In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Die Wirtschaftswissenschaften müssen mutiger werden
piqer:
Antje Schrupp
Die Analyse ökonomischer Prozesse stand im 19. Jahrhundert im Zentrum der politischen Philosophie: Bei Marx, Mill und Co. waren Ökonomie und Politik eng verbunden, es ging in einem umfassenden Sinn darum, Gesellschaft zu gestalten und zu verändern, ruhig auch in einem revolutionären Sinne.
Heute sind die Wirtschaftswissenschaften die angepasstesten und unoriginellsten Wissenschaften generell – so argumentiert jedenfalls dieser Text. Seit der ideologischen Einschwörung der westlichen Welt auf das neoliberale Mantra „Da kann man eh nichts ändern, Wirtschaft ist eben so“ unter Reagan und Thatcher beschränken sich Ökonomen (etwas überspitzt gesagt) darauf, die bestehenden Ungerechtigkeiten zu erklären und zu rechtfertigen. Selbst Theoretiker wie Thomas Piketty, die die zunehmende materielle Ungleichheit kritisieren, schlagen nicht mehr vor, als moderate Steuerreformen.
Wie kommt das und wie ließe sich das ändern? Auf diese Fragen gibt der Artikel zwar keine Antworten, regt aber mit seinem Rant immerhin dazu an, sie zu stellen.
Kurzer Überblick über das Elend der Deutschen Bank
piqer:
Georg Wallwitz
Beim Thema Deutsche Bank verliert man leicht den Überblick. Umso schöner, dass man sich bei Bloomberg die Mühe gemacht hat, das Drama sehr kurz zusammenzufassen.
Es ist wichtig, bei diesem Thema am Ball zu bleiben, denn der beklagenswerte Zustand des europäischen Bankensektors ist einer der Hauptgründe, warum es der Eurozone seit der Finanzkrise so viel schlechter ergangen ist als den Amerikanern.
Die Amerikaner haben ihre Banken sofort rekapitalisiert, weil sie wissen, dass diese für die wirtschaftliche Infrastruktur des Landes unverzichtbar sind. Und das bedeutet, dass sie auch in der Lage sein müssen, Risiken zu nehmen und hohe Gehälter zu zahlen.
In Europa hingegen hat man am Welpenschutz für kleine, unprofitable oder überschuldete Institute festgehalten. Der Grund dafür: Nationale Eitelkeiten (in Deutschland lautet das Stichwort: Sparkassen, Landesbanken etc.). Das führt zu extrem dünnen Margen im Heimatmarkt und ist neben der Überregulierung („MiFID II“ umfasst 30.000 Seiten) heute der Hauptgrund für die schlechten Perspektiven des Bankensektors.
Ohne einen gesunden (d.h. auch: profitablen) Bankensektor kann die Wirtschaft aber nicht gut funktionieren. Das Schicksal der Deutschen Bank ist daher ein Menetekel für die wirtschaftliche Entwicklung Europas.
Lassen sich Target-Salden durch Einführung des amerikanischen Modells „Fedwire“ auflösen?
piqer:
Jens Südekum
Die Diskussion um die Target-Salden ist in Deutschland ein hoch emotionales Thema. Zwar tun sich selbst Spezialisten oft schwer damit zu erklären, worum es bei diesen Bilanzpositionen im Zahlungsverkehr der Eurozone überhaupt geht. Trotzdem steht Target 2 geradezu symbolhaft für die Angst deutscher Steuerzahler, sie müssten am Ende für den übermäßigen Konsum fauler Südeuropäer geradestehen.
Es wird deshalb immer wieder gefordert, das europäische Target 2 durch das amerikanische System „Fedwire“ zu ersetzen, das im Rahmen des Federal Reserve Systems zum Einsatz kommt. Hier werden die Salden der regionalen Zentralbanken regelmäßig untereinander ausgeglichen und die Ansammlung großer Berge an Forderungen (wie im Falle Deutschlands) oder Verbindlichkeiten (wie im Falle Italiens) somit verhindert.
Doch was würde es überhaupt im Detail bedeuten, wenn dieser Vorschlag umgesetzt würde, so wie es Hans-Werner Sinn oder die 154 Wirtschaftsprofessoren in ihrem Aufruf „Der Euro darf nicht in die Haftungsunion führen“ verlangen? Mit dieser Frage beschäftigt sich Gerald Braunberger in einem Beitrag für den FAZIT-Blog, der trotz der Komplexität des Themas sehr gut zugänglich und lesbar bleibt.
