Fremde Federn

Tatort Brexit, digitale Sozialkontrolle, Postidentitätspolitik

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Was Paul Krugman Deutschland rät, wie die Financial Times versucht, die Zitat-Quote von Frauen zu erhöhen und warum der Konflikt zwischen EU-Kommission und italienischer Regierung auch ein „Schock zweier Legitimitäten“ ist.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Tatort Brexit

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Silke Jäger

Während sich in London die Ereignisse rund um das Austrittsabkommen aus der EU überschlagen – und man dabei mit voller Kraft auf einen No-Deal-Brexit zusteuert – könnte man fast vergessen, wie es dazu kam, dass die Mehrheit der Briten die EU verlassen wollte.

Dazu ist eine Geschichte wichtig, die ich hier und hier schon angefangen habe zu erzählen. Sie wird in Großbritannien außer vom Guardian und einigen wackeren unabhängigen Medien von fast allen anderen ignoriert und handelt vom Rekord-Spender Arron Banks. Niemals vorher hat jemand eine so riesige Geldspende für eine politische Kampagne oder Partei in UK gemacht. Die Wahlaufsichtsbehörde hat untersucht, ob es dabei Ungereimtheiten gab und vor Kurzem den Fall an das britische Pendant zum BKA übergeben: Das Gefundene sei zu ernst, dafür bräuchte man kriminalistischen Sachverstand.

Aber was, wenn man nicht nur den bräuchte, sondern sogar den Verfassungsschutz? Jedenfalls interessiert das, was die Journalistin Carole Cadwalladr zu Banks‘ Geschäften herausgefunden hat, inzwischen auch US-Sonderermittler Robert Mueller, der die Verstrickungen der Trump-Kampagne mit dem russischen Geheimdienst untersucht.

Am Wochenende sind nun E-Mails aufgetaucht, die belegen, dass Banks Verbindungen zu Steve Bannon pflegte, der sich wiederum mit Nigel Farrage und Boris Johnson trifft. Außerdem kann man in diesem Twitter-Thread sehen, dass die Erfahrungen aus dem Brexit-Referendum in Bezug auf Mikrotargeting in der Trump-Kampagne genutzt wurden.

Was an dieser Geschichte aber wirklich verblüfft, ist die Trägheit, mit der die britische Regierung darauf reagiert. Theresa May muss sich ausgerechnet jetzt auch noch erklären, warum sie im Frühjahr 2016 Ermittlungen gegen Arron Banks blockiert hat. Und die Frage, die sich immer drängender stellt ist: Warum gibt es in UK keine Sonderermittlungen zu den Vorgängen und zum Personal der Leave-Kampagnen?

Wer diesen Text liest, macht hinter diese Frage mehr als drei große Fragezeichen.

Was Krugman Deutschland rät

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Eric Bonse

Die US-Wirtschaft boomt, das muss auch der Nobelpreisträger und prominente Trump-Kritiker Paul Krugman einräumen. Doch ansonsten lässt er kein gutes Haar an der „Trumponomics“. Der Einfluss der Präsidenten auf die Konjunktur werde gemeinhin überschätzt, einen Grund für weitere schuldenfinanzierte Steuergeschenke gebe es nicht, sagt Krugman im Interview mit der FAZ.

Allerdings glaubt der Starökonom nicht, dass die Schulden das Hauptproblem sind. Viel mehr Sorgen bereitet ihm der aggressive Protektionismus in der Handelspolitik. Davor sei auch Deutschland nicht sicher, denn Trump werde die Exportüberschüsse auf Dauer nicht hinnehmen, sagt Krugman. Tatsächlich hat der US-Präsident zuletzt wieder Drohungen gen Europa ausgestoßen.

Doch was könnte Deutschland tun, um Strafzölle abzuwehren? Krugman gibt einen überraschenden Rat:

Die beste praktische Lösung könnte darin bestehen zu versuchen, so unsichtbar wie möglich zu sein und wenig Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Aus seinem Munde hätte man das nicht erwartet – denn auch Krugman hat die deutschen Überschüsse immer wieder kritisiert. Zudem muss man sich fragen, ob die Taktik des „Sich-Wegduckens“ funktioniert. Die Bundesregierung hat dies in den letzten Monaten nämlich bereits versucht – und jede Initiative gestoppt, die Trump ärgern könnte, etwa eine EU-weite Digitalsteuer.

