KI-Strategie

Kann Deutschland international noch eine technologische Führungsrolle übernehmen?

Mit einer neuen KI-Strategie will die Bundesregierung dazu beitragen, dass Deutschland nicht den Anschluss an die sich rasant digitalisierende Weltwirtschaft verliert. Um diesen Prozess zu unterstützen, müsste die Wirtschaftspolitik jedoch ihr tradiertes Vorgehen überdenken. Ein Beitrag von Thomas Bonschab und Volker Schiek.

Bild: Pixabay

Die Bundesregierung hat in der vorletzten Woche eine neue Strategie zum Ausbau der Kapazitäten im Bereich Künstliche Intelligenz (KI) verkündet. Sie will hierfür 100 Professuren einrichten, Kompetenzzentren gründen und Wagniskapital zur Verfügung stellen. Insgesamt sollen im Rahmen der Strategie bis zum Jahr 2025 drei Milliarden Euro investiert werden.

Man reibt sich fast ungläubig die Augen: Will die Regierung, nach knapp zwei Jahren Selbstdemontage, plötzlich ernsthaft auf die Herausforderungen der Digitalisierung reagieren und industriepolitische Maßnahmen einleiten?

Ja, sie will offenbar. Und da eine KI-Strategie ein Herzstück in der Vorbereitung auf eine sich rasant digitalisierende Weltwirtschaft ist, handelt es sich um einen Schritt in die richtige Richtung. Dies gilt umso mehr, als globale Wettbewerber, wie die USA und China, sich industriepolitisch mit aller Wucht auf das digitale Zeitalter vorbereiten. Vor allem Chinas Programm „Made in China 2025“ strebt in zehn Schlüsselindustrien – darunter KI – Weltmarktführung an. Kaum ein Land ist von den Auswirkungen dieser Industriepolitik stärker betroffen als der Noch-Technologiestandort Deutschland.

Es ist schon mehr als verwunderlich, wie achselzuckend und blauäugig manche Teile der Politik und auch der ökonomischen Forschung in den letzten Jahren auf diese gewaltige Herausforderung reagiert haben – und es zum Teil immer noch tun. Exemplarisch sei hier der Sachverständigenrat genannt: Das ranghöchste Beratergremium der Republik lehnt in seinem aktuellen Jahresgutachten mehrheitlich eine industriepolitische Antwort auf die Herausforderung Chinas kategorisch ab. Lediglich Peter Bofinger machte sich in einem Minderheitenvotum für eine eben solche stark.

Man kann nur froh sein über die Entscheidung der Bundesregierung, die Mehrheitspositionen des Sachverständigenrates zu übergehen und von staatlicher Seite in den Aufbau von KI-Kompetenzen zu investieren. Vielleicht wird hierdurch ja auch ein überfälliges Signal für die Wirtschaftspolitik der Europäischen Union insgesamt gesendet.

Schon im Jahr 2020 dürften etwa viermal mehr Daten im Umlauf sein als Sandkörner auf der Erde vorhanden sind

Allerdings kommt dieser Schritt sehr spät, hoffentlich nicht zu spät. In der Entwicklung autonomen Fahrens sind die USA und China um Jahre voraus, humanoide Robotik und Batterien werden längst in anderen Ländern besser hergestellt und der Aufbau eines schnellen und lückenlosen Netzwerks für die Datenvermittlung ist bislang nicht einmal für den Mobilfunk greifbar. Es klingt daher erschreckend kleinlaut, wenn Politik und Industrie in diesen Tagen gemeinsam betonen: „Das Spiel ist noch nicht verloren“.

Investitionen in den Ausbau der KI sind hierfür eine wichtige Maßnahme. Man sollte jedoch nicht aus dem Auge verlieren, dass die Anforderungen an die Wirtschaftspolitik umfassender sind. Will das Land den Anschluss an das digitale Zeitalter nicht verpassen, reicht es nicht, wenn sich Politik, Technologiekonzerne und Verbände in alter Verbundenheit an die gewünschte Aufholjagd setzen. Auschlaggebend dürfte vielmehr sein, ob sich die vielen hochgelobten deutschen mittelständischen Technologieunternehmen aus eigener Kraft heraus schnell genug internationalisieren und ob branchenübergreifende Allianzen entstehen, die sich mit neuen Produkten global durchsetzen. Um diesen Prozess zu unterstützen, müsste die Wirtschaftspolitik ihr tradiertes Vorgehen überdenken.

