Analyse

Wie sollte sich die EU in der türkischen Währungskrise verhalten?

Die EU sollte schnellstens eine politische Linie zur Krise in der Türkei und dazu passende Instrumente entwickeln. Zudem muss sie sich darüber klar werden, ob sie einen eher funktionalen Ansatz fahren will – oder mögliche Hilfen auch verwendet werden sollen, um demokratische Werte voranzutreiben. Eine Analyse von Grégory Claeys und Guntram B. Wolff.

Foto: OCHA / Berk Özkan via Flickr (CC BY-ND 2.0)

Die türkische Lira hat seit Anfang des Jahres mehr als 30% ihres Werts gegenüber dem US-Dollar eingebüßt. Nach der Eskalation der politischen Spannungen zwischen den USA und der Türkei und der Erhöhung der US-Zölle auf einige türkische Importe in der letzten Woche befand sich die Lira vorrübergehend im freien Fall. Die Situation scheint sich inzwischen etwas stabilisiert zu haben, aber es gibt immer noch jede Menge offene Fragen.

Die Türkei hat laut IWF kurzfristige Auslandsschulden in Höhe von etwa 23% des BIP. Das entspricht ca. 180 Milliarden US-Dollar und stammt größtenteils von nicht-finanziellen Unternehmen, die Finanzierung benötigen. Der IWF warnt schon seit einiger Zeit vor einem Überhitzen der Wirtschaft und fordert mehr Zurückhaltung bei der Vergabe von fiskalischen Garantien für Kreditprogramme der Banken und andere implizite Verbindlichkeiten ein. Nichtsdestotrotz ist die öffentliche Schuldenquote der Türkei auf etwa 28% begrenzt. Das Haushaltsdefizit liegt bei über 3% und das Leistungsbilanzdefizit bei über 5%. Diese Zahlen deuten darauf hin, dass tatsächlich eine Korrektur der makroökonomischen Politik benötigt wird.

Es ist aber noch zu früh, um zu sagen, dass die Türkei ein Bail-out-Programm brauchen wird, wie einige Beobachter meinen. Sicherlich, wenn der politische Konflikt mit den USA eskaliert, wird die Nervosität der Märkte mit Blick auf die Finanzierung der Türkei weiter zunehmen. Und während sich die Lira in den letzten Tagen stabilisiert hat, sollten sich europäische Politiker angesichts der Gesamtsituation darüber klar werden, was die Position der EU gegenüber der Türkei sein sollte.

Warum sollte sich die EU um die Türkei sorgen?

Es gibt drei Hauptgründe, warum sich die EU mit der Krise in der Türkei beschäftigen sollte. Erstens könnte eine Finanzkrise in einem EU-Nachbarland direkte Auswirkungen auf die EU-Wirtschaft haben, hauptsächlich wegen des Außenhandels mit der Türkei und wegen der Exposition von europäischen Banken, die in der Türkei operieren (das gilt insbesondere für Banken aus Spanien, Frankreich, Italien und Deutschland).

Angesichts der Größe der EU-Gesamtwirtschaft (über 18 Billionen Euro) im Vergleich zur Türkei (weniger als eine Billion Euro) sind diese Faktoren relativ klein und sollten zu bewältigen sein. Allerdings sind einige EU-Länder trotz der wirtschaftlichen Erholung der letzten Jahre immer noch verletzbar – wie man anhand der Reaktion der Anleihenmärkte für Griechenland und Italien beobachten konnte.

In welchem Ausmaß die ökonomischen Probleme der Türkei in anderen Schwellenmärkten zu einem Vertrauensverlust führen werden, ist fraglich. Die Kursverluste des südafrikanischen Rand, der indischen Rupie oder des mexikanischen Pesos signalisieren eine gewisse Ansteckung – aber es gibt auch vorsichtigere Bewertungen: So könnte die direkte Ansteckung nicht sonderlich stark sein, sondern eher globale Entwicklungen wie die Normalisierung der Geldpolitik und die Stärke des US-Dollars die Risikoaufschläge für die Schwellenländer nach oben treiben.