Seine überraschende Erkenntnis: Fedwire ist im Grunde dem Target-System viel ähnlicher, als viele deutsche Kritiker glauben. Denn auch wenn eine regelmäßige Tilgung der Salden stattfindet, ist dies nicht als ein Disziplinierungsinstrument gedacht. Anhand diverser historischer Beispiele beschreibt Braunberger, wie auch in den USA im Krisenfall Elemente einer Haftungsunion zwischen den regionalen Zentralbanken zum Einsatz kommen, um den unbeschränkten und reibungslosen Ablauf des Zahlungsverkehrs jederzeit sicherzustellen.
Würde das amerikanische System in der Eurozone tatsächlich eingeführt, dann wäre das Ergebnis dem heutigen Status quo also gar nicht so unähnlich. Viele der ohnehin zweifelhaften „Hoffnungen“ der deutschen Target-Kritiker würden sich als Illusion entpuppen.
Der Boom ist vorbei, das Euro-Dach ist immer noch leck
piqer:
Eric Bonse
„Man muss das Dach reparieren, solange die Sonne scheint.“ Mit diesem Spruch begründete EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker im Herbst 2017 seine Forderung, bis zum Juni 2018 umfassende Reformen an der Euro-Währungsunion vorzubereiten. Jetzt ist der Juni da – und am Horizont ziehen dunkle Wolken auf. Doch das Euro-Dach ist immer noch nicht gedeckt.
Klar, nach langem Zögern hat sich Kanzlerin Angela Merkel auf einige Reformideen des französischen Staatschefs Emmanuel Macron eingelassen. Doch der Kompromiss von Meseberg reicht nicht aus, um die Eurozone fit für die nächste Krise zu machen, argumentiert der Autor des hier empfohlenen Beitrags, der der deutsch-französischen eine spanische Perspektive hinzufügt.
Merkel, Macron und die anderen Euro-Chefs täuschten sich, wenn sie glauben, der Euro brauche „nur“ ein eigenes Budget und einen eigenen Währungsfonds. Viel wichtiger sei es, das fragmentierte Bank- und Finanzsystem in Euroland zu reformieren – ein Seitenhieb auf deutsche Sparkassen und andere Mini-Institute. Außerdem brauche die EU effizientere Entscheidungsstrukturen.
In der Tat ist es wenig überzeugend, wenn der Bundestag über jeden Hilfskredit für ein Krisenland befinden muss, wie Merkel dies gefordert hat. Richtig ist auch, dass die Banken immer noch ein Problem darstellen – man denke nur an die Deutsche Bank. Das Hauptproblem ist aber das Schneckentempo, mit dem Merkel und Macron bei der Reform vorankommen.
Denn die Vorzeichen für die nächste Krise lassen sich nicht übersehen. Gerade hat das Ifo-Institut den deutschen Wirtschaftsboom für beendet erklärt. Auch aus den USA (Handelskrieg) und UK (Brexit) kommen negative Signale. Noch ist es keine ausgewachsene Krise und kein „asymmetrischer Schock“ – doch wenn es zu regnen beginnt, ist das Euro-Dach immer noch leck …
EU-Regeln: Verfehlte Klimapolitik wird Deutschland wohl bis zu 30 Mrd. Euro jährlich kosten
piqer:
Ralph Diermann
Die Recherche des Tagesspiegels ist schon eine Woche alt, hat aber seltsamerweise in der öffentlichen Debatte nicht den Widerhall gefunden, den sie angesichts ihrer Brisanz eigentlich bekommen müsste – daher jetzt dieser verspätete piq.
Jakob Schlandt und Nora Marie Zaremba berichten, dass die wenig ambitionierte Klimapolitik Deutschlands in den Bereichen Verkehr, Wärmeversorgung und Landwirtschaft die Steuerzahler ab 2020 wohl jährlich bis zu dreißig Milliarden Euro kosten wird (oder womöglich noch mehr). Grund dafür ist ein EU-Regelwerk, das die Mitgliedsstaaten verpflichtet, Verschmutzungsrechte zu kaufen, wenn sie in diesen Sektoren mehr CO2 ausstoßen als vereinbart. Als Verkäufer treten diejenigen Staaten auf, die ihre Klimaschutzziele übererfüllt haben. Allerdings könnte sich Deutschland schlichtweg weigern, die Zahlungen vorzunehmen – was der europäischen Einheit nicht gerade förderlich wäre.
