Rente

Wie Altersarmut dramatisiert – und relativiert – wird

Die Diskussion um Altersarmut wird leider oft mit verzerrenden Statistiken geführt, und zwar von verschiedenen Seiten. Klar ist aber: Eine weiter ansteigende und teils explodierende Altersarmut lässt sich im bestehenden System der Alterssicherung nicht mehr aufhalten – es sei denn, man wagt systemverändernde Umbauarbeiten. Eine Analyse von Stefan Sell.

No country for old (wo)men? Foto: Pixabay

Es ist eine Binsenweisheit, dass man bei Statistiken verdammt aufpassen muss. Gerade auch deshalb, weil sie gerne von den einen oder anderen für ihre jeweiligen Zwecke genutzt oder vernebelt werden. Besonders gefährlich wird es, wenn mit Durchschnittswerten gearbeitet wird. Ein Beispiel: „Dem Alterssicherungsbericht der Regierung zufolge lag das durchschnittliche Netto-Gesamteinkommen für Ehepaare im Jahr 2016 bei 2.543 Euro. Alleinstehende Männer über 64 kamen auf 1.614, alleinstehende Frauen auf 1.420 Euro.“ Der eine oder die andere mag nun denken: den Senioren geht es doch sehr gut! Als Rentnerpaar netto mehr als 2.500 Euro im Monat – da kann man das Leben ordentlich genießen, womit auch die vielen älteren Menschen auf den Kreuzfahrtschiffen dieser Welt erklärt wären.

Nun sind aber solche Zahlen fragwürdig bzw. sogar kontraproduktiv, wenn man die Streuung der einzelnen tatsächlichen Einkommenswerte um diesen Mittelwert nicht kennt oder diese stark ausgeprägt ist. Genau das ist aber bei den Haushaltseinkommen der Fall, was auch erklärt, warum Millionen Rentner beim Lesen dieser Werte sicher mehr als erstaunt reagieren würden, wie weit weg ihr verfügbares Einkommen doch davon ist, während andere über die 2.500 Euro pro Monat für zwei Personen nur müde lachen können.

Und die Probleme mit den Rentenstatistiken gehen noch weiter. Kürzlich machten Meldungen die Runde, laut denen „fast jede zweite Rente niedriger als 800 Euro“ ist. Die Grundlage für diese Berichte war eine Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag. Rund 8,6 Millionen Rentner erhielten Ende 2016 demnach eine Rente von weniger als 800 Euro monatlich – ein Anteil von 48%. Darunter befanden sich knapp 2,2 Millionen (= 27% aller Männer im Rentenbezug) sowie 6,4 Millionen Frauen (= 64% aller Frauen im Rentenbezug). Die Zahlen beziehen sich dem Bericht zufolge auf Renten nach Sozialversicherungsbeiträgen, jedoch vor Abzug von Steuern.

Viele werden dies so interpretieren, dass Millionen Rentner heute schon eine Rente unterhalb der Sozialhilfeschwelle bekommen und auch nicht mehr haben – was aber natürlich falsch ist. So schreibt das Arbeitsministerium zutreffend, dass die „Rentenhöhe für sich genommen nur eingeschränkt Hinweise auf die Einkommenssituation im Alter (gibt). Da weitere Einkommen nicht berücksichtigt werden, ist die Bezugnahme auf die Höhe des durchschnittlichen Bruttobedarfs von Empfängerinnen und Empfängern der Grundsicherung im Alter (800 Euro, Stand Dezember 2016) diesbezüglich nicht aussagefähig.“

Was die Ministerialen damit zum Ausdruck bringen wollen: Nur weil jemand eine mickrige Rente von 400 oder 500 Euro im Monat bekommt, bedeutet das noch lange nicht, dass die betroffene Person auch nur davon über die Runden kommen bzw. beim Sozialamt aufstocken muss. Es kann sich nämlich durchaus um Personen handeln, die insgesamt betrachtet gut leben können – weil sie tatsächlich weitaus mehr Geld zur Verfügung haben.