Dennoch scheint der US-Präsident sich nun wieder auf das größte EU-Land einzuschießen. Er droht nicht nur mit 25-Prozent-Zöllen auf deutsche Autos, sondern auch mit Sanktionen gegen die deutsch-russische Gaspipeline Nord Stream 2. Gut möglich, dass der Handelskrieg jetzt erst richtig beginnt …

Zur Verfestigung von Armut (und Reichtum), und was dagegen zu tun ist

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Cornelia Daheim

Spiegel Online berichtet über eine neue Studie zur Verteilung von Einkommen, und wie sich Armut und Reichtum jeweils „verfestigen“ – was für beides offensichtlich zutrifft. Die Quoten sowohl für Armut und Reichtum sind seit 1991 deutlich angestiegen, und auch verfestigte Armut stieg an.  Dabei  haben besonders Singles und Alleinerziehende ein hohes Risiko, dauerhaft arm zu sein bzw. zu bleiben. Und es gibt noch einige solcher aufschlussreichen Zahlen:

Vier von fünf dauerhaft Reichen haben Abitur beziehungsweise einen Hochschulabschluss. Hingegen gibt es so wenig dauerhaft Reiche mit Hauptschulabschluss, dass ihr Anteil statistisch nicht ausgewiesen werden kann. Das ist zwar nicht überraschend, zementiert aber die soziale Kluft besonders in Deutschland. Denn in der Bundesrepublik hängt der Schulabschluss von Kindern im internationalen Vergleich besonders stark vom sozialen Status der Eltern ab – Reichtum und Armut verfestigen sich also nicht nur individuell dauerhaft, sondern über Generationen hinweg. (…) Das höchste Risiko dauerhafter Armut haben Arbeitslose und Rentner (…). Teilzeitbeschäftigte haben zwar gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil ein leicht unterdurchschnittliches Risiko, dauerhaft arm zu sein – aber statistisch überhaupt keine Chance, zu den dauerhaft Reichen zu gehören.

Entsprechend fallen auch die Empfehlungen für Handlungsansätze aus, bei denen es z.B. um die Verbesserung der Bildungschancen für Kinder aus benachteiligten Familien, Maßnahmen gegen Langzeitarbeitslosigkeit usw. geht. Das ist nicht brandneu, aber wichtig und immer dringender anzugehen – das macht die Datenlage deutlich. Wer mehr wissen will, findet hier die Originalstudie; alle anderen finden die zentralen Aussagen im Artikel.

Der italienische Budgetstreit und die Demokratie

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Eric Bonse

Der Streit um den italienischen Budgetentwurf für 2019 spitzt sich zu. Die EU-Kommission hat im Rahmen des „Europäischen Semesters“ – der halbjährlichen Überprüfung der Finanzpolitik in der Eurozone – Änderungen an dem Entwurf gefordert. Er sieht eine Neuverschuldung von 2,4 Prozent des BIP vor, die alte Regierung in Rom hatte Brüssel noch 0,8 Prozent gemeldet.

„Die Populisten wollen die Schulden verdreifachen“, machen daraus viele Medien. Allerdings übersehen sie, dass 2,4 Prozent immer noch unter der im Maastricht-Vertrag erlaubten Schwelle von 3 Prozent liegen. Zudem wird gerne vergessen, dass es in Rom einen Regierungswechsel gegeben hat – und dass der Budgetentwurf die neuen Prioritäten der neuen Regierung widerspiegelt.

Und hier liegt ein Problem, meint der Brüsseler EU-Korrespondent der französischen Tageszeitung „Libération“. Denn die Lega und die Fünf-Sterne-Bewegung sind – was immer man auch sonst gegen sie einwenden mag – demokratisch legitimiert. Von der EU-Kommission könne man dies nicht behaupten. Sie ist nicht gewählt und niemandem Rechenschaft schuldig.