Die Recherche basiert auf bislang unveröffentlichten Berechnungen des Öko-Instituts. Sie sind mit einigen Unsicherheiten behaftet. Die Tendenz ist aber unstrittig: Das Versagen dieser und vormaliger Bundesregierungen kommt Deutschland teuer zu stehen.
Damit bekommen die Debatten um Investitionen in Klimaschutz eine neue Grundlage. „Klimapolitik wird Haushaltsrisiko“ – so bringen die Tagesspiegel-Autoren die Lage auf den Punkt.
„Eigentum verpflichtet“ – ein Münchner Hausbesitzer verzichtet freiwillig auf 10 Millionen Euro
piqer:
Rico Grimm
„Man verzichtet auf viel Geld, aber was brauchen wir draußen am Westfriedhof ein paar Millionen – so ein Käse!“ Das ist einer von vielen Sätzen aus diesem Beitrag, der mir in Erinnerung bleiben wird. Darin taucht Wolfgang Fischer auf, der von seiner Tante ein Gebäude in Münchner Bestlage geerbt hat, geschätzter Wert derzeit: 12 Millionen Euro. Aber was hat er gemacht? Das Haus einer Genossenschaft verkauft. Für zwei Millionen. Denn er will nicht, dass sich etwas ändert in dem Garten, in dem ein Baum steht, den sein Uropa aus den Alpen mitgebracht hat und in der Hinterhofschreinerei, in der ein Handwerker tatsächlich noch zu bezahlbaren Mieten seiner Arbeit nachgehen kann. Und als wäre das nicht genug: Für jedes Kind, das seine Mieter bekommen, erlässt Wolfgang Fischer ihnen 50 Euro im Monat.
Feiert diesen Mann!
Die Kosten eines Handelskrieges
piqer:
Georg Wallwitz
So langsam dämmert es den Ökonomen, dass keiner der ihren im Weißen Haus sitzt, auch kein Vertreter der Interessen der Industrie oder des Handels, sondern nur eher einfach gestrickte Gegner des Freihandels.
Also können wir uns so langsam daran machen, die Kosten dieser Politik auszurechnen. Paul Krugman tut dies in einer Weise, die stellenweise etwas technisch ist, die aber eine gute Perspektive auf die ökonomischen Konsequenzen der Trump’schen Präsidentschaft vermittelt.
So viel sei verraten: Für die USA wird der Wohlstandsverlust nicht geringer als für den Rest der Welt (aber auch nicht größer). Und: Es ist kein Crash im Stil der Finanzkrise von 2008/09 zu erwarten.
Wer danach noch nicht genug von dem Thema hat, kann in der Financial Times nachlesen, was der wie immer brillante Gavyn Davies dazu zu sagen hat. Der Link findet sich hier.
Reich werden mit dem Brexit – wie Wahlumfragen Hedgefonds halfen, Geld zu machen
piqer:
Silke Jäger
Am Abend des Brexit-Referendums, kurz vor dem Schließen der Wahllokale um 22 Uhr, gibt Nigel Farage dem Nachrichtensender Sky durch, dass die Remain-Seite gewonnen habe. Schnell macht die Nachricht die Runde. Europa ist erleichtert. Farage beruft sich auf private Umfragen, denn die offiziellen Umfrageergebnisse dürfen erst nach dem Schließen der Lokale veröffentlicht werden. Die meisten Institute bestätigen aber später Farages Behauptung und bleiben damit bei ihrer Linie aus den Tagen vor dem Referendum. So gut wie alle hatten das Remain-Lager vorne gesehen.
Am nächsten Morgen wacht Europa mit der Nachricht auf, dass die Bürger Großbritanniens die EU verlassen wollen. Und das Vertrauen in Wahlumfragen bekommt einen schweren Knacks.
Nicht so auf den Finanzmärkten. Dort steigt das Vertrauen in Umfragen sogar noch. Denn in der Nacht auf den 24. Juni 2016 machen einige Hedgefonds immense Gewinne. Dank Farages früher Bekanntgabe steigt das Pfund kräftig an, bevor es nach Mitternacht abstürzt. Wetten auf einen Kursabsturz sind am Abend billig und spülen am Morgen das Geld in die Kassen. Zumindest in die der Fonds, die die richtigen Umfrageergebnisse kannten. Und das waren diejenigen, die zuvor einen entsprechenden Vertrag mit Umfrage-Instituten gemacht hatten. Namhafte wie YouGov gehörten dazu, und das Lieblingsinstitut von Farage, das zeitweise die eigene Telefonzentrale im UKIP-Büro untergebracht hatte.
