Analyse

Die (scheinbar) paradoxe Entwicklung der globalen Ungleichheit

Vor allem dank des rapiden Wachstums Asiens ist das globale Median-Einkommen zuletzt rasant gestiegen, die globale Ungleichheit hat sich verringert. Doch gleichzeitig ist auch eine Zunahme der weltweiten Polarisierung zu beobachten. Ein Beitrag von Branko Milanovic.

Angesichts der prominenten Rolle, die innerstaatliche Ungleichheiten und „Populismus“ momentan spielen, ist es verständlich, dass die globale Einkommensungleichheit etwas aus dem Fokus gerückt ist. Mein Zugang zu den Daten hat sich zwar verschlechtert, seit ich die Weltbank verlassen habe. Das gilt insbesondere für ärmere Länder, die nicht von der LIS-Datenbank abgedeckt werden. Dennoch kann man immer noch ein schnelles Update zusammenstellen, dass die Periode bis 2013 umfasst (auch dank des Beitrags von Christoph Lakner).

Dabei lohnt es sich, zunächst einen kleinen technischen Hinweis zu geben. Wenn man, wie ich es hier tun werden, die Ergebnisse von 2013 mit denen der Vergangenheit bis ins Jahr 1988 zurück vergleicht, steht man vor folgender Entscheidung: Entweder nutzt man die besten verfügbaren Zahlen für den Zeitraum von 2000 bis 2013, die allesamt auf detaillierten Mikrodaten und 100 Bevölkerungsperzentilen für jedes Land basieren sowie bessere Einkommensdaten für Indien beinhalten. Oder man komprimiert diese Zahlen in Länder-Dezile, um sie besser mit den Daten von 1988 vergleichbar zu machen, als wir viel weniger detaillierte Informationen mit viel wenigeren Fraktilen hatten. Ich habe mich für die zweite Lösung entschieden – aber wenn ich nur eine kürzer zurückliegende Periode (also nach dem Jahr 2000) betrachten wollen würde, hätte ich die erste Variante gewählt.

Das Medianeinkommen ist deutlich gestiegen

Bilden auf Haushaltsumfragen basierende Daten vernünftig ab, was wir aus den volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen wissen? Die Antwort ist ja. Der folgende Chart zeigt über Fünf-Jahres-Perioden die durchschnittlichen jährlichen globalen BIP-pro-Kopf-Wachstumsraten sowie das Durchschnittseinkommen aus den Haushaltsbefragungen. Alle Zahlen sind in Internationale Dollar von 2011 umgerechnet. Die zwei zusammenlaufenden blauen Linien erreichen beide ihren Wachstumshöhepunkt von rund 3% in der Periode vor der globalen Finanzkrise, ehe sie in den nächsten fünf Jahren auf 1% abfallen:

Aber die bemerkenswerteste und wichtigste Entwicklung können wir nicht in den volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen sehen, sondern in den Haushaltsbefragungen: den dramatischen Anstieg des globalen Medianeinkommens, also des Einkommens auf dem 50. globalen Perzentil. Dieses positionelle Einkommen, das die hohen Wachstumsraten der relativ armen Bevölkerungen in Asien (China, Indien, Vietnam, Indonesien etc.) reflektiert, ist während der letzten 25 Jahre immer stärker gestiegen als das globale Durchschnittseinkommen. Und in der letzten Periode (2008 – 2013) hat sich die Lücke zwischen Median- und Durchschnittswachstum verkleinert: Das Medianeinkommen stieg um durchschnittlich 6% jährlich, während das Durchschnittseinkommen nur um 1% stieg.

Die verringerte Distanz zwischen Durchschnitt und Median wird oft als Indikator einer reduzierten Ungleichheit angeführt. Und dem ist in diesem Fall tatsächlich so: Im Jahr 1998 lag das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der Welt bei lediglich 4.000 Internationalen Dollar und das Medianeinkommen bei knapp über 1.000. Ein Vierteljahrhundert später lagen diese Werte bei 5.500 und 2.200. Die Durchschnitt-zu-Median-Quote ist also von 4:1 auf 2,5:1 gesunken. Der globale Gini-Koeffizient sank von 0,69 auf 0,6 und der globale Theil-Index von 0,92 auf 0,73.

