Entwicklungspolitik

Der wahre Luxus, den sich Entwicklungsländer nicht leisten können

Ein Standard-Narrativ in der Entwicklungspolitik lautet, dass eine starke Arbeitsmarktregulierung die Entwicklung von spät-industrialisierten Volkswirtschaften bremst. Doch diese Geschichte ist genauso allgegenwärtig wie falsch. Eine Analyse von Servaas Storm und Jeronim Capaldo.

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Die ökonomischen Berater von Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) haben spät-industrialisierten Volkswirtschaften immer wieder die Standard-Empfehlung gegeben, von Arbeitsmarktregulierungen Abstand zu nehmen oder bestehende Regulierungen abzubauen. Wenn du ein Politiker in einem spät-industrialisierten Land bist, wurde dir sehr wahrscheinlich schon einmal gesagt, dass es die exzessive Regulierung von Arbeit ist, die die Entwicklung deiner Volkswirtschaft bremst – sie schwächt die Wettbewerbsfähigkeit deiner Exporte und verscheucht Kapital.

„Gesetze, die geschaffen wurden, um Arbeitern zu helfen, schaden ihnen oftmals“, schrieb die Weltbank 2008 in ihrem Doing Business Report. Und nur um jegliche Missverständnisse zum Erkenntnisprozess der Weltbank in den zehn Jahren seit der Krise zu vermeiden: Der Arbeitsentwurf für die 2019er Edition spricht sich ebenfalls für Mindestlohnkürzungen, die Erleichterung von Kündigungen und den Abbau von anderen Regulierungen aus, um Beschäftigung und ökonomische Entwicklung zu fördern.

Die Berater aus Washington, die selbst in den Genuss vieler Mitarbeitervergünstigungen kommen, mögen die besten Absichten für die Entwicklungsländer im Sinn haben. Doch der (weiterhin bestehende) Washington Consensus ist eindeutig: Wie eigentlich in allen Ländern werden auch in den Entwicklungsländern Mindestlöhne, Kündigungsschutz, Arbeitsschutz und gewerkschaftliche Tarifverhandlungen zu früh die Arbeitskosten erhöhen und so die Fähigkeit der Unternehmen schmälern, auf den internationalen Märkten zu konkurrieren. Die Exporte werden leiden, Profite und Investitionen sinken, und genau jene Jobs, die diese Gesetze schützen sollen, vernichtet werden.

In dieser Sichtweise werden Arbeitsrechte und -Schutz insbesondere unter geringqualifizierten Arbeitnehmern oder Arbeitsmarkt-Neulingen eher zusätzliche Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung verursachen, anstatt zu höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen zu führen. Richtig? Also, lieber Politiker, was du tun solltest, ist einfach: Baue den bereits existierenden Arbeitsschutz ab, widerstehe den Sirenen, die nach höheren Mindestlöhnen verlangen, und bremse die Regulierung. Wenn sich deine Volkswirtschaft dann einmal entwickelt hat, kannst du später immer noch ein paar dieser „europäischen“ Luxuriösitäten wieder einführen. Schließlich sind sie gut für den sozialen Frieden.

Eine stärkere Arbeitsmarktregulierung kann Entwicklungsprozesse unterstützen

Diese Geschichte ist genauso allgegenwärtig wie falsch. Sie basiert hauptsächlich auf Abstraktionen, während realistischere Argumentationen und eine Vielzahl von empirischen Studien ihr die Unterstützung verweigern. Und es gibt noch mehr: Wie wir in einem neuen INET Working Paper zeigen, gibt es viele Kanäle, durch die Arbeitsmarktregulierungen die Akkumulation von Kapital, das Wirtschaftswachstum, die Schaffung von Arbeitsplätzen und eine fairere Einkommensverteilung unterstützen.

Um zu sehen, warum Arbeitsmarktregulierungen das Wachstum nicht bremsen, obwohl sie durchaus zu höheren Arbeitskosten führen, können wir bei Anthony P. Thirwalls Analyse aus dem Jahr 1979 beginnen, laut der „kleine“ Entwicklungsländer Güter exportieren oder Kapital anziehen müssen, um alle wichtigen Importe kaufen zu können. Wenn man diese Analyse angemessen erweitert, dann zeigt sie uns, dass eine Erhöhung der Durchschnittslöhne (beispielsweise durch Mindestlohn-Anhebungen oder die Unterstützung von Lohnforderungen durch stärkeren Arbeitsschutz) drei Effekte hat: einen Verlust von Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten, ein beschleunigtes Produktivitätswachstum und ein Upgrading der Exportzusammensetzung. Alles in allem sind diese Effekte aber klein und statistische Berechnungen legen nahe, dass ihre Nettowachstumseffekte entweder vernachlässigbar oder positiv sind. Aber es ist dennoch nützlich, sie kurz durchzugehen.