Eine niedrige Rente aus der Gesetzlichen Rentenversicherung darf nicht mit einem niedrigen Alterseinkommen oder gar mit Altersarmut gleichgesetzt werden

Die Auflösung dieses scheinbaren Rätsels ist einfach und mehrdimensional zugleich:  Eine niedrige Rente aus der Gesetzlichen Rentenversicherung darf nicht mit einem niedrigen Alterseinkommen oder gar mit Altersarmut gleichgesetzt werden. So können Rentenzahlungen aus anderen Sicherungssystemen (z.B. Beamtenversorgung, Betriebsrente, Lebensversicherung) hinzukommen – oder es könnten Ansprüche auf andere Einkommen wie Mieteinnahmen bestehen. Außerdem können Rentner neben der Versichertenrente auch eine Hinterbliebenenrente beziehen.

Und diejenigen, die nur sehr geringe Renten beziehen (weniger als 300 Euro), sind in aller Regel hauptsächlich durch andere Alterssicherungssysteme abgesichert: Vor dem Eintritt in ein Beamtenverhältnis oder vor Beginn der Selbstständigkeit waren sie für kurze Zeit versicherungspflichtig beschäftigt, sodass ihre gesetzlichen Renten niedrig ausfallen. Schlussendlich ist das Haushaltseinkommen insgesamt zu berücksichtigen: Eine Ehefrau mit einer geringen Rente kann in einem Haushalt leben, in dem aufgrund der Rente ihres Ehemanns insgesamt ein (ausreichend) hohes Haushaltseinkommen erreicht wird.

Diese Argumentation wird dann auch wenig überraschend von interessierten Kreisen, beispielsweise dem arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW), angeführt. Unter der Überschrift „Armutsgefährdung treffsicher bekämpfen“ heißt es dort: „Dass heute so viele niedrige Renten ausgezahlt werden, ist auch ein Spiegel der familiären Arbeitsteilung, die früher vor allem für westdeutsche Haushalte typisch war: Vorherrschend war der männliche Alleinverdiener, der deshalb auch das Gros des Ruhestandseinkommens beisteuert. Das sichert auch den Ehepartner ab, selbst wenn dessen Rentenanspruch vergleichsweise gering ausfällt. So lässt sich erklären, warum fast die Hälfte der gesetzlichen Monatsrenten unter dem Hartz IV-Niveau eines Single-Haushalts (einschließlich pauschalierter Wohnkosten) liegt, aber nur 3,1 Prozent der über 65-Jährigen Grundsicherung im Alter beziehen.“

Die Botschaft ist klar – von einem besonderen Problem Altersarmut kann man nun doch nicht wirklich sprechen, wenn die Quote der Grundsicherungsempfänger im Alter bei schlappen 3,1 Prozent liegt. Also alles relativ gut, von den wenigen Ausnahmen einmal abgesehen.

Wie wird Altersarmut gemessen?

Das IW stellt mit dieser Argumentation so etwas wie die mindestens genauso problematische Gegenseite zu denen dar, die die zuvor genannten Zahlen zu den Bezügen aus der Gesetzlichen Rentenversicherung ohne Kontext zitieren. Denn das IW nimmt hier eine ganz perfide Engführung von Altersarmut vor – auf die Gruppe derjenigen, die sich in das System einer bedürftigkeitsabhängigen und -geprüften Sozialhilfeleistung begeben haben. Kein Wort über die vielen Menschen, die eigentlich Anspruch auf aufstockende Grundsicherungsleistungen aufgrund ihrer niedrigen Renten hätten, diese aber aus unterschiedlichen Gründen nicht wahrnehmen.

Aber um diese „Dunkelziffer der Armut“ selbst geht es hier nicht – sondern um den Tatbestand, dass nach international gültigen statistischen Konventionen die Altersarmut oder das Risiko, von ihr betroffen zu sein, eben nicht an der Zahl der Grundsicherungsempfänger gemessen wird, sondern an der relativen Einkommensarmutsquote. Und die ist so definiert: Wenn man weniger als 60% des Medianeinkommens hat, dann gilt man als von Einkommensarmut „bedroht“. Oder um es lebensnäher auszudrücken: Wenn man als Einpersonenhaushalt im Jahr 2016 weniger als 969 Euro im Monat für alles zur Verfügung hatte, also für Miete, Lebensmittel und sonstige Ausgaben, dann war man im Status „armutsgefährdet“. Man kann natürlich auch sagen: Mit solchen Geldsummen war und ist man schlichtweg arm, wenn man sich die Miet- und sonstigen Preise anschaut.