Dabei vollzog sich der größte Teil des Rückgangs während der letzten Fünf-Jahres-Periode. Noch im Jahr 2008 hatte der globale Gini bei 0,67 gelegen, was nur etwas weniger als zur Zeit des Falls der Berliner Mauer war. Was nach 2008 passiert ist, war eine Wachstumsverlangsamung oder sogar ein negatives Wachstum in den reichen Ländern bei gleichbleibend schnellem Wachstum in Asien, in Kombination mit nicht weiter steigenden innerstaatlichen Einkommensungleichheiten in großen Ländern wie China, Russland, Großbritannien und Brasilien. Sogar in den USA sank die Einkommensungleichheit in Folge des Schocks, den die höchsten Einkommen während der Krise erlitten, ehe sie nach 2013 wieder anstieg (was aber in der hier betrachteten Periode nicht erfasst wird).

Lückenhafte Indikatoren

Heißt das, dass alles gut ist? Nicht wirklich. Ungleichheitsindikatoren wie die Durchschnitt-zu-Median-Quote oder der Anteil der Top 1% sind lückenhaft – sie berücksichtigen nur, was an zwei bestimmten Punkten der Verteilung passiert. Synthetische Indikatoren wie der Gini sind in diesem Sinne besser, weil sie die gesamte Verteilung berücksichtigen. Aber dafür komprimieren sie all diese Informationen in eine Zahl. Um ein besseres Verständnis für diese Entwicklungen zu bekommen, müssen wir uns also verschiedene Teile der Verteilung und Indikatoren anschauen.

Lassen Sie mich dies anhand von zwei Bespiele erklären. Das Wachstum des Median, das wie gerade gesehen eine sehr gute und ermutigende Entwicklung ist, hat noch eine andere Facette: Es lässt diejenigen unberücksichtigt, die unter diesem Median liegen und deren Einkommen nicht so schnell wie der Median gewachsen sind. Nehmen wir etwa das Einkommensniveau, das bei der Hälfte des Medians liegt und oft als Indikator für relative Armut oder Ungleichheit herangezogen wird. Dann sehen wir, dass die Zahl der Menschen unter diesem Einkommensniveau um 300 Millionen gestiegen ist und sich der Anteil der Menschen unter diesem Niveau kaum verändert hat: 1998 waren es 28% der Weltbevölkerung, 2013 waren es 26%.

Auch der Einkommensanteil, den die globalen Top 1% erhalten, ist trotz des Rückgangs der weltweiten Ungleichheit unverändert. 1988 betrug er 11,3%, stieg dann bis 2003 und 2008 auf 13,5% an und sank schließlich auf 11%, da die Krise vor allem die reichen Volkswirtschaften traf, wo die meisten der zu den Top 1% zählenden Menschen leben. Angesichts dessen, dass wir eine wachsende Zahl der Superreichen gar nicht erfassen oder sie ihre Vermögen stärker als in der Vergangenheit verbergen, ist es im Übrigen sehr wahrscheinlich, dass der Anteil der Top 1% sogar gestiegen ist.

Während der letzten 25 Jahre konnten wir also scheinbare paradoxe Entwicklungen beobachten: Einerseits ein stark steigendes globales Medianeinkommen und einen Rückgang der globalen Ungleichheit gemessen an synthetischen Indikatoren wie dem Gini oder Theil-Index. Andererseits gab es aber auch einen steigenden Einkommensanteil der Top 1% und eine Zunahme der in relativer Armut lebenden Menschen (vor allem in Afrika). Dieser letzte Punkt wirft erneut die viel diskutierte Frage auf, warum Afrika nicht konvergiert und seine Wachstumsraten hinter Asien (und den Rest der Welt) zurückfallen.

Wird die Welt also eine bessere, wie Bill Gates uns glauben machen will? Ja, in vielerlei Hinsicht tut sie das: Das Durchschnittseinkommen im Jahr 2013 ist fast 40% höher als 1998, und die globale Ungleichheit ist geringer. Aber gibt es auch schlechter Nachrichten? Ja: Der Anteil der zurückgelassenen Weltbevölkerung ist genauso groß und die Top 1% ziehen alle anderen sogar noch weiter davon. Wir verzeichnen also parallel ein Wachstum der globalen „Median-Klasse“ und einen Anstieg der weltweiten Polarisierung.

 

Zum Autor:

Branko Milanovic ist Professor an der City University of New York und gilt als einer der weltweit renommiertesten Forscher auf dem Gebiet der Einkommensverteilung. Milanovic war lange Zeit leitender Ökonom in der Forschungsabteilung der Weltbank. Er ist Autor zahlreicher Bücher und von mehr als 40 Studien zum Thema Ungleichheit und Armut. Außerdem betreibt er den Blog Global Inequality, wo dieser Beitrag zuerst in englischer Sprache erschienen ist.