Fremde Federn

Europa auf der Couch, Dauerbrenner Kohle, Gleichgewicht der Ohnmacht

Diese Woche unter anderem in den Fremden Federn: Wie Italien zum Verlierer wurde, weshalb die Tage der Kohle noch lange nicht gezählt sind und warum die Linken die soziale Frage vergessen haben.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Welche Rolle spielen Bildung und Geographie für die Verteilung von Arm und Reich?

piqer:
Lars-Hendrik Setz

Warum sind manche Länder und Regionen reich, andere aber arm? Es gibt viele Möglichkeiten, diese Frage zu beantworten. Ein Argument lautet zum Beispiel, dass bestimmte politische Systeme das Wirtschaftswachstum fördern. Oder dass manche Gesellschaften aufgrund ihrer Kultur innovativer seien als andere. Die Tübinger Wirtschaftshistoriker Jörg Baten und Ralph Hippe betonen in einem aktuellen Fachartikel im Journal for Economic Growth  einen anderen Aspekt ganz besonders: Bildung.

Ihre These: In Europa sind vor allem die Regionen heute besonders wohlhabend, wo das Bildungsniveau vor rund 100 Jahren schon relativ hoch war. Das wiederum hängt laut den Wissenschaftlern ganz entscheidend mit einem vielleicht etwas überraschenden Faktor zusammen: der Geographie. Den Zusammenhang macht Baten am Beispiel Italiens deutlich:

Die Geografie und das Klima bestimmen welche Produkte besonders gut produziert werden können. Im Süden von Italien ist das vor allem Weizen, der auf sehr großen Betrieben sehr effizient produziert werden kann. Im Norden ist es eine Mischung aus Viehwirtschaft und anderen kleineren Flächen, die für Agrarnutzung gebraucht werden können. Und diese kleinen und mittelgroßen Höfe haben in der Regel die Folge, dass die Bauern sehr daran interessiert sind, dass ihre Kinder ausreichende Bildung erhalten.

Mein Kollege Jan Phillip Wilhelm hat sich in seinem ersten Forschungsquartett mit der Untersuchung von Jörg Baten und Ralph Hippe beschäftigt. Sein Fazit: Wer die ungleiche Verteilung von Reichtum beeinflussen und schwächere Regionen stärken will, der sollte zum Verständnis womöglich einmal einen Blick in die Studie von Baten und Hippe werfen.

Das Forschungsquartett zum Nachhören und Abbonieren gibt es bei Apple Podcasts, Deezer, Google Podcasts, Spotify und auf detektor.fm.

Diese wissenschaftlichen Studien erklären, warum eine Reform von Hartz IV sinnvoll wäre

piqer:
Christian Huberts

Trotz aller Kritik, scheinen der gesunde Arbeitsmarkt und die niedrige Arbeitslosenquote den Befürwortern von Hartz IV langfristig recht zu geben. Tom Krebs, Professor für Makroökonomie und Wirtschaftspolitik an der Universität Mannheim, kommt dennoch zu einer anderen Einschätzung und analysiert dafür auf Makronom den aktuellen Forschungsstand:

Ein genauer Blick auf die wenigen wissenschaftlichen Studien zum Thema zeigt, dass [Befürworter und Kritiker] wichtige ökonomische Wirkungskanäle ansprechen. Doch der eindeutige Punktsieg geht an die Kritiker der Hartz-IV-Reform. Genauer gesagt: Einerseits war die Hartz-IV-Reform einer von mehreren Faktoren, die zu einem Rückgang der strukturellen Arbeitslosigkeit in Deutschland geführt haben. Andererseits hat die Hartz-IV-Reform die Löhne gedrückt, die atypische Beschäftigung gefördert und die Unsicherheit auf dem deutschen Arbeitsmarkt erhöht.