Aber die Verengung des Begriffs Altersarmut auf den Grundsicherungsbezug hat derzeit Konjunktur. Hier exemplarisch ein Beispiel aus dem Versicherungsjournal, wo es heißt: „Die Deutsche Rentenversicherung hat ausrechnen lassen, wie sich wohl die Inanspruchnahme der Grundsicherung durch Ältere bis zum Jahr 2030 entwickeln könnte. Die ungünstige Projektion geht von einer Verdoppelung der Grundsicherungsbezieher im Alter aus, die günstigere von einem verlangsamten Zuwachs auf gut 834.000.“

Aber warum wird hier eigentlich nicht die „Armutsgefährdungsschwelle“ herangezogen, also das international gültige Maß? Weil man dann konzedieren muss, dass der Anteil der altersarmen Menschen mit über 15% deutlich höher liegt als die Quote der Grundsicherungsempfänger? Und/oder, weil man dann nicht zur Kenntnis nehmen muss, dass der Anstieg der so gemessenen Armutsquote Menschen über 65 Jahren deutlich über der allgemeinen Armutsentwicklung lag, wie Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen:

Armutsgefährdungsquote: Anteil der Personen mit einem Äquivalenzeinkommen von weniger als 60% des Bundesmedians der Äquivalenzeinkommen der Bevölkerung in Privathaushalten am Ort der Hauptwohnung. Das Äquivalenzeinkommen wird auf Basis der neuen OECD-Skala berechnet. Quelle der Daten: Statistisches Bundesamt (2017). Abbildung: Aktuelle Sozialpolitik.

Oder weil man dann möglicherweise diskutieren muss, dass der bereits in den vergangenen Jahren erkennbare überdurchschnittliche Anstieg der Armutsquote bei den älteren Menschen erst das „Warmlaufen“ einer Entwicklung mit Blick auf die vor uns liegenden Jahre ist, die ohne grundlegende Reformen einen starken Schub an altersarmen Menschen bringen wird?

Eine Welle von prekär abgesicherten Menschen

In den kommenden Jahren werden wir nämlich vor allem in Ostdeutschland eine erste Welle von vielen, dann nur noch prekär im Alter abgesicherten Menschen erleben. Denn dort gehen jetzt immer mehr Menschen in Rente, die nach der Wiedervereinigung über 40 waren und die damals keinen richtigen Fuß mehr auf den Arbeitsmarktboden bekommen haben – erst mit „Kurzarbeit Null“ in Maßnahmen der Arbeitsverwaltung, später vielleicht, wenn überhaupt, eine Beschäftigung im grassierenden Niedriglohnsektor mit Stundenlöhnen zwischen vier und sechs Euro. Jeder, der sich nur etwas mit der Rentenformel in unserem System beschäftigt hat (die an sich mehr als simpel gestrickt ist, vgl. dazu § 64 SGB VI), weiß, dass man mit solchen Einkommen keine gesetzliche Rente erwirtschaften kann, die selbst bei jahrzehntelanger Arbeit über dem Grundsicherungsniveau liegen wird.

Vor allem in Ostdeutschland gibt es sehr viele Menschen, die zerschossene Erwerbsbiografien aufweisen

Und gerade in Ostdeutschland kommt gleichsam eine altersarmutsrelevante Kumulation von Risiken hinzu. Denn dort gibt es sehr viele Menschen, die zerschossene Erwerbsbiografien mit teilweise sehr langen und/oder immer wiederkehrenden Arbeitslosigkeitszeiten (deren rentenrechtliche Absicherung übrigens über die Jahre immer schlechter geworden ist) aufweisen, sowie Beschäftigungszeiten in dem gerade in Ostdeutschland ausgeprägten Niedriglohnsektor. Letztere waren und sind vor allem Branchen, wo es so gut wie nie irgendwelche Formen der ergänzenden betrieblichen Altersvorsorge gab und gibt, so dass auch keine Ansprüche auf Betriebsrenten aufgebaut werden konnten. Private Altersvorsorge haben die meisten auch nicht betreiben können, weil sie schon mit den laufenden Kosten kaum über die Runden kamen – von Vermögensaufbau ganz zu schweigen. Eine signifikant große Erbengeneration gibt es hier auch nicht.