Könnte eine Finanzkrise die Politik so stark verändern, dass daraus auch ein Wechsel des türkischen Ansatzes in der Migrationspolitik resultiert?

Der zweite Grund, warum sich die EU Gedanken über die Krise in der Türkei machen sollte, liegt in den möglichen politischen Folgewirkungen und den daraus resultierenden Veränderungen der türkischen Migrationspolitik. Die Türkei ist für die meisten Flüchtlinge, aber auch für Wirtschaftsmigranten aus dem Nahen Osten und Asien ein Transitland auf dem Weg nach Europa. Zwischen der EU und der Türkei gibt es einen Deal zu den syrischen Flüchtlingen. Könnte eine Finanzkrise die Politik so stark verändern, dass daraus auch ein Wechsel des türkischen Ansatzes in der Migrationspolitik resultiert? Die Antwort auf diese Frage ist für die Europäische Union von großer Bedeutung.

Und letztlich sind auch geopolitische Überlegungen wichtig. Präsident Erdogan hat bereits angekündigt, dass sein Land dem Westen den Rücken kehren und nach neuen Verbündeten Ausschau halten könnte. Die Türkei ist seit 1952 Nato-Partner und spielt seit geraumer Zeit eine unterstützende Rolle für die westlichen Länder im Nahen Osten. Zudem ist die Türkei immer noch ein offizieller EU-Beitrittskandidat.

Für die türkische Regierung könnte es schwierig werden, andere Partner zu finden, die in der Lage sind, das Land zu finanzieren, falls sich die Krise weiter zuspitzt. Allerdings setzt diese Perspektive voraus, dass die Regierung in der gegenwärtigen Situation einen rationalen Ansatz wählt. Daher sollte die EU die geopolitische Bedrohung sorgfältig begutachten, da sie starke Implikationen für Europa haben würde.

Welche Instrumente hat die EU, falls die Türkei um Hilfe bitten sollte?

Der IWF ist der offensichtliche Kandidat, um einem Land, das in einer lehrbuchmäßigen Zahlungsbilanzkrise steckt und ein klares Bedürfnis nach Dollar-Finanzierung hat, finanzielle Unterstützung zu geben. Es dürfte jedoch de facto schwierig werden, ein IWF-Programm zu starten, wenn die US-Regierung diesem nicht zustimmt, auch wenn die USA kein faktisches Vetorecht im Exekutivrat des Währungsfonds haben. Und eine solche Übereinkunft dürfte in diesen Tagen angesichts der momentanen Haltung der US-Regierung gegenüber der Türkei und der kürzlich erfolgten Entscheidung, Sanktionen einzuführen und die Zölle auf Stahl und Aluminium aus der Türkei zu verdoppeln, schwierig zu erreichen sein.

Sollten die EU-Staaten zu der Auffassung kommen, dass die Vermeidung einer Eskalation der türkischen Krise in ihrem eigenen Interesse ist, könnte die EU aber auch versuchen, in Eigenregie ein Finanzhilfe-Paket zu organisieren, wenn die Vereinbarung eines IWF-Programms zu schwierig ist (oder die Türkei keinen Deal mit dem IWF will). Tatsächlich stehen der EU einige Instrumente zur Verfügung, um Ländern außerhalb der EU mit finanziellen Schwierigkeiten zu helfen.

Vor allem könnte die EU auf ihr „Macro-Financial Assistance“-Programm (MFA) zurückgreifen, was für Nicht-EU-Partnerländer reserviert ist. Dieses Programm wurde in den letzten Jahren bereits genutzt, um EU-Nachbarländern wie Tunesien, Jordanien, Moldau, Georgien und der Ukraine zu helfen.

Warum ist eine Intervention für die EU schwierig?

Allerdings könnte die Verwendung eines MFA-Programms für die Türkei schwierig sein. Erstens besagen die EU-Vorschriften, dass es eine Vorbedingung für die Gewährung des MFA-Programms ist, dass „die Menschenrechte und effektive demokratische Mechanismen geachtet“ werden – was im Falle der Türkei nach der systemischen Bekämpfung der türkischen Presse und von politischen Gegnern während der letzten zwei Jahre einigermaßen schwer zu begründen sein dürfte.