Besonders die Zusammenführung der Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe und die damit einhergehende Senkung der staatlichen Transferleistungen für Langzeitarbeitslose, sollen für diese Effekte verantwortlich sein. Das geringere Arbeitslosengeld 2 motiviert Arbeitslose dazu, schneller und anspruchsloser einen Job anzunehmen. Das wiederum ermöglicht den Unternehmen niedrigere Löhne, höhere Gewinne und im Idealfall die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Wie Krebs in einer erweiterten Analyse berechnet, wurde die strukturelle Arbeitslosigkeit auf diese Weise jedoch nur um etwa 0,5% verringert. Dem stehen die erheblichen Nebenwirkungen der Reform entgegen:

Fallende Stundenlöhne und gestiegene Unsicherheit führen zu einer Verschlechterung der Lebensqualität für breite Bevölkerungsschichten – es ergeben sich Wohlfahrtsverluste. Aus gesamtwirtschaftlicher und gesellschaftspolitischer Sicht hat die Hartz-IV-Reform also mehr geschadet als genutzt.

Tom Krebs Schlussfolgerung: Eine Reform der Reform ist auch aus ökonomischer Perspektive sinnvoll. „[W]ir brauchen mehr Zuckerbrot statt Peitsche.“

Warum die Tage der Kohle weltweit längst noch nicht gezählt sind

piqer:
Ralph Diermann

Zum Beispiel Vietnam: Das Land will in den nächsten zwei Jahren Windräder und Solaranlagen mit einer Leistung von je 800 Megawatt – zusammen so viel wie drei mittelgroße Kohlekraftwerksblöcke – installieren. Klingt gut. Doch zugleich sind dort derzeit fast 11.000 Megawatt Kohlekraftwerke in Bau und weitere 8.700 Megawatt bereits genehmigt.

Die Kohle hat ihren Zenit überschritten? Mitnichten, wie die Financial Times in einem Report über die globale Kohlenutzung berichtet. Vor allem Schwellenländer mit stark wachsendem Energiebedarf setzen nach wie vor mit aller Kraft auf den fossilen Brennstoff. Zwar sind die Preise für Photovoltaik und Windkraft mittlerweile so niedrig, dass die Anlagen konkurrenzfähig sind zu Kohlekraftwerken. Doch ein Schwenk zu den Erneuerbaren würde einen Systemwechsel bedeuten – den scheuen viele Nationen. Sie setzen lieber auf die bewährte Kohlekraft. Die Sorge um das Klima ist da zweitrangig. Wenn sie eine Sorge um die Umwelt umtreibt, dann die um lokale Luftverschmutzung.

Daher wird der Stellenwert der Kohle in der globalen Stromerzeugung auch auf lange Sicht kaum schwinden, so die FT. Zwar gehen in Europa und in den USA mehr und mehr Anlagen vom Netz. Dieser Erfolg wird jedoch durch den Zubau in Indien und Südostasien konterkariert (wobei anzumerken ist, dass sich die FT auf Zahlen der Internationalen Energie-Agentur stützt, die das Wachstum der Erneuerbaren früher regelmäßig weit unterschätzt hat).

Bereits im letzten Jahr hat der globale Kohleverbrauch um 1 Prozent zugelegt, wie der gerade veröffentliche Report BP Statistical Review of World Energy zeigt. Das schlägt sich (zusammen mit einem deutlich höherem Ölkonsum) in der Emissionsbilanz nieder: Der globale CO2-Ausstoß ist um 1,6 Prozent gestiegen.

Europa auf der Couch

piqer:
Achim Engelberg

In der Tradition von Bruce Chatwin oder Geert Mak schrieb Mathias Greffrath über sechs Reisen quer durch die EU und legt eine Bestandsaufnahme in punktierter Linie vor.

Im siebten Teil gibt es nun ein Resümee in Form eines Gespräches mit der Redakteurin.

Meine Erkenntnis ist, dass die große euphorische Begeisterung für Europa als kulturellen und politischen Raum im Wesentlichen doch eine Angelegenheit von Intellektuellen ist, während auf Ebene der Politik und auf Ebene der Massenstimmungen im Grunde die Nation nach wie vor die bestimmende Größe ist. Dass also wir sehr viel weiter weg von der Einheit auch mental von der Einheit Europas weg sind, als das noch vor 30, 40 Jahren der Fall gewesen ist.

Auf die Reihe wurde ich aufmerksam durch Kollegen Dirk Liesemer, der das großartige Stück über Portugal vorstellte. Es ist auch eines der überraschendsten, denn hier wird auch eine linke, feministische Partei vorgestellt, die – so was gibt es – an der Macht ist. Leider allerdings in einem kleinen, wenig einflussreichen Land.