Daraus folgt aber eben auch: Viele dieser Menschen werden im Ruhestand ganz überwiegend bis ausschließlich auf die Leistungen aus der Gesetzlichen Rentenversicherung angewiesen sein. Diese einseitige Unwucht kann man bereits für die Vergangenheit feststellen, gerade wenn man sich anschaut, was aufgrund der Kritik an einer Überbewertung der niedrigen Einzelrenten der eigentlich relevante Maßstab für die Beurteilung der Frage sein sollte, ob wir es mit armen Haushalten zu tun haben – also das Gesamteinkommen der Haushalte älterer Menschen, das eben auch aus anderen Quellen als nur der gesetzlichen Rente gespeist werden kann.

Die folgende Tabelle aus dem Rentenversicherungsbericht 2017 mit Zahlen aus dem Projekt Alterssicherung in Deutschland 2015 (ASID 2015) zeigt eindrücklich die einseitige Struktur der Haushaltseinkommensquellen der Älteren in Ostdeutschland und deren bereits heute bestehende Abhängigkeit bzw. ihr Ausgeliefertsein an das, was aus dem gesetzlichen Rententopf reinkommt:

Die Datenbasis für die hier präsentierte Darstellung der Einkommenssituation der älteren Bevölkerung ist die repräsentative Studie „Alterssicherung in Deutschland (ASID)“. Sie wurde zuletzt für das Jahr 2015 durchgeführt. Quelle: Rentenversicherungsbericht 2017, Bundestags-Drucksache 19/140 vom 30.11.2017, S. 18. Tabelle: Aktuelle Sozialpolitik.

Und der enorme Stellenwert der niedrigen Löhne und der daraus zwangsläufig selbst bei langen Beschäftigungszeiten resultierenden niedrigen gesetzlichen Rentenansprüche ist auch heute ein Charakteristikum für viele Menschen in Ostdeutschland: Ende 2016 hat fast jeder dritte vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer in Ostdeutschland weniger als 2.000 Euro brutto nach Hause gebracht. Was das nicht nur für das heutige Leben, sondern auch in unserem bestehenden Rentensystem zur Folge hat, muss nicht wirklich weiter entfaltet werden.

Die Rentenampel könnte bald tiefrot leuchten

Fazit: Eine weiter ansteigende und in den unteren bis in die mittleren Einkommensgruppen teilweise explodierende Altersarmut (bei gleichzeitiger Zunahme derjenigen, die materiell im Alter aufgrund der ihnen zur Verfügung stehenden multiplen Einkommensquellen sehr gut abgesicherten Älteren) lässt sich im bestehenden System der Alterssicherung nicht mehr aufhalten – es sei denn, man wagt systemverändernde Umbauarbeiten.

Gleichzeitig zeigt die aktuelle Diskussion, dass wir die schleichende und auch medial immer weniger hinterfragte Reduktion von Altersarmut auf den Bezug der Sozialhilfeleistung Grundsicherung im Alter nicht hinnehmen sollten. Ganz offensichtlich geht es dabei darum, die Zahlen möglichst klein zu halten. Aber da sich die Diskussion um Altersarmut gerade nicht um die Höhe einer einzelnen Rente drehen sollte, sondern um das Haushaltseinkommen insgesamt, dann muss man den Maßstab heranziehen, der in der internationalen Armutsforschung und übrigens auch auf der Ebene der internationalen Statistik als der relevante Maßstab ausgewiesen wird – und das ist die „Armutsgefährdungsquote“. Und deren Ampelsignal leuchtet bereits heute zwischen gelb und rot und wird möglicherweise bald tiefrot werden. Und das ist leider keine Dramatisierung.

 

Zum Autor:

Stefan Sell ist Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz. Außerdem betreibt Sell den Blog Aktuelle Sozialpolitik, wo dieser Beitrag zuerst in einer früheren Form erschienen ist. Auf Twitter: @stefansell