Fremde Federn

Gekaperte Staaten, Null-Grenzkosten-Gesellschaft, Bahn-Privatisierung

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wie verschiedene Länder den CO2-Ausstoß bepreisen, wie die Eurogruppe zu Europas undemokratischem Machtzentrum wurde und warum reiche Menschen eine andere Realitätswahrnehmung haben.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Das Maß der Ungleichheit

piqer:
Georg Wallwitz

Angus Deaton über Ungleichheit, wie man sie misst, was die Schwierigkeiten und Probleme dabei sind und warum das wichtig ist.

Der Mann hat nicht umsonst den Nobelpreis bekommen. Die Argumentation ist informiert und differenziert und ohne jede Polemik.

Sehr gut ist beispielsweise, dass er über die bloße Verteilung von Einkommen hinaus geht. Es gibt viele Indikatoren für das Wohlergehen einer Gesellschaft, von denen er die wichtigsten beschreibt.

Die verschlungenen Wege der Lobbyisten in der EU

piqer:
Jürgen Klute

Gemeinhin gilt Brüssel als ein Paradies der Lobbyisten. Von kritischen NGOs gibt es Touren durch Brüssel, die zu den verschiedenen Lobbyisten-Büros führen und auf denen der Einfluss auf die EU-Politik skandalisiert wird.

Doch ist der von Brüsseler Lobbyisten-Büros ausgehende Einfluss auf die EU-Politik wirklich so groß wie oft behauptet?

Eine in diesen Tagen erschienene Studie zum EU-Lobbyismus zeichnet ein deutlich differenzierteres Bild. Nach dieser Studie, die von der niederländischen NGO Corporate Europe Observatory in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Verband der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes (EPSU), Attac Österreich und der NGO LobbyControl erstellt und herausgegeben wurde, spielen die EU-Mitgliedsstaaten die zentrale Rolle im EU-Lobbyismus:

Unter dem Einfluss der Konzerne werden Staaten „gekapert“ und agieren in EU-Fragen eher in ihrem Interesse anstatt zugunsten des öffentlichen Interesses ihrer BürgerInnen und der ganzen EU.

Viele der Möglichkeiten mit denen die Mitgliedstaaten die Entscheidungsprozesse der EU beeinflussen sind nicht bekannt sowie weder transparent noch gut untersucht. Der Bericht geht neue Wege, indem er einen Überblick darüber gibt, wie die Mitgliedstaaten als Vermittler für Konzernsinteressen fungieren.

In den oft folkloristischen Darstellungen des Lobbyismus tauchen die Regierungen der Mitgliedsstaaten als Lobbykanäle in der Regel nicht auf. Es ist ein Verdienst dieser Studie, diese wenig bekannte Lobby-Funktion von Regierungen unter die Lupe genommen, analysiert und aufgezeigt zu haben.

Die Studie ist in Englisch erstellt. Auf die englische Vorstellungsseite der Studie ist auch hier der Link gesetzt. Es gibt aber u. a. eine deutschsprachige Zusammenfassung, auf die von der Vorstellungsseite der Studie aus ein Link gesetzt ist.

Tauschen und Teilen – „Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft“ für die Industrie?

piqer:
Thomas Wahl

Der Artikel stellt die Frage, ob man den Effekt der gegen Null sinkenden Grenzkosten (Kosten, die einem Unternehmen entstehen, um eine zusätzliche Einheit eines Gutes zu produzieren) aus der Welt der digitalen Dienste auf die Industrie ausdehnen kann.

Es war Jeremy Rifkin, der das Thema aufgebracht hat. Der US-amerikanische Ökonom, Soziologe und Autor ist für überraschende Zukunftsvisionen bekannt. In seinem 2014 erschienenen Buch „Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft“ entwirft er ein Szenario, in dem Tauschen und Teilen nicht nur für ein paar Dienstleistungen, sondern für große Teile der Ökonomie immer wichtiger werden. Aus unserer industriell geprägten Gesellschaft erwachse eine globale, gemeinschaftlich orientierte, so der Vordenker.