Mittlerweile liegen alle Stücke zum Lesen und Hören vor: Neben Portugal besuchte er Polen, Ungarn, Rumänien, Dänemark und Paris. Frustrierend waren seine Besuche in Osteuropa, obwohl er dort auch zu kräftigen Unterscheidungen kommt – meist im Gespräch mit führenden Intellektuellen:

Mir hat die große Soziologin Ágnes Heller in Budapest gesagt, in Warschau, das ist das Mittelalter. Die glauben daran. Die wollen eine katholisch-konservative Komponente für sich bewahren und im Grunde Europa noch mal rechristianisieren, so wie es der jetzige Ministerpräsident sagt, während in Ungarn, sagt sie, das sind die Räuber. Das heißt, die Aneignung von Staatseigentum in Ungarn ist eine durch und durch parteikorrupte. Da entsteht so eine Art von Feudalismus.

In allen Ländern traf er auf das Thema der Abwehr der Migration. Und nirgends fand er eine Lösung. Allerdings gibt es einige Fingerzeige in seinem Stück über Paris.

Warum Italien zum Verlierer wurde

piqer:
Eric Bonse

Es ist schon merkwürdig. Tagelang beherrscht Italien die Schlagzeilen – weil es (angeblich) den Euro gefährdet. Doch nun, da das Land eine neue Regierung hat und seine Häfen für Flüchtlinge dicht macht, hört man fast nichts mehr aus Rom. Das Interesse ist erloschen, wir haben unsere eigenen Probleme.

Dabei gäbe es noch viel zu sagen zum Thema „Italien und Euro“. Zum Beispiel, dass Italien (genau wie Deutschland) Nettozahler für das EU-Budget und auch kräftig am Euro-Rettungsschirm ESM beteiligt ist. Oder auch, dass es durchaus wettbewerbsfähige Unternehmen hat, vor allem im Norden des Landes.

Es ließe sich auch sagen, dass das Schuldenproblem bisher gar kein Problem war, denn dank des Euros sind die Zinsen stark gesunken, der Staatshaushalt wird vom Schuldendienst weniger belastet als noch zu Lira-Zeiten. Die 60-Prozent-Grenze im Maastricht-Vertrag spielt in der Praxis keine Rolle.

Und dann wäre zu fragen, wo denn dann das „wahre“ Problem liegt – und warum sich die Italiener zu den Verlierern zählen. Könnte es sein, dass es im europäischen Binnenmarkt nicht nur Gewinner, sondern tatsächlich auch Verlierer gibt? Und wenn ja, woran liegt das? Vielleicht auch an Deutschland?

Fragen wie diese wirft der Kulturkorrespondent der „Süddeutschen“ auf. Er gibt auch Antworten – und bürstet viele Gewissheiten und gegen den Strich. Lesen!

Europa unter Merkel IV: Gleichgewicht der Ohnmacht

piqer:
David Kretz

Wolfgang Streeck, ehemaliger Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln, erklärt hier… (fast) ganz Europa.

Die deutsche Politik, die im Fokus bleibt, die französische Politik, die italienische Politik, Osteuropa, Amerika, die Briten und wie sie alle, noch in zweiter und dritter Ebene, zusammen hängen. Die synthetische Dichte ist jenseits der Skala, Geschichte und Gegenwart subtil verflochten und die wechselseitigen Perspektiven überzeugend kontrastiert.

Sein ernüchterndes Fazit: ein Gleichgewicht der Ohnmacht.

„Not only Italy in relation to Germany and France, but also Germany and France in relation to each other, today draw external strength from internal weakness. … The result is a balance not of power but of impotence, prefiguring a deep political stagnation, with bad surprises looming everywhere and waiting to happen at any time.“

Streeck hat keine hoffnungsvolle Botschaft am Ende für uns parat und auch keine Vorschläge, wie man es besser machten könnte. Das lässt einen schalen Beigeschmack. Pessimismus gewinnt jede Debatte. Wer immer ein Eck zynischer sein kann als der Nächste, erscheint leicht weit- und scharfsinnig.

