In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Brauchen wir den Soli wirklich nicht?
piqer:
The Buzzard
„Die fetten Jahre sind vorbei“ – mit diesem Satz hat Finanzminister Olaf Scholz Schlagzeilen gemacht und eine alte Debatte neu angestoßen. Union und FDP fordern nun seit einigen Wochen wieder lautstark: Der Solidaritätszuschlag (Soli) gehöre endlich abgeschafft, er lähme die Wirtschaft. Und zwar für alle abgeschafft. Und nicht, wie die SPD es fordert, für 90 Prozent der Bevölkerung, während Topverdiener und Unternehmen weiter zahlen müssen.
Einst wurde der Soli eingeführt, um den Aufbau Ostdeutschlands zu finanzieren. Heutzutage spült die Steuer vor allem Mehreinnahmen in die Staatskassen. 2018 hat der Soli rund 18,8 Milliarden Euro Steuergelder eingebracht, nur 4,5 Milliarden Euro gingen an den Aufbau Ost. Kritiker meinen: Diese „Reichensteuer“ brauchen wir nicht.
Wir von The Buzzard haben uns diese Woche gefragt, ob sie recht haben: Ist es jetzt, da die Konjunktur einknickt, höchste Zeit, den Soli abzuschaffen? Oder wäre das nur ein Geschenk für Superreiche?
In unserer aktuellen Ausgabe zeigen wir die Perspektiven von Wirtschaftsexperten, Journalisten und Ökonomen aus Deutschland und Österreich. Die Gegner der Abschaffung meinen, dass Steuererleichterungen weder zu mehr Investitionen bei Unternehmen noch zu einem Boom in der Konjunktur führen. Das Argument: Reiche würden zusätzliches Geld eher sparen anstatt es auszugeben und auch Unternehmen investierten nicht automatisch, nur weil sie mehr Geld zur Verfügung haben.
Andere betonen, dass Deutschland das Geld aus dem Soli auch weiterhin dringend braucht, um ländliche Regionen, gerade in Ostdeutschland zu fördern.
Nicht nur Arbeitgeberverbände widersprechen vehement. Wir zitieren Studien, die zeigen, warum die Soli-Abschaffung die Konjunktur eben doch ankurbeln könnte. Und auch Stimmen, die meinen: Der Soli ist das falsche Mittel für soziale Gerechtigkeit.
Wer die Argumente auf beiden Seiten besser verstehen möchte, dem empfehlen wir unsere aktuelle Debatte auf TheBuzzard.org.
Armut und Lebenserwartung – Ursache und Wirkung?
piqer:
Thomas Wahl
Oft wird Armut als direkte Ursache der geringeren Lebenserwartung dargestellt. Der Autor vertritt die Meinung, es geht eher um die Ungleichheit der Menschen, die mit mehr Geld nicht einfach verschwindet:
Die Leute sind nicht, wie viele Ökonomen reflexhaft denken, arm, weil sie ungesund leben. Sondern sie leben ungesund, weil sie keine Kontrolle über ihr Leben verspüren und es als Falle empfinden. Sie sind nicht arbeitslos, weil sie sich vernachlässigen, sondern sie vernachlässigen sich oft, weil sie arbeitslos sind. Gesundheitspolitik habe das zu berücksichtigen: dass nicht der Einkommenszuwachs als solcher die Leute weniger krankheitsanfällig macht, sondern die Erleichterung des Lebens.
Dass man etwas als Falle empfindet bedeutet nun nicht unbedingt, dass es auch eine Falle ist. Aber sicher ist richtig, dass es den Betroffenen oft an positiven Erfahrungen, Energie und Willen fehlt, ihr Leben disziplinierter und selbstbewusster zu gestalten. Und es fehlt dem Artikel zu Folge an Unterstützung.
Wohlstand heißt, so gesehen, nicht „hohe Konsumchancen“, sondern „nicht alles selbst tun müssen“ und „ein weniger gehetztes Leben führen“. Öffentlicher Nahverkehr, Kindertagesstätten, Arbeitsschutzgesetze, kommunale Aufmerksamkeit auf Risikogruppen – all das sind für Marmot darum Investitionen in die Lebenserwartung einer Bevölkerung, weil sie die soziale Drangsal reduzieren, die sich in der Krankenstatistik niederschlägt.
Ich würde noch die Bildung hinzufügen, die sich mehr auf das praktische Selbstbewusstsein der Jugend konzentrieren sollte – ohne die inhaltliche Qualität der Ausbildung zu vernachlässigen. Dann wird in einer zukünftigen Lebens- und Arbeitswelt auch bei denen mit geringerem Einkommen das Gefühl zunehmen, Verantwortung übernehmen zu können und sein Leben selbst zu gestalten.