Heute versucht ein schwäbisches Start-up (natürlich, die Schwaben), eine kollaborative Industrieplattform aufzubauen. Damit sollen produzierende Unternehmen, obwohl sie Wettbewerber sind, automatisch freie Produktionskapazitäten melden, um damit anderen Unternehmen ein zusätzliches „Geschäft“ zu ermöglichen. Damit könnte der Weg zur Sharing Economy beschritten werden.

Betrachtet man das Aufkommen neuer Technologien wie 3D-Druck, Robotik, Mikrosystemtechniken, künstliche Intelligenz und das Internet der Dinge, die sich in einer digitalisierten und weitgehend automatisierten Wirtschaftswelt kombinieren, dann erscheint Rifkins Argumentation nicht mehr so unwahrscheinlich. Die Kosten für Kommunikation, Transaktionen, Logistik und Energie könnten weiter dramatisch sinken, wenn wohl auch nicht auf Null wie im Digitalen.

Und ob sich damit der Kapitalismus selbst abschafft, bleibt auch abzuwarten:

„Je mehr Güter und Dienstleistungen, die das Wirtschaftsleben unserer Gesellschaft ausmachen, sich in Richtung Nahezu-Null-Grenzkosten bewegen, (…) desto mehr wird sich der kapitalistische Markt in schmale Nischen zurückziehen, in denen Unternehmen, die Profit abwerfen, nur am Rande der Wirtschaft überleben.“

Es bleibt aber spannend!

„Reiche nehmen die Realität anders wahr“

piqer:
Alexandra Endres

In jüngster Zeit scheinen sich vermehrt Spitzenmanager zur Ungleichheit zu äußern, schreibt Jan Guldner in der Wirtschaftswoche. Zum Beispiel der Permira-Chef Kurt Björklund, der seit 23 Jahren in der Private-Equity-Branche arbeitet.

Wie kommt’s? Haben die Reichen ein schlechtes Gewissen? Wollen sie gar etwas ändern an den Vermögens- und Einkommensverhältnissen? Guldner befragt dazu den Soziologen und Elitenforscher Michael Hartmann. Dessen Antwort, ganz klar: Ach wo. Den Spitzenmanagern und Unternehmern geht es ums Geschäft.

Wenn sie sich äußern, geht es ihnen darum, ihre Geschäftsmodelle zu schützen und nicht etwa um ernsthafte Maßnahmen zur Bekämpfung von Ungleichheit. Deshalb wird über solche Maßnahmen in diesen Kreisen nicht wirklich diskutiert und letztlich sind selbst Politiker wie Donald Trump oder Jair Bolsonaro für sie akzeptabel, wenn sie nur die Steuern für Unternehmen und die Reichen senken.

Hier die drei für mich interessantesten Punkte des Gesprächs:

  • Hartmann sagt, die Bosse nähmen die Realität anders wahr als Normalverdiener. „Es kommt immer darauf an, wen man kennt.“ Und wer keine Arbeiter in seinem Freundeskreis hat, der glaubt, er sei auch als Millionär noch Mittelschicht.
  • Hartmann über politische Implikationen:

Menschen wie Joe Kaeser und Kurt Björklund (die sich als Manager zur Ungleichheit äußern, Anm. AE) sind immer noch die Ausnahme. Aber es hilft der Diskussion. Wenn Kaeser sich zum Beispiel gegen die AfD positioniert, kann man ihn danach wenigstens fragen: Warum macht ihr in Sachsen dann die Werke dicht? Ein Jobverlust treibt die Menschen doch zur AfD.

  • Hartmann zu Steuern und ungleichen Einkommen: Er sagt, wenn die Manager es ehrlich meinten mit der Bekämpfung der Ungleichheit, müssten sie für Steuererhöhungen sein. Der Forscher selbst plädiert für höhere Steuern – und dafür, dass die Spitzenmanager nicht mehr 270-mal so viel Gehalt erhalten wie die durchschnittlichen Angestellten ihres Unternehmens. Sondern vielleicht nur noch das 14fache.

