In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.
Schulfach „Wirtschaft & Gesellschaft“
piqer:
Ali Aslan Gümüsay
Die deutsche Bevölkerung hat mangelnde ökonomische Kompetenzen. Dieses Ergebnis einer kürzlich erschienenen Studie nimmt Professor Thomas Beschorner zum Anlass, um ein Schulfach Wirtschaft zu fordern. Sein Plädoyer: wir brauchen ein umfassendes Verständnis, das die Theorien der sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen der Ökonomie mit einschließt und ebenso eine Empirie, welche die Vielfalt der Akteure inklusive ArbeitnehmerInnen und KonsumentInnen einbezieht und deren Beschreibungen als Zuschreibungen kritisch hinterfragt. Als Beispiel nennt er das Verständnis des Arbeitnehmer, als jemand der Arbeit nimmt (statt z.B. Arbeitskraft gibt).
Ökonomische Allgemeinbildung ist daher im Kern multi- und interdisziplinär zu gestalten und muss zwingend sozial- und kulturwissenschaftliche, historische, ja selbst philosophische Perspektiven beinhalten. Ein Nachdenken über Wirtschaft sollte man nicht nur den Ökonomen und (wenigen) Ökonominnen überlassen.
Einen ähnlichen Bedarf an Bürgerbildung sieht Professor Bernhard Pörksen im Bereich des Digitalem. Hier ist das Plädoyer für ein Schulfach, das man als „Digitales: Medien & IT“ betiteln könnte und welches an „der Schnittstelle von philosophischer Ethik, Sozialpsychologie, Medienwissenschaft und Informatik” und Themen wie „Big Data, Quantified Self, algorithmische Informationsauswahl und Microtargeting” anzusiedeln ist.
Beide Beiträge werfen damit genereller die Frage auf, wie Schule auf neue Herausfordernden und Begebenheiten agil reagieren kann und sollte. Sicherlich wäre eine Option, Arten von temporären Schulfächern und fluider Lehrpläne einzuführen: also ein in sich selbst dynamischer Lehrkanon. Das passt auch zum Verständnis von uns als Knowmaden.
Die Automation begann in der Steinzeit
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Ole Wintermann
Der Autor des Textes, Antone Martinho-Truswell, nähert sich der Automatisierung und Robotisierung unserer Wirtschaft und unseres Alltags von einer gänzlich unerwarteten anthropologischen Seite. Er sieht die Bemühung des Menschen, Tätigkeiten quasi aus dem eigenen Körper und dem Denken “out zu sourcen” als konsequente Weiterentwicklung eines Bemühens, das bereits beim Bau von Jagd-Bögen in der Steinzeit erkennbar geworden ist. Dieses Bemühen zur Automation unterscheidet uns von den anderen Lebewesen auf der Erde:
„This is not because our brain itself is uniquely superior – its evolutionary and functional similarity to other intelligent species is striking – but because our unique trait is to supplement our bodies and brains with layer upon layer of external assistance.“
Er beschreibt in seinem Beitrag das von verschiedenen Wissenschaftsbereichen der letzten Jahrhunderte (seit der Aufklärung) vorangetriebene Bemühen, Unterscheidungsmerkmale zwischen dem Menschen und den anderen Lebewesen der Erde zu finden. In der Folge dieses Bestrebens wurden das Bewusstsein, die religiös motivierte Unterscheidung zwischen Mensch und Tier oder auch die Sprache als Indikatoren für eben diese Einteilung in verschiedene Klassen von Lebewesen bemüht. All diese Merkmale sind aber, so der Autor, inzwischen als obsolet identifiziert worden.
Was bleibt, ist der Drang des Menschen, körperliche und zunehmend auch geistige Tätigkeit aus dem eigenen Körper auszulagern: “In our era of Teslas, Uber and artificial intelligence, I propose this: we are the beast that automates.” Das in Computern, Programmen und künstlichen Intelligenzen angesammelte Wissen ist aus dem menschlichen Gehirn ausgelagerter Speicher, das dort zwischengespeichert wird, bis es für eine Anwendung genutzt wird. Die Lochkarte war der Einstieg in diese Fähigkeit zur Auslagerung und beliebigen Vervielfältigung menschlichen Wissens. Vielleicht sehen wir die Automatisierung zukünftig mit anderen Augen?
Wie die GroKo die EU-Reform behindert
piqer:
Eric Bonse
Einen „Aufbruch für Europa“ hat die GroKo in Berlin versprochen. Doch bei wichtigen EU-Reformen steht sie auf der Bremse. Besonders deutlich wird dies in der Budgetpolitik. EU-Haushaltskommissar Oettinger will die beiden größten Posten – Agrarpolitik- und Kohäsionsfonds – kürzen, um neue Prioritäten wie Verteidigung oder Grenzschutz zu finanzieren.
Doch CDU, CSU und SPD fordern, auch große Agrarbetriebe in Ostdeutschland und wohlhabende Regionen im Westen weiter mit EU-Geld zu subventionieren. Eine „starke Kohäsionspolitik“ sei auch in den „stärker entwickelten Regionen“ unabdingbar, heißt es dazu im Koalitionsvertrag. Die „Welt“ kritisiert diese Festlegung ungewöhnlich scharf:
Mit diesen Positionierungen betreibt die große Koalition das genaue Gegenteil eines europäischen Aufbruchs. Deutschland wechselt stattdessen nun offenbar in das Lager der Besitzstandswahrer in der Agrar- und Kohäsionspolitik.