Quatremer spricht von einem „Schock zweier Legitimitäten“: Der direkt gewählten Regierung in Rom und der nur indirekt demokratisch legitimierten Kommission in Brüssel. Tatsächlich kann es hier zu einem Konflikt kommen. Wenn die EU-Kommission – wie geplant – ein Defizitverfahren gegen Italien einleitet, wird dies die Regierung in Rom als Angriff auf die Demokratie werten.

Für die Populisten ist das Vorgehen der EU Wasser auf ihre Mühlen. Ändern ließe sich das nur, wenn das Europaparlament viel enger als bisher in das Europäische Semester eingebunden würde – und die Macht bekäme, die EU-Kommission in der Finanzpolitik effizient zu überwachen und zur Not auch zu stürzen. Auch ein eigenes Euro-Budget würde den Konflikt entschärfen.

Beides hat Frankreichs Staatschef Macron vorgeschlagen. Doch er ist nicht durchgedrungen. Bleibt zu hoffen, dass der Budgetstreit mit Italien doch noch zu Reformen führt.

Chinas Geheimnis ist: Es gibt keines. Oder?

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Rico Grimm

Seitdem sich die USA mit Donald Trump an der Spitze im strategischen Niemandsland befinden und reihenweise Verbündete vor den Kopf stoßen, richten die ihren Blick immer mal auch woanders hin. Natürlich steht China besonders im Fokus, das Land ist das Erfolgsmodell des wirtschaftlichen Aufstiegs, das sich anschickt, die Lücke zu füllen, die die USA hinterlassen. Dieser Text bei Zeit Online stellt nun eine einfache, aber schön provokante Frage: Ist es überhaupt ein Modell? Lässt sich denn überhaupt etwas von China lernen? Denn selbst chinesische Ökonomen, die zugegeben zu den Außenseitern in ihren Ländern gehören, glauben, dass der Staatskapitalismus gar keine so große Rolle gespielt hat wie viele glauben. Zeitgleich zu diesem Text veröffentlichte die NYTimes eine Serie über China, die zu genau dem anderen Schluss kommt. Prägnant formuliert:

The West was sure the Chinese approach would not work. It just had to wait. It’s still waiting.

Beide Texte sind lesenswert, der von der Times, ob der guten Fotos auch betrachtenswert!

Venezuelas „Vaterlandskarte“: Digitale Sozialkontrolle, made in China

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Sonja Peteranderl

China als fragwürdiges Vorbild: Venezuela hat im vergangenen Jahr eine „smarte“ ID-Karte mit QR-Code eingeführt, die als Ausweisdokument dient, den Zugang zu staatlichen Dienstleistungen regelt, und sogar das Wahlverhalten der Kartenbesitzer trackt. Auch mobile Zahlungen sollen mit der digitalen ID abgewickelt werden.

The database, according to employees of the card system and screenshots of user data reviewed by Reuters, stores such details as birthdays, family information, employment and income, property owned, medical history, state benefits received, presence on social media, membership of a political party and whether a person voted.

Hinter dem System steckt die chinesische Firma ZTE, deren Rolle in Venezuela Reuters-Korrespondent Angus Berwick intensiv recherchiert hat. China ist derzeit das Land mit der am weitesten entwickelten Vision eines umfassenden Bürger-Scorings, dem Citizen Scoring System (SCS) – bis 2020 soll jeder Bürger anhand zahlreicher miteinander verknüpfter Datenquellen bewertet werden.

Bisher ist die Teilnahme am „Vaterlandskarte“-System in Venezuela freiwillig – dennoch ist ein solches Erfassungssystem, über das sowohl staatliche Sozialprogramme registriert, als auch Zahlungen abgewickelt werden sollen, besorgniserregend – vor allem in einem korrupten und autoritären Land wie Venezuela, dessen Regierung mit Kritikern und Oppositionellen wenig zimperlich umgeht. Hacks haben bereits aufgezeigt, dass das System manipuliert werden kann. Hacker hatten etwa den Präsidenten aus der ID-Datenbank gelöscht.

Ankunft in der Wirklichkeit – das Ende des Postmaterialismus und der Identitätspolitik?