Ein öffentlicher Intellektueller mit Verantwortungsgefühl sollte dieser Versuchung nicht erliegen. Lähmende Hoffnungslosigkeit war noch nie Motor des Fortschritts. Als Analyse ist der äußerst dichte und lange Text allerdings exemplarisch.

Zukunftsvorstellungen eines „Geringverdieners“ aus Großbritannien

piqer:
Cornelia Daheim

Der Diskurs um die Zukunft der Arbeit wird bestimmt von Experten der einen oder anderen Art, und das sind meist gutverdienende, gutgebildete Menschen. Eine neue Blog-Serie von Nesta, der britischen Innovations-Stiftung, widmet sich nun den Zukunftsvorstellungen von Arbeitnehmern, die eher wenig verdienen („A series about the future of work, by people working on the front-line of technological change in a range of low paid jobs“). Die Empfehlung hier bezieht sich auf den ersten Beitrag der Serie, in dem ein Arbeiter unter dem Pseudonym Zack Nightingale seine Sichtweise schildert.

Selbst hat er als Analphabet die Schule abgebrochen, und stellt sich zum Beispiel vor, dass zukünftig Kinder zuhause und in der Schule von Robotern unterrichtet werden, die ganz individuelle Lern-Unterstützung geben können. Er schildert auch seine eigene aktuelle Arbeitserfahrung, in seiner Tätigkeit als eine Art Sortierer im Logistikzentrum einer Supermarktkette, wo er seine Arbeitsaufträge von einem Algorithmus via Headset erhält. Dazu gibt es einige interessante Beobachtungen: So haben sich seine Sprachgewohnheiten geändert, woraufhin er der Schnittstelle das Verständnis von Eingaben im Yorkshire-Dialekt beigebracht hat. Auch merkt er an, dass er solche Anweisungen wohl nur von einer Maschine (nicht von einem Menschen) zu akzeptieren bereit ist. Aber vor allem verbindet er viele Hoffnungen mit neuen Technologie, wie diese:

Imagine a future where kids from working class families get a better chance to succeed in life than their parents, because technology could make a good education available to everyone.

Das ist hochgradig spannend zu lesen und interessant für alle, die andere Perspektiven kennen lernen wollen. Auch auf die weiteren Beiträge der Serie kann man entsprechend neugierig sein.

Krise der Linken – Auf der Suche nach den kleinen Leuten

piqer:
Marcus Ertle

Ist dem linksliberalen Milieu der politisch korrekte Habitus eines Bio-Supermarkt-Kunden wichtiger, als das Schicksal der schlecht bezahlten Kassiererin? Dieser und anderen provokativen Fragen gehen Christiane Florin und der SPD-Vordenker Nils Heisterhagen nach.

Es geht dabei um nichts weniger als die Frage, ob sich die Linke von ihrer eigentlichen Kernzielgruppe, den kleinen Leuten, so sehr entfernt hat, dass diese sie gar nicht mehr wählen oder den Rechtspopulisten ihre Stimme geben.

Die Antworten darauf sind nicht bequem, denn sie treffen ins Mark des politischen Selbstverständnisses einer Schicht, die sich eigentlich sicher ist, auf der richtigen, der moralisch guten Seite zu stehen. Was aber, wenn man damit die Mehrheit der Menschen immer weniger erreicht? Wenn ein Großteil der Wähler die Begeisterung für die Willkommenskultur längst nicht mehr teilt und die Ehe für alle nicht euphorisch beklatscht?

Es sind keine einfachen Antworten, die Heisterhagen gibt und es ist auch nicht klar, ob die Entfremdung der Milieus auf absehbare Zeit geheilt werden kann. Wenn die Linke sich aber nicht in der eigenen Wohlfühlzone abseits politischer Mehrheiten einrichten will, sollte sie sich den Fragen stellen, die in diesem Interview erhoben werden.

Wer Lust auf noch mehr Analyse in die Richtung hat, dem sei die ausführliche Evaluierung der SPD-Wahlniederlage von 2017 empfohlen. Ein hochspannendes Dokument, nicht nur für SPD-Mitglieder.

Hier der Link.