Hinter verschlossenen Türen: Tranparency Europe zur mangelnden Rechenschaftspflicht der Eurogruppe

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Jürgen Klute

Die Eurogruppe hat in der ersten Dekade nach ihrer Gründung ein Schattendasein geführt. Außer einigen Fachpolitiker*innen und Fachjournalist*innen hat sich während dieser Periode kaum jemand für die Eurogruppe interessiert.

Mit der Eurokrise hat sich das schlagartig geändert. Plötzlich stand die Eurogruppe im Fokus öffentlicher Wahrnehmung, denn aus ihr kamen die hoch umstrittenen Vorschläge zur Krisenpolitik und die Agenda für die Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF.

Obgleich die Eurogruppe nach wie vor nur ein informelles Gremium ist, stellt sie heute ein wesentliches Machtzentrum innerhalb der EU dar – neben den offiziellen Institutionen EU-Parlament, EU-Rat und EU-Kommission.

Wie es zu dieser ungeplanten Entwicklung gekommen ist und wie die Eurogruppe arbeitet, das zeichnet eine Studie der NGO Transparency Europe nach, die Anfang Februar veröffentlicht wurde.

Die in der Studie formulierte Hauptkritik an der Eurogruppe ist, dass sie hinter verschlossenen Türen arbeitet und sich trotz ihres prägenden Einflusses auf die EU-Mitgliedsstaaten bis heute jeder demokratischen Rechenschaftspflicht entzieht.

Die Studie thematisiert damit eines der zentralen Demokratiedefizite der EU, das eine zunehmend zersetzende Wirkung auf die Europäische Union zeitigt. Doch die Studie beschränkt sich nicht auf Kritik, sondern sie macht auch Vorschläge zur Behebung der dargestellten Demokratiedefizite.

Die Studie ist in Englisch verfasst. Die Zusammenfassung (Executive Summary) und die Handlungsempfehlungen (Recommendations) sind allerdings auch in einer deutschsprachigen Version verfügbar.

Wie andere Staaten dem CO2-Ausstoß einen Preis gegeben haben

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Ralph Diermann

Es gibt wohl keine andere klimapolitische Maßnahme, die solch breite Unterstützung genießt wie eine CO2-Bepreisung. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) ist genauso für deren Einführung wie Greenpeace, die FDP wie die Grünen, Gewerkschaften wie so ziemlich alle Wissenschaftler, die sich mit dem Thema beschäftigen. Allein die Bundesregierung sperrt sich noch, mal von Umweltministerin Schulze abgesehen. Immerhin will die schwarz-rote Koalition nun prüfen, ob eine CO2-Abgabe ins Klimaschutzgesetz aufgenommen werden könnte, das in diesem Jahr verabschiedet werden soll.

Mit zwei Argumenten hat sich vor allem die Union bislang dagegen gewehrt, dem CO2-Ausstoß einen Preis zu geben: Das müsse auf internationaler Ebene geschehen, nationale Alleingänge brächten nichts. Und es sei unsozial, weil die Abgabe die Bürger zusätzlich belaste.

In einem Gastbeitrag für die ZEIT widerlegen die Klimaforscher Brigitte Knopf und Matthias Kalkuhl nun beide Argumente, indem sie einen Blick ins Ausland richten. Nationale Alleingänge? Länder wie Frankreich, die Schweiz oder Schweden haben schon vor vielen Jahren eine Abgabe auf CO2-Emissionen eingeführt. Unsozial? Die genannten Staaten geben das Aufkommen ganz oder zum großen Teil an die Bürger zurück – Schweden etwa durch Steuersenkungen, vor allem der Einkommenssteuer für Geringverdiener.

Knopf und Kalkuhl fragen zudem, was sich aus den Erfahrungen anderer Länder lernen lässt – was die Höhe des CO2-Preises betrifft zum Beispiel oder was geschehen muss, damit das Instrument von den Bürgern auch tatsächlich akzeptiert wird.