Ein Verlust der (preislichen) Wettbewerbsfähigkeit beeinflusst sowohl Exporte als auch Importe, wobei der Netto-Effekt davon abhängt, wie empfindlich jede dieser Größen gegenüber Kostenanstiegen ist. Wenn die sogenannte Marshall-Lerner-Bedingung erfüllt wird, wird der Netto-Effekt der höheren Löhne und Lohnstückkosten den Außenbeitrag der Volkswirtschaft und so das Wachstum senken. In der Praxis muss dies allerdings keine ernsthafte Sorge sein: Einerseits wird dieser Effekt allem Anschein nach gering sein. Und andererseits deuten die empirischen Ergebnisse daraufhin, dass der Netto-Effekt eines Kostenanstiegs auf die Außenbilanz null sein wird. In diesem Fall verschwindet der erste der drei genannten Effekte – was ein vollkommen realistisches Ergebnis wäre.

Wenn Lohnerhöhungen die Lohnstückkosten in die Höhe treiben, wird ein Produktivitätsschub sie wieder senken

Der Effekt auf das Produktivitätswachstum tritt auf, weil höhere Arbeitskosten die Firmen dazu drängen, in Technologien zu investieren, die den Arbeitseinsatz verringern. Forschungen zeigen, dass höhere Arbeitskosten den Unternehmen effizientere Technologien abverlangen und jene aus dem Geschäft treiben, die dieser Herausforderung nicht gewachsen sind. Das hilft der Volkswirtschaft, an Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen. Wenn also Lohnerhöhungen die Lohnstückkosten in die Höhe treiben, wird ein Produktivitätsschub sie wieder senken. Nicht einmal Berater in Washington können bestreiten, dass ihre hohen Löhne gut für ihre Produktivität sind.

Und letztlich drängt ein höherer Durchschnittslohn Unternehmen nicht nur dazu, effizientere Technologien umzusetzen, sondern bringt auch produktivere Branchen hervor, die auf den Weltmärkten in den Genuss einer stabileren Nachfrage kommen, die einkommenselastischer und weniger preissensibel ist. Dies wiederum lockert die Einschränkungen durch die Zahlungsbilanz, was höheres Wachstum und einen schnelleren Jobaufbau erlaubt.

Diese Effekte zusammengenommen deuten darauf hin, dass eine Regulierung, die zu höheren Löhnen führt, in sich spät-industrialisierenden Volkswirtschaften weder das Wachstum behindert noch es begünstigt.

Die Geschichte ist hier noch nicht zu Ende. Wenn wir die Gefilde der Politikökonomie betreten, wo die Einkommensverteilung in ihren Wechselwirkungen mit der ökonomischen Effizienz und den politischen Prozessen betrachtet wird, finden wir drei weitere Kanäle, durch die eine stärkere Arbeitsmarktregulierung Entwicklungsprozesse unterstützt. Erstens: Eine stärkere Regulierung erhöht die Legitimität der industriellen Beziehungen – ein Effekt, der sowohl von Mainstream-Forschern als auch Politikern betont wird, und der positiven Einfluss auf Produktivität, Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Beschäftigung hat. Zweitens bietet die Regulierung Politikern und Sozialpartnern eine Möglichkeit, die profitorientierten Aktivitäten des Unternehmenssektors für Innovationen zu nutzen.

Und zum Schluss aber nicht letztens unterstützt eine stärkere Regulierung die heimische Nachfrage, weil sie den Anteil der Arbeitseinkommen, also die Kehrseite der realen Lohnstückkosten, erhöht. Weil eine dynamische Binnennachfrage der Haupttreiber für Arbeitsteilung, strukturellen Wandel und ein industrielles Upgrade ist, ist dieser Effekt auch entscheidend für den Prozess der „kumulativen Verursachung“ (um Gunnar Myrdals klassischen Ausdruck zu gebrauchen), der den Boden für eine nachhaltige Entwicklung bereitet.

Die Arbeitsmarktregulierung hat sicherlich wichtige soziale Funktionen, die über das Gebiet der Volkswirtschaftslehre hinaus gehen. Am allerwichtigsten: Sie unterstützt die Menschenrechte und grundlegenden sozialen Fortschritt. Aber auch in der ökonomischen Sphäre hat sie eine höhere Bedeutung als ihr vom Standard-Narrativ zugestanden wird, der sie als einen Luxus ansieht, den sich Entwicklungsländer nicht leisten können.

Die Optionen, die unsere Ergebnisse für Politiker in sich spät industrialisierenden Ländern ergeben, zeichnen also ein anderes Bild als der Standard-Ratschlag: Arbeitsmarktregulierung ist ein mächtiges Entwicklungswerkzeug, das gleichzeitig mit Industriepolitik und einer Regulierung der Kapitalbilanz eingesetzt werden kann (letzteres ist nötig, um Kapitalflucht oder Kapitalflucht-Drohungen zu vermeiden, die die Arbeitsmarktregulierung neutralisieren). Tatsächlich ist der Verzicht auf eine starke Arbeitsmarktregulierung der wahre Luxus, den sich Entwicklungsländer nicht leisten können.

 

Zu den Autoren:

Servaas Storm ist Senior Lecturer für Volkswirtschaftslehre an der Delft University of Technology.

Jeronim Capaldo ist Research Fellow beim „Globalization and Sustainable Development Program“ an der Tufts University.

 

Hinweis:

Dieser Beitrag ist zuerst in englischer Sprache auf der Homepage des Institute for New Economic Thinking (INET) erschienen und wurde von der Makronom-Redaktion mit Zustimmung des Autors und INET ins Deutsche übersetzt.