Ein Leben ohne Geld – trotz 60.000 Franken Jahreseinkommen?
piqer:
Thomas Rehehäuser
Es ist ein flüchtiger Blick in ein anderes Leben, in einer andere Form, sein Leben zu leben. Kapuziner-Bruder Niklaus Kuster erzählt, wie er ins Kloster kam. Es sind einfache, bestechende Gedanken.
„Ich begann mein Studium zu hinterfragen. Es passte nicht mehr zusammen, dass ich mich mit der Antike befasse, mit sozialen Problemen im Mittelalter und nach Feierabend an den Problemen der heutigen Welt vorbeispaziere. Ich fragte mich, was ich dazu beitragen kann, damit die Welt menschlicher, gerechter, heller wird.“
Und Niklaus Kuster berichtet über die Vorträge, die er in Unternehmen hält, die mehr als eine Birchermüesli-Spiritualität wollen. Und über das Staunen des Gegenübers, wenn er bei der Honorarfrage antwortet:
„Ich koste nichts. Aber meine Brüder sind froh, wenn ich einen Beitrag zu unserem Lebensunterhalt leisten kann.“
Selbstliebe ist in unseren Kirchen nicht gerade die höchste Tugend (um es positiv zu formulieren). Um so erstaunlicher das Niklaus Kuster sagt:
„Ich glaube, man kann auf Dauer anderen Menschen nur Gutes tun, wenn man auch sich selbst gegenüber großzügig ist. Eine gute Selbstliebe geht Hand in Hand mit der Nächstenliebe.“
Aus seinen Worte lese ich Demut und Gedanken, die mich selbst anregen. Wenn er beispielsweise über Armut spricht. Er hält Mönche nicht für arm, weil es im Vergleich zu Menschen auf der Straße oder in den Favelas von Lateinamerika keine Armut ist. Oder seine Worte über das wenig haben:
„Ich habe gelernt, dass wir Kapuziner nicht versprechen, möglichst wenig zu haben, sondern möglichst viel zu teilen.“
Alles in einem anregende Gedanken aus einer anderen Welt, die meine Welt bereichern!
Putin-Russland in Agonie: „Schlimmer kann es nicht mehr werden“
piqer:
Ulrich Krökel
Wladimir Putin könnte sich derzeit die Hände reiben. US-Präsident Donald Trump irrlichtert mit den Brexit-Briten um die Wette. Der Westen, von dem sich Russland bzw. sein Präsident so bedroht fühlt, zerlegt sich selbst. Tatsächlich ist Putins eigene Lage allerdings mindestens ebenso ungemütlich. So zumindest beschreibt es der Ökonom Wladislaw Inosemzew in der dezidiert kremlkritischen Zeitschrift The New Times. Der Zustand der Wirtschaft sei „alles andere als glänzend“, konstatiert er. Hinzu kämen die „Anhebung des Rentenalters und die ständig steigenden Steuern“.
Der Text aus dem vergangenen November, der dank dekoder.org nun auf Deutsch zugänglich ist, wirft ein grelles Schlaglicht auf die innere Situation Russlands:
Putin hat zwar nicht direkt seinen Realitätssinn eingebüßt, ist aber meiner Meinung nach endgültig der Überzeugung, dass er kein Volk regiert, sondern eine amorphe Masse, die schon längst aufgehört hat, sich als Subjekt zu fühlen. Und da liegt er richtig […]. Widerstand gegen seine Politik hat er nicht zu erwarten, und Umfragewerte bedeuten nichts in einer Gesellschaft, in der es zwar Wahlen, aber keine Opposition gibt.
Zugleich stellt Inosemzew klar, dass er keine revolutionären Veränderungen erwartet. Er glaube auch nicht, dass „es der Präsident nötig haben wird, zur Aufbesserung seiner Umfragewerte Belarus zu besetzen oder irgendwo in Afrika einen Krieg anzufangen“. Das klingt natürlich vergleichsweise beruhigend, wenn man bedenkt, dass andere Beobachter genau solche außenpolitischen Ablenkungsmanöver erwarten (z.B. Andrei Gurkow von der Deutschen Welle, hier, gleich in seinem Eingangsstatement). Dennoch kommt Inosemzew zu dem Schluss:
Je mehr ich mir die bestehende Situation genau anschaue, desto fester bin ich überzeugt: schlimmer als jetzt kann es nicht mehr werden. Ganz wie vom Nordpol jeder Weg nach Süden führt, so wird jede Variante eines Zusammenbruches des bestehenden Regimes einen Wandel zum Besseren bedeuten.
China fordert – erfolgreich – die US-Hegemonie in Ostasien heraus
piqer:
Jakob Reimann
Mit der Ablösung der USA als globale Supermacht durch China in den nächsten Jahr(zehnt)en geht eine Verschiebung der globalen Konfliktherde hin zum asiatischen Kontinent einher, insbesondere in die Pazifikregion.
Die New York Times befragte fünf Expert_innen, wie sich in (Ost-)Asien die Bündnisse und Machtgleichgewichte im Hinblick auf den Konflikt USA vs. China in den letzten Jahren verschoben haben.