Big Data, Meta Data, und vor allem sehr große Datenvolumen

Wie sehr und rapide sich die Welt der Konsumenten und Unternehmen ändern wird, zeigt eine Studie der International Data Corporation (IDC), die das Volumen der jährlich generierten digitalen Datenmenge weltweit bis zum Jahr 2025 prognostiziert:

Die Daten werden über verschiedene Kanäle generiert: über Sensoren und andere Instrumente, durch gespeicherte Bilder und soziale Medien, Texte oder eher klassische Unternehmensdaten. Um eine Dimension der in der Abbildung gezeigten Datenmenge zu vermitteln: ein Zettabyte entspricht 1021 Bytes. Schon im Jahr 2020 dürften damit etwa viermal mehr Daten im Umlauf sein als Sandkörner auf der Erde vorhanden sind.

IDC schätzt, dass etwa 80% dieser generierten Daten „im Dunklen“ verbleiben, also ohne besonderen Wert und Nutzen. Die verbleibenden 20% allerdings werden elementar sein für unser tägliches Leben. 10% davon sogar kritisch, weil sie Bereiche betreffen wie Stromnetze, Verkehr, Krankenhäuser oder Wasserversorgung.

In jedem Fall aber gilt, dass die künftig generierten Daten an Menge, Vielfalt und Wichtigkeit gewinnen. Unternehmerischer Erfolg wird in diesem digitalen Zeitalter davon abhängen, ob es gelingt, Daten auf originelle Weise miteinander zu verbinden und in neue Anwendungen zu überführen. Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz wird hierbei eine wichtige Rolle spielen.

Es gibt fünf Tendenzen, die sich aus diesen neuen Rahmenbedingungen aller Voraussicht nach mit Blick auf die bisherigen Geschäftsstrukturen ergeben werden:

1.

Großkonzerne werden es schwieriger haben. Es zeichnet sich schon heute ab, dass die tradierte Hierarchie zwischen großen Unternehmenskonzernen und mittleren und kleineren Technologieunternehmen aufgebrochen wird. Die Datenmengen werden immer weniger hinter geschlossenen Konzernmauern verwaltet, sondern in zugänglichen Clouds. Anders formuliert: Mit schwindenden Transaktionskosten geht großen Firmen der Wettbewerbsvorteil verloren. Das ermöglicht kleineren Unternehmen erstmals, „auf Augenhöhe“ mit den Konzernen zu kooperieren – und nicht nur als Zulieferer zu vorgegebenen Konditionen.

Auf Dauer dürften kleinere Unternehmen sogar einen Vorteil haben, da sie in der Regel flexibler und schneller auf der Suche nach digitalen Lösungen agieren können, als traditionsbehaftete Vorstands- und Aufsichtsratspläne das vorsehen. Betrachtet man die Liste der Fortune 500 aus dem Jahr 2000 im Vergleich zu heute, wird deutlich, dass schon jetzt mehr als die Hälfte der Unternehmen entweder insolvent gegangen ist oder keine bestimmende Rolle mehr haben.

2.

Wirtschaftlich definierte Ländergrenzen fallen noch schneller als bislang. Die interessantesten Start-Ups entstehen derzeit auch außerhalb der klassischen Industrieländer. In China, Israel, Litauen – in Ländern, in denen frühzeitig wirtschaftliche Anreize gesetzt und die digitale Infrastruktur aufgebaut wurde. Wer heute geschäftlichen Erfolg haben will, wird die von Geschäftspartnern und Endverbrauchern geforderten Lösungen immer weniger alleine „in house“ erbringen können. Die Bereitschaft, sich auf gleichberechtigte Kooperationen mit innovativen Unternehmen weltweit einzulassen, dürfte entscheidend für den künftigen Technologiestandort Deutschland sein. Nicht nur deutsche Konzerne stolpern derzeit schnell über ihre Strukturen und ihr Selbstverständnis als etablierte Marktführer. Den kleineren und mittleren Unternehmen hingegen fehlt es meist an Netzwerken und Erfahrungen im internationalen Kontext.

3.