Lindner und der #PSPopulismus – Spurtreue Beschleunigung in die Vergangenheit

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Gunnar Sohn

Es braut sich im politischen Spektrum eine unheilige Allianz zusammen, wenn es um Fragen der Klimapolitik, um Tempolimit und Diesel geht. Der Handelsblatt-Gastautor Eike Wenzel nennt diese Gemengelage trefflich „PS-Populismus“ – angeführt von FDP-Chef Christian Lindner.

„Es war eines Ihrer Markenversprechen, wie Sie, lieber Herr Lindner, vielleicht sagen würden. Weswegen möchten Sie in die altindustrielle Welt der Öl-, Gas- und Kohleverbrennung zurück? Öde Autobahnwüsten, deprimierende Schlafstädte, vierspuriger Innenstadtverkehr und Raumnot durch Parkplatzwüsten – alles das hat unsere Städte im 20. Jahrhundert geprägt“, so Wenzel.

Die Zukunftsinitiative D2030 bezeichnet diese Geisteshaltung als spurtreue Beschleunigung in die Vergangenheit. Was sich da gelbwestenmäßig in den Städten organisiert, ist fortschrittsfeindlich. Liberal wäre es nach Ansicht von Wenzel, Trends im Sinne der Zukunftsfähigkeit zu identifizieren und konsequent umzusetzen.

„Freiheit im 21. Jahrhundert bedeutet unter anderem: Freiheit von toxischen Treibstoffen und zerstörerischer Energiegewinnung. Modernität im 21. Jahrhundert muss heißen, intelligente und klimaverträgliche Mobilitätsnetze für alle bereitzustellen.“

Das schmeißt der FDP-Chef aber wahltaktisch über den Haufen und ergeht sich als Apostel einer untergehenden fossilen Energiewelt in plumper Wutbürger-Rhetorik.

„Wie viele Prozentpunkte Ihnen eifrige Politikforscher dafür versprochen haben, ist mir schleierhaft“, rätselt Wenzel.

Die Hightech-Industrie und die Hidden-Champions arbeiten längst an einer neuen Zukunft der Mobilität. Etwa Continental oder Bosch, die Fachkräfte für Künstliche Intelligenz rekrutieren. Lindner hingegen will offensichtlich aus der Zukunftsplanung in Deutschland aussteigen und liberale Zukunftswerte gegen PS-Populismus eintauschen. Das wird seine Partei dauerhaft nicht regierungsfähig machen.

Eine neue Industriepolitik? Ja, aber dann bitte europäisch und progressiv!

piqer:
Jürgen Klute

Wirtschaftsminister Peter Altmaier hat in den letzten Tagen Anstöße für eine neue industriepolitische Debatte gegeben. Wie immer man zu Altmaiers konkreten Vorstellungen stehen mag: Eine solche Debatte ist nötig und überfällig.

Tatsächlich ist diese Debatte gar nicht so neu. Die Europäische Kommission und das Europäische Parlament hatten schon 2014/15 Anstöße für eine solche Debatte gegeben. Auch der sog. Juncker Fonds gehört in diesen Kontext. Im Prinzip nimmt Altmaier mit seinem Verstoß diese zwischenzeitlich zum Erliegen gekommene Debatte wieder auf.

Tom Strohschneider, Initiator des OXI-Blog, hat Altmaiers Vorstoß zum Anlass genommen, an eine industriepolitische Studie der drei italienischen Ökonomen Mario Pianta, Matteo Lucchese und Leopoldo Nascia zu erinnern. Pianta ist Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität von Urbino, Lucchese war dort Lehrbeauftragter mit dem Forschungsschwerpunkt Industrie und Innovation und Nascia ist Mitarbeiter beim italienischen Statistikamt ISTAT in Rom. Die drei hatten die Studie 2016 auf Initiative der Rosa Luxemburg Stiftung als Beitrag zur industriepolitischen Debatte auf EU-Ebene erstellt.

Strohschneider zeichnet in seinem Beitrag noch einmal die Prinzipien einer progressiven Industriepolitik nach, wie Pianta, Lucchese und Nascia sie entwickelt haben. Diese Prinzipien zielen die nicht allein auf Effizienz, sondern auch auf die Schaffung von Arbeitsplätzen, auf auskömmliche Einkommen (also auf gute Arbeit oder „decent work“, um einen Begriff der ILO aufzunehmen) und auf eine nachhaltige, umweltschonende Produktion.