Die Ergebnisse sind erkenntnisreich. So bilden sich immer deutlicher zwei Machtblöcke um die beiden Supermächte heraus. China versucht gewissermaßen, Indien „einzukesseln“. Auch haben sich in den letzten Jahren die Handelsbeziehungen derart verschoben, dass nunmehr jedes asiatische Land mehr Handel mit China treibt als mit den USA.
Ein informativer Übersichtsartikel.
Public-Commons-Partnerships – Was kommt nach dem Neoliberalismus?
piqer:
Michael Seemann
Egal, wie man zum Neoliberalismus steht, kommt man nicht umhin festzustellen, dass er sich seinem Ende zuneigt. Nicht nur Donald Trump, Brexit oder die Gelbwesten scheinen sein fiebriges Endstadium anzuzeigen. Sogar seine eifrigsten Verfechter wirken müde, abgekämpft, gar desillusioniert.
Doch was kommt danach? Ein Ort, an dem es lohnt, nach Antworten auf diese Frage zu suchen, ist Barcelona. Die Stadt hat in der Vergangenheit mehrere Maßnahmen getroffen, sich aus dem Würgegriff ökonomischer Sachzwänge zu befreien und sucht konstant nach neuen Wegen, ein partizipatives und gleichzeitig offenes und souveränes Zusammenleben zu ermöglichen. Dazu wurde auch eine allgemeine Städtekonferenz einberufen und ein Portal ins Leben gestellt, das Antworten auf diese Fragen der Allgemeinheit zugänglich machen soll.
Auf diesem Portal ist nun ein Text von Yochai Benkler genau zu der Frage erschienen, was denn nun folgt, auf den Neoliberalismus. Benkler forscht schon seit Langem an der Schnittstelle Digitalisierung, Gesellschaft und Ökonomie und hatte bereits in seinem Buch von 2006, „The Wealth of Networks“ anhand der Open-Source-Szene und der Wikipedia eine dritte Wirtschaftsform neben Markt und Staat identifiziert, die er „Commons Based Peer Production“ nannte.
In diesem Text nun analysiert Benkler den Werdegang des Nationalstaates, des Neoliberalismus und setzt sich aber auch kritisch mit den real existierenden Commons-Projekten auseinander um zu einer neuen, tragfähigen Zukunftsversion zu kommen. Er deklariert dann erstens, dass die Städte – anstatt des Nationalstaats – der richtige Bezugsrahmen seien, um nach neuen Konzepten des Zusammenlebens zu suchen. Und zweitens, dass systemisch die Lösung in einem Mix aus Staat, Markt und Commons liegen müsse.
Dabei votiert er vor allem für Public-Commons-Partnerships, die ein großes Potenzial hätten. Wie ich auch immer sage: der Staat muss in Open Source gehen. Spannender Text, sehr spannende Konferenz und spannende Entwicklung.
Können wir Menschen nur als Teil einer künstlichen Intelligenz überleben?
piqer:
Ole Wintermann
Wie definieren wir uns als Menschen in einer Zukunft der Arbeit, wenn wir doch bisher am Arbeitsplatz nur auf den Faktor “Produktivität” reduziert werden? Dies ist die Kernfrage, die der Kurzfilm von Keiichi Matsuda in beeindruckender Weise stellt. Im Fokus steht eine Beraterin, deren Aufgabe es ist, anhand der auf sie eintreffenden Informationen die richtigen Entscheidungen zu treffen und so als kleines Rädchen im großen Getriebe des Kapitalismus ihre Funktion mit dem geforderten Maß an Produktivität zu erfüllen.
Man sieht die Beraterin in verschiedenen Arbeitsumgebungen, die einer Zeitreise gleich von einem heutigen Arbeitsplatz mit einem Dashboard für verschiedene Informations- und Kommunikationskanäle hin zu einer Schnittstelle für nicht mehr zu überblickende Informationsfluten führt. Es wird deutlich, dass einerseits Führungskräfte irgendwann irrelevant werden, weil Unternehmen nur noch durch künstliche Intelligenzen geführt werden können und andererseits die Rolle der Beraterin nur noch bestehen bleiben kann, wenn sie sich aller menschlich-körperlichen Restriktionen entledigt und im wahrsten Sinne Teil des Netzwerkes wird.
“The only way for us to survive is to understand the network.”
Matsuda schafft es, die scheinbaren Unzulänglichkeiten des Menschen gegenüber dem Algorithmus auch in entsprechende Gestaltungen der Bilder umzusetzen. So wird die Beraterin sichtbar immer mehr Teil des Algorithmus bis sie am Ende beschließt, die sterbliche Hülle zu verlassen und Bestandteil des Netzwerkes zu werden. Beeindruckend und nachdenklich stimmend, zumal der Film als 360-Grad-Film produziert worden ist.