Branchen spielen kaum noch eine Rolle, weil angewandte Digitalisierungslösungen nicht vor Branchengrenzen halt machen. Das ist ein besonders wunder Punkt aus deutscher Sicht, der nicht nur in der deutschen Automobilbranche sichtbar wird. Das Festhalten am Verkauf von Autos statt individueller Mobilität und Autoversicherungen statt Versicherungslösungen für autonomere Verkehrslösungen stehen dafür, wie ungern etablierte Strukturen aufgelöst werden. Eine IBM-Studie aus dem Jahr 2016 konstatierte: 54 Prozent der Führungskräfte gehen davon aus, dass der größte Wettbewerb künftig aus anderen Industrien kommt. Die Zukunft dürfte wohl eher darin liegen, dass sich Unternehmen horizontal miteinander vernetzen und branchenübergreifend Innovationen entwickeln. Ehemalige Wettbewerber können hierbei zu Partnern werden, ehemalige Partner und Zulieferer zu künftigen Wettbewerbern.

4.

Das Geschäftsmodell für Produkte sieht künftig anders aus. In einer durch exponentiell wachsenden Datenaustausch bestimmten Welt wirken viele der typischen deutschen Qualitätsprodukte wie Dinosaurier. Noch scheint es selbstverständlich, Produkte zu besitzen und sie nach deren Verschleiß durch neue zu ersetzen. In Zukunft aber dürften Produkte bzw. Lösungen auf den Markt kommen, die ein kontinuierliches Online-Updating durch einen global verbundenen Datenstrom anbieten. Viele der Produkte aus Deutschland müssen dann neu gestaltet werden.

5.

Endabnehmer spielen künftig wahrscheinlich eine größere Rolle. Zumindest wird der lineare Informationsfluss entlang der gewohnten Wertschöpfungskette voraussichtlich durcheinander gewirbelt. Die Kommunikation zwischen Anbieter, Zulieferer, Hersteller, Verteilerzentrum, Einzelhandel und Kunden dürfte sich zugunsten des Letzteren verschieben.

Bausteine für eine neue Wirtschaftspolitik

Man braucht kein Prophet zu sein, um zu erkennen, dass sich die Spielregeln der globalen Wirtschaft verändern werden. Die Bausteine für eine angepasste, industriepolitisch ausgerichtete, Wirtschaftspolitik sind weitgehend gelegt. Alleine mit Konzernen und mächtigen Branchendachverbänden grundlegende Veränderungen bewirken zu wollen, passt nicht mehr in die Zeit. Denn es liegt es in der DNA dieser Konstellation, innovative mittelständische Unternehmen wie eine Schafsherde zusammenzuhalten und sie hinsichtlich der Branchenregeln zu disziplinieren. Nicht nur die für Deutschland so wichtige Automobilindustrie hat die Innovationsfeindlichkeit dieses Vorgehens in den letzten Jahren mit einem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit bezahlt.

Eine horizontale, gleichberechtigte Vernetzung von mittelständischen Technologieunternehmen könnte ein Weg in die Zukunft sein. Dafür braucht es auch die Unterstützung durch die Politik. Vor allem in der Vorbereitung und Begleitung internationaler Projekte sind solche Initiativen auf die industriepolitische Unterstützung der Regierung angewiesen. Warum nicht einmal eine Auslandsreise der Regierung z.B. nach China wagen, bei der nicht die immer gleichen Konzernspitzen teilnehmen, sondern junge Unternehmen, die hungrig sind nach internationalen Partnerschaften? Nur mit etwas Mut wird Deutschland die angestrebte, internationale technologische Führungsrolle erreichen können.

 

Zu den Autoren:

Thomas Bonschab ist Gründer und Managing Director von TiNC International. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt auf internationalen Technologiepartnerschaften, Chinas Wirtschaftsentwicklung und internationaler Entwicklungsökonomie. Zudem betreibt er gemeinsam mit Robert Kappel und Helmut Reisen den Blog Weltneuvermessung, wo dieser Beitrag zuerst erschienen ist.

Volker Schiek ist Geschäftsführer des Landesnetzwerks Mechatronik Baden Württemberg sowie geschäftsführender Vorstand des Kompetenznetzwerks Baden Württemberg. Gemeinsam mit Thomas Bonschab ist er seit November 2018 Gründungsvorstand der Deutschen Gesellschaft für Internationalen Technologietransfer (DGIT).