Innatura vermittelt das, was bei Unternehmen Überschussware ist, an gemeinnützige Organisationen. Und von solcher Ware gibt es unglaublich viel („Jedes Jahr werden allein in Deutschland fabrikneue Waren im Wert von mehr als sieben Milliarden Euro zerstört“).
Die Gründerin, Juliane Kronen, war mal Partnerin bei der Boston Consulting Group, als ihr zufällig das Ausmaß dieser Überschüsse auf der einen und die mangelnde Vermittlung an diejenigen, die diese Waren gut gebrauchen könnten, deutlich wurde. Eine britische Charity solchen Vermittler-Zuschnitts gab es schon, und so gründete sie nach deren Modell Innatura. Dort kann sich jede gemeinnützige Organisation anmelden und Waren – zum Beispiel Zahnpasta – aus dem Katalog bestellen, und muss nur eine Gebühr und die Lieferung zahlen. Der Hebel, der hier umgelegt wird, ist eindeutig stark:
Wir kratzen an 16,5 Millionen Euro Warenwert, die ohne uns in den Abfall gewandert wären. Dem sozialen Sektor haben wir damit etwa 13 Millionen Euro gespart. Eine Studie der Uni Köln hat ergeben, dass wir etwa 500.000 Menschen erreicht haben. Nicht, dass die alle Zahnpasta bekommen hätten, aber eine Kinderhilfseinrichtung in Brühl hat sich von dem ersparten Geld zum ersten Mal Musiktherapie geleistet, 6000 Sonnenbrillen gingen nach Kambodscha, unter anderem für Patienten nach Augenoperationen, oder wir haben mal 30.000 Stücke Bekleidung von Levi’s bekommen, damit haben wir alle Berliner Flüchtlingseinrichtungen und Kleiderkammern für Obdachlose versorgt.
Für mich ein gutes Beispiel für das, was die viel gescholtene Plattform-Ökonomie auch bedeuten und bewirken kann, und zwar im positiven Sinne – wenn sie sozialen Zwecken und sinnvoller Umverteilung dient.