Die Fonds kauften vor dem Referendum für bis zu 1 Million Dollar das Recht ein, Vorabwerte zu bekommen. Institutsmitarbeiter sitzen in den Büros der Hedgefonds und machen Live-Updates. Mit diesen „genaueren“ Ergebnissen haben die Fonds einen Marktvorteil. Und der ergibt sich beim Brexit daraus, dass die Fonds viel früher als die Öffentlichkeit wussten, dass das Leave-Lager gewonnen hatte.
Warum Farage die Pfund-Steigerung provozierte, wie genau er also davon profitierte, ist im Moment unklar. Aber die übrigen spannenden Details des Coups erzählt dieser grandiose Longread.
Drei Thesen zu Italiens Europolitik
piqer:
Rico Grimm
Kurzes Interview, aber sehr wertvoll. Der italienische Wirtschaftswissenschaftler Luigi Zingales ordnet ein, was in Italien passiert.
Drei Dinge stechen heraus:
1. Der Chef der rechtsextremen Lega-Nord, der immer beliebter werdende Matteo Salvini „ist ein typischer Politiker, den vor allem interessiert, wie er Wählerstimmen gewinnen kann.“
2. Das eigentliche italienische Problem: „Aufgrund persönlicher Beziehungen ist zu viel Kapital in wenig produktiven Unternehmen gebunden, während junge Unternehmen nur schwer Kapital finden.“
3. Zingales glaubt auch, dass Hans-Werner Sinn mit seinen Warnungen zu den Target-Salden erst das Szenario provoziert, dass er fürchtet:
Wenn Sinn de facto anregt, wegen der Salden den Zahlungsverkehr innerhalb der Eurozone zu beschränken, bringt er Salvini doch erst recht auf die Idee, über einen Euro-Austritt Italiens nachzudenken. Sinn provoziert genau das, wovor er sich fürchtet.
Doku: Wie China mit viel Geld den globalen Fußball-Zirkus dominieren will
piqer:
Fabian Peltsch
China hat sich für die nächsten Jahre einiges vorgenommen: Bis 2025 will das Land zur führenden Technologie-Supermacht aufsteigen und mit der „Neuen Seidenstraße“ eines der größten Infrastrukturprojekte der Geschichte ins Rollen bringen. 2030 will Staatspräsident Xi Jinping außerdem die Fußball-WM nach China holen und alles tun, damit die chinesische Nationalmannschaft bis spätestens 2050 den Titel holt. Denn Fußballerfolg bedeutet Soft Power. Ein Titelgewinn scheint momentan jedoch noch ambitionierter als die für 2020 angepeilte erste chinesische Marsmission. Bislang schaffte es Chinas Nationalmannschaft nur ein einziges Mal zu einer WM. Und damals, 2002, flogen sie nach 0 Punkten, 3 Niederlagen und 0:9 Toren schon in der Vorrunde wieder raus.
China mag es noch an sportlicher Technik fehlen, Geld hat das Land jedoch genug, um seine sportlichen Ziele mit aller Konsequenz durchzudrücken. Das merkt man derzeit auch daran, wie chinesische Marken die Bandenwerbung der WM dominieren. Eine neue ARD-Doku zeigt, wie sich die Goldgräberstimmung in der Wirtschaft auch auf die Fußballwelt auswirkt. Stars und Trainer werden mit Rekordgehältern ins Reich der Mitte gelockt, doch es gibt auch nachhaltigere Partnerschaften mit europäischen Vereinen, etwa um Personal und Erfahrungen auszutauschen. Insbesondere in der Jugendarbeit spielt der DFB dabei eine Schlüsselrolle, wobei schon mal chinesische Übersetzerinnen auf dem Platz simultan das Gebrüll deutscher Trainer übersetzen müssen.
Für die deutsche Regierung ist der Fußball ein scheinbar unverfänglicher Weg, um noch enger mit der kontroversen Wirtschaftsmacht zusammenzurücken. Dass es dabei ganz ohne Politik nicht geht, deckt die ausgewogene Doku ebenso auf wie die Tatsache, dass der globale Fußball-Zirkus längst von chinesischen Mega-Konzernen wie Wanda abhängig ist. Fazit des 44-minütigen Films: Wer in China kein Geld verdient, wird in der internationalen Fußballwelt in Zukunft kaum noch eine Rolle spielen.