Man darf gespannt sein, wie dieser Streit ausgeht. Ein anderer Konflikt ist schon so gut wie entschieden: Ein neues separates Euro-Budget und einen EU-Finanzminister wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Diese Forderungen aus Paris hat Berlin bereits erfolgreich abgeblockt. Eine entscheidende Rolle spielte übrigens auch dabei CDU-Mann Oettinger.
Europas sinkende Löhne und die problematische Rolle Deutschlands dabei
piqer:
Antje Schrupp
Deutschland sieht sich gerne in der Rolle des Garanten für wirtschaftliche Stabilität in Europa. Dabei hat gerade Deutschland eine ziemlich problematische Rolle dabei gespielt, dass Europa zu einem Länderverbund wurde, in dem viele Menschen verarmen: Weil die einzelnen Mitgliedsstaaten darum konkurrieren, möglichst niedrige Löhne zu zahlen. Gewerkschaften sind in diesem Prozess schleichend entmachtet worden, und inzwischen greifen europäische Institutionen sogar schon direkt in die Tarifautonomie ein. In immer wieder neuen Variationen erschallt der europäische Ruf zu schlechterer Bezahlung, wird zu „Lohnzurückhaltung“ aufgerufen oder diese sogar als einzig verantwortliche Art der Politik ausgegeben.
Zu recht wird Angela Merkel für diese Marschrichtung ihrer Wirtschaftspolitik häufig kritisiert. Was man sich aber seltener bewusst macht ist, dass die Weichen dafür im Wesentlichen schon von der rot-grünen Regierung unter Schröder und Fischer gestellt worden sind. Dieser Artikel zeichnet diese Entwicklung nach und analysiert, warum das auf Dauer nicht gut gehen kann.
Algorithmen in Sozialsystemen: „[W]e’re okay doing unethical things to poor people.“
piqer:
Christian Huberts
Immer wenn es um die zukünftigen Gefahren von »Citizen Scoring« geht, weise ich gerne auf die ganz gegenwärtigen Probleme von ALG2-Empfängern hin. Hier werden bereits im großen Stil persönliche Daten gesammelt und etwa zur Berechnung von Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt verwendet. Die Sozialsysteme sind Vorreiter im »Scoring« ihrer Bürger und der damit einhergehenden Ausblendung oder Verzerrung menschlicher Komplexität.
Wie sich die Verhältnisse in Deutschland konkret darstellen, darüber gibt es leider wenig zu lesen. Für Jacobin sprach Sam Adler-Bell jedoch mit der Politikwissenschaftlerin Virginia Eubanks (Automating Inequality: How High-Tech Tools Profile, Police, and Punish the Poor), die sich seit Jahren mit der zunehmenden algorithmischen Automatisierung der US-amerikanischen Welfare Systeme beschäftigt hat.
[T]echnology became a way of smuggling politics into the system without having an actual political conversation.
Für Eubanks entziehen die automatisierten Entscheidungsprozesse den Armen noch mehr von ihrer knappen Selbstwirksamkeit. Gleichzeitig ersetzen sie den Versuch, Armut dauerhaft zu verringern, durch ein bloßes Management der Folgen. Eine Frage politischer Moral wird zur Frage der Effizienz.
We manage the poor so that we do not have to eradicate poverty.
Zudem leiden die Datengrundlagen der Werkzeuge unter erheblichen Schieflagen. So basiert ein Algorithmus, der die Wahrscheinlichkeit von Kindesmissbrauch vorhersagen soll, überproportional auf den Daten armer Familien. Dass dabei in vielen Fällen der »Missbrauch« in armutsbedingter Vernachlässigung besteht, etwa weil die Eltern in mehreren Jobs arbeiten müssen, verstärkt den Bias nur.
An die Designer dieser Systeme hat Eubanks daher zwei Fragen:
One is, does it increase self-determination of poor people? And two, if it was aimed at anyone but poor and working people, would you be able to do it? And if you answer “no” to either of those, don’t do it. You’re on the wrong side of history.
Imperialismus im 21. Jahrhundert
piqer:
Georg Wallwitz
Da die Europäer kaum strategisch wirken (ihre Strukturen und ihre Geschichte sind anscheinend zu kompliziert) und die Amerikaner mit ihrem neuen Präsidenten nicht mehr strategisch denken können, fällt es China recht leicht, immer weitere Teile der Welt in seine Abhängigkeit zu bringen. Dies geschieht relativ effizient über die sogenannte Chinesische Schuldenfalle.
Dabei werden Ländern mit wackligen Finanzen wie Sri Lanka, Pakistan oder auch lateinamerikanischen Nationen Kredite für Großprojekte vergeben, welche diese nie und nimmer zurückzahlen können, da sie vorhersagbar schlecht im Durchführen von Großprojekten sind. Die Gläubiger bieten dann Schuldenerleichterung an, im Gegenzug für die Übertragung eben dieser Infrastrukturprojekte, Minen, oder was auch immer für die Chinesen interessant ist.
China projiziert die Macht, die es durch seine wirtschaftliche Potenz erlangt hat, immer offensichtlicher. Das wird die ökonomischen Strukturen im 21. Jahrhundert ganz entscheidend prägen. Und es ist zu befürchten, dass die Europäer zu sehr mit sich selbst (d. h. ihren sozialen und nationalen Fragen) beschäftigt sind, um es zu bemerken.
Wie ein libertäres Paradies zeigte, dass libertäre Paradiese nicht funktionieren
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Rico Grimm
Henry Farrell von (der immer wieder inspirierenden Seite) Aeon beschäftigt sich auf eine sehr clevere Weise mit der anti-staatlichen libertären Philosophie, die Bitcoin am Anfang groß gemacht hat. Er beschreibt, wie aus dem Internet-