Zweitens wird die Involvierung des Internationalen Währungsfonds als notwendig angesehen, da die Existenz einer „nicht-vorbeugenden Kreditvereinbarung mit dem IWF und eine zufriedenstellende Erfolgsbilanz bei der Implementierung von IWF-Programm-Reformen“ ebenfalls eine Bedingung für ein MFA-Programm ist.

Und drittens sind die Summen der MFA-Kredite grundsätzlich ziemlich limitiert und weitaus geringer als das, was im Falle eines Bail-outs für die Türkei angesichts der momentanen Krise nötig wäre (der bisher größte MFA-Kredit ging an die Ukraine und hatte ein Gesamtvolumen von gerade einmal 3,4 Milliarden Euro). Um mögliche Verluste aus diesen Krediten abzudecken, hat die EU einen Garantie-Fonds gegründet, der 9% der Verbindlichkeiten beinhalten muss, durch graduelle Zahlungen aus dem EU-Haushalt gespeist wird und somit die Kreditvergabekapazität des MFA-Programms erheblich begrenzt.

Was sollte die EU also tun?

Die Frage, ob die Türkei unterstützt werden sollte, hängt natürlich in allererster Linie davon ab, ob die türkische Regierung dies möchte. Aber die Entscheidung, die Türkei zu unterstützen, ist für die EU eine schwierige politische Frage.

Zunächst sollte klar sein, dass die EU-Staaten aufgrund ihrer geografischen Lage wesentlich verwundbarer gegenüber einem möglichen türkischen Crash sind als die USA. Die EU sollte daher schnell eine gemeinsame Position entwickeln und in der Lage sein, mit angemessenen Instrumenten zu reagieren. Das legt nahe, dass das MFA-Instrument der EU von IWF-Entscheidungen unabhängig gemacht werden sollte, was bisher nicht der Fall ist.

Außerdem muss die EU sich darüber klar werden, ob ein solches Instrument verwendet werden soll, um demokratische Werte voranzutreiben, oder ob die EU eher – wie der IWF – einen  funktionaleren Ansatz fahren will und die Konditionalität auf spezifische makro-strukturelle Politiken begrenzt.

Politische Veränderungen im Rahmen eines Finanzhilfe-Programms einzufordern, könnte in der türkischen Innenpolitik dramatisch nach hinten losgehen

Manche europäische Politiker wie der Bundestagsabgeordnete der Grünen, Cem Özdemir, haben bereits angekündigt, dass es eine Unterstützung der EU „nur bei Rückkehr zur Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“ geben könne. Aber politische Veränderungen im Rahmen eines Finanzhilfe-Programms einzufordern, könnte in der türkischen Innenpolitik dramatisch nach hinten losgehen. Eine solche Forderung könnte von Erdogan als Argument verwendet werden, dass der Westen und die EU Teil einer Verschwörung gegen ihn und die Türkei wären. Die EU sollte hier also behutsam vorgehen.

Dennoch ist eine gute Regierungsführung fundamental für das langfristige Wohlbefinden der Türkei und die Umsetzung einer vernünftigen Wirtschaftspolitik. Einer der Gründe für die Nervosität der Märkte gegenüber der Türkei liegt in der Tatsache begründet, dass der türkische Präsident seinen Schwiegersohn als Finanzminister eingesetzt hat, was Zweifel an der Qualität der Politik schürt.

Letztlich besteht der beste Ansatz für die EU darin abzuwarten und zu beobachten, wie sich die türkische Innenpolitik entwickelt. Aber in der Zwischenzeit kann die EU kein gleichgültiger Beobachter sein. Sie muss jetzt ihre eigene politische Linie und dazu passende Instrumente entwickeln.

 

Zu den Autoren:

Grégory Claeys ist Research Fellow am wirtschaftswissenschaftlichen Institut Bruegel. Auf Twitter: @gregclaeys

Guntram B. Wolff ist Direktor des wirtschaftswissenschaftlichen Instituts Bruegel. Auf Twitter: @GuntramWolff

Hinweis:

Dieser Beitrag ist zuerst in englischer Sprache auf der Bruegel-Homepage erschienen.