Damit bietet die Studie einen die Diskussion belebenden Kontrapunkt zu den bisherigen Vorschlägen von Peter Altmaier. Zudem erinnert Tom Strohschneider mit seinem Beitrag daran, dass diese Debatte nur Sinn macht als eine europäische und dass sie deshalb auf die EU-Ebene zurückgeholt werden muss.

Ein unglaublicher Fuck-Up: Die Privatisierung der Deutschen Bahn

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Moritz Orendt

Die Anstalt zerlegt mit der gewohnten Schärfe die Privatisierung unserer Bahn: Egal welche Kennzahl man sich anschaut – Fahrgastzahl, Pünktlichkeit, Streckenabdeckung, Schuldenstand – alles ist schlechter geworden. Nur die Manager verdienen jetzt mehr und die deutsche Bahn ist ein globaler Player geworden, der im Ausland LKWs hin und herfährt.

47 Minuten, in denen wieder einmal die Bereicherung von Wenigen auf Kosten der Allgemeinheit gezeigt wird. Trotz des eigentlich tieftraurigen Sachverhalts sehr unterhaltsam und witzig.

Ein Highlight sicherlich Max Uthoff als Stuttgart 21-Gegner, der den ganzen Wahnsinn dieses Milliardengrabs mit der Privatisierung verknüpft.

„Der Kapitalismus wird sich nicht auf den Rücken rollen und sterben“ (Marcuse)

piqer:
Achim Engelberg

Beide, Peter (1928) und Harold Marcuse (1957), sind amerikanische Intellektuelle im Schatten des Jahrhundertdenkers Herbert Marcuse (1898-1979). In der Familiengeschichte offenbaren sich Brüche einer extremen Zeit.

Der Sohn verweist auf die Gegenwart des Vaters:

In seinem Werk „Der eindimensionale Mensch“, in dem Herbert die Auswirkungen einer kapitalistischen Gesellschaft analysiert, hat er das vorhergesehen: die Instrumentalisierung von Aggression auf Twitter. Das Überdecken von Missständen mit Konsumversprechen. Die Manipulation von Grundinstinkten, um aus dem Verlangen nach Geborgenheit und Sicherheit Profit zu ziehen. Ich bin sicher, mein Vater wusste, dass der Kapitalismus sich nicht einfach auf den Rücken rollt und stirbt.

Harold glaubt nicht, dass die Menschen von sich diesen überwinden:

die Klimakatastrophe, auf die wir zurasen, wird den Kapitalismus wohl eher in die Knie zwingen als jede andere Bewegung.

Der Erste Weltkrieg politisierte seinen Großvater. Nach der Ermordung von Liebknecht und Luxemburg trat er aus der SPD aus. Im Werk verband er Marx und Freud, nahm aber auch rechte Denker wie Heidegger auf.

Hier kann man diese beeindruckende Persönlichkeit erleben.

Seine Schriften sind nicht mehr lieferbar, der Enkel Harold richtete die Website HERBERT MARCUSE & FAMILY ein und vieles, wie das erwähnte DER EINDIMENSIONALE MENSCH findet man kostenlos.

Sohn Peter hofft, dass das Werk seines Vaters neu entdeckt wird und weiß Amüsantes zu erzählen:

Nicht nur, dass Herberts Schriften wesentlich zugänglicher sind als die von Adorno oder Horkheimer, ich finde sie auch konkreter, was die Kritik an unserem Lebensstil angeht. Adorno und Horkheimer waren weniger beschäftigt mit realen Konflikten und Beziehungen. Mein Vater arbeitete in einem Buchladen, als er zur Frankfurter Schule stieß. Seine Kollegen hingegen vermissten im Exil in Santa Monica ihre Hausangestellten. Wenn wir zu Besuch kamen, schärften meine Eltern mir ein: „Wir treffen jetzt die Horkheimers, benimm dich!“