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Thomas Wahl

Der Artikel widmet sich der Selbstwahrnehmung unserer Gesellschaft seit den 1970er Jahren und dem Zusammenstoß mit der Realität heute. Luhmann würde es vielleicht die Autopoietisierung der „linksliberalen“ Intellektuellen nennen.

In einer Zeit, da der Klassenkampf durch Teile der Linken wieder als ideologisches und strategisches Konzept auf die Tagesordnung gesetzt wird, zeichnet er noch mal die Geschichte nach – beginnend mit einer Zeit,

 … in der immer mehr Linke beschlossen, sich schmollend von der Arbeiterklasse abzuwenden, da diese in den späten 1960er Jahren nicht bereit war, den revoluzzenden Bürgerkindern auf dem Weg zu folgen.

Damit begann eine einseitige Hinwendung der bürgerlich werdenden Linken zur Identitäts-, Minderheiten- und Umweltpolitik. Die Berührungspunkte zu der Schicht, die man ursprünglich als Arbeiterklasse bezeichnete (und die sich selbst auch stark veränderte), gingen verloren, die verschiedenen sozialen Bewegungen drifteten auseinander. Was man nicht für schlimm hielt, die „alte Welt der Arbeiter, Industrien und Gewerkschaften“ würde ja bald verschwinden. Und überhaupt war ein einfaches Leben der Sinnsuche eh erstrebenswerter.

Dieser Postmaterialismus, die Zeit der Identitätspolitik scheint vorbei – fehlendes Wachstum, Weltwirtschaftskrise, wachsende Migration, Rechtsruck etc. stehen als Menetekel an der Wand.

Auch der erfolgreiche Kampf der Deutschen Umwelthilfe gegen den Diesel wird sich bald an Entlassungen in der Automobilindustrie und dem Abbau von Produktionsanlagen messen lassen. Für den Wegfall der Solidarität zahlen vor allem die Arbeiter einen hohen Preis, was sich in Zukunft allerdings ändern wird.

Viele, die heute nach Deutschland zuwandern, tun dies um ein besseres Leben zu führen, und nicht wegen der Selbstfindung. Und sie sind eine harte materielle, wirtschaftliche Herausforderung. Sie benötigen Wohnung, Bildung, Nahrung, Arbeit, in unserem wenig dynamischen, selbstverliebten Land. Willkommen in der Realität …

Schöner wohnen: Fünf Erfolgsprojekte des sozialen Wohnungsbaus

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Magdalena Taube

Stichwort „sozialer Wohnungsbau“. Die gängigen Vorstellungen, die aufkommen: Ghettoisierung, Verdrängung und vor allem: hässliche Schuhkartonbauten, am Rande der Stadt, bloße Schlafstätten für ArbeiterInnen. (Mal ganz abgesehen davon, dass im kapitalistisch getriebenen Wohnungs- und Immobilienmarkt für die Vorstellung vom subventionierten Wohnraum ohnehin kein Platz ist.)

Vielschichtige Kritik am sozialen Wohnungsbau ist in den meisten Fällen angebracht. Doch es gibt auch Positives zu berichten! Wohnprojekte, die zeigen: Öffentlich gefördertes Wohnen und lebenswerten Bauprojekte müssen einander nicht ausschließen. Mit viel Enthusiasmus stellt Meagan Day für das Jacobin-Magazin hier fünf Projekte vor, in denen es gelungen ist Wohnraum für Menschen mit geringem Einkommen zu schaffen. Der Blick geht hier von den USA nach Europa und Südamerika. In der Liste kommt sowohl das Rote Wien vor, mit den zahlreichen Bauprojekten, die in den 1920er und 1930er Jahren entstanden, als auch Projekte aus England und Chile, erbaut in den letzten Dekaden.

Die Bezeichnung „sozial schwach“ wertet Menschen ab – und hält sich hartnäckig. Schluss damit!

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Simon Hurtz

Sprache ist mächtig und verändert Bewusstsein. Journalist*innen verdienen ihr Geld damit, aus Wörtern Texte zu formen. Man sollte meinen, dass sie besonders gut darauf achten, welche Worte sie nutzen. Leider ist das nicht immer der Fall.

Nicola Wessinghage dokumentiert in ihrem Blog, wie Medien über eine OECD-Studie berichteten, in der Wissenschaftler*innen die ungleiche Verteilung von Bildungschancen an deutschen Schulen untersuchten. Viele hätten dabei Formulierungen wie „sozial schwache Schüler“, „sozial schwache Familien“ oder gar „sozial schwachen Schulen“ verwendet.

Mit ihrer Wortwahl verstärkten die Berichtenden jenen Zustand, den die Studie anprangert: Dass Kinder schlechtere Chancen auf eine erfolgreiche Bildung haben, wenn sie in Familien mit wenig Geld aufwachsen und ihre Eltern formal weniger gebildet sind.

Da hilft es auch nichts, wenn man den Begriff in Anführungszeichen setzt oder von ‚So genannten sozial-schwachen“ Familien spricht. Sozial schwach – das suggeriert, dass es diesen Menschen an sozialen Kompetenzen fehle, an der Fähigkeit, sich in die Gemeinschaft mit anderen zu integrieren, dass sie sich asozial verhielten.

Tatsächlich geht es natürlich nicht um Menschen, denen es an sozialen Fähigkeiten mangelt, sondern an Geld. Zeit Online schreibt etwa von Familien, die unter „schwierigen sozioökonomischen Bedingungen“ leben.

Hört sich blöd an? Da empfehle ich ein Gespräch mit den Menschen, die in den Stadtteilen leben, die Journalist*innen und andere immer wieder als „sozial schwache Wohngebiete“ abstempeln. Sie empfinden diese Zuschreibung als eine Zumutung, die den Betroffenen seit Jahren widerfährt.

Wessinghage geht es nicht darum, „Sprachpolizei zu spielen oder sich über die zu erheben, die das unpassende Etikett vielleicht unbewusst im aktiven Sprachgebrauch führen“. Sie will dafür sensibilisieren, bewusst mit Sprache umzugehen. Das ist, finde ich, ein wichtiges Anliegen – nicht nur für Journalist*innen.

Die Financial Times hat einen Bot entwickelt, der warnt, wenn nur männliche Experten zu Wort kommen

piqer:
Simon Hurtz

79 Prozent der Menschen, die in Artikeln der Financial Times zu Wort zu kommen, sind Männer. Das will die britische Zeitung ändern und versucht es mit Nudging: Eine Software analysiert den Frauenanteil unter den zitierten Expertinnen und Experten. Wenn allzu viele Männer auftauchen, schlägt der Bot Alarm.

Als Wirtschaftszeitung deckt die FT viele Themengebiete ab, die tendenziell eher Männer als Frauen anziehen. „Redaktionen, die verhältnismäßig viele Frauen zitieren, zeigen auch mehr Frauen auf Bildern und werden eher von Frauen gelesen“, schreibt die stellvertretende Redaktionsleiterin Roula Khalaf in einer internen E-Mail an die Angestellten.

Aus meiner eigenen Arbeit weiß ich, dass es oft einfacher ist, einen Mann zu zitieren. Wer nach Experten für ein bestimmtes Themengebiet sucht, findet meist überwiegend Männer, insbesondere bei Tech-Themen. Diese haben selten Hemmungen, sich zitieren zu lassen, während manche Frauen auf angeblich besser qualifizierte Kollegen verweisen.

Umso wichtiger finde ich es, etwas an diesem Missverhältnis zu ändern. Medien haben Verantwortung: Wenn sie zu bestimmten Themen fast ausschließlich Männer zu Wort kommen lassen, fehlen Mädchen und jungen Frauen Vorbilder, die ihnen Mut machen.

Der Bot kann keine strukturellen Probleme innerhalb der Redaktionen lösen. Aber ich glaube, dass es manchmal schon reicht, daran erinnert zu werden, Frauen zu zitieren. Gerade im Alltagsstress vergisst Mann (und manchmal auch Frau) das oft, ohne dass Absicht dahinter steckt. Vielleicht kann die Financial Times den Code veröffentlichen, sodass andere Medien vergleichbare Mechanismen implementieren können. Einen Versuch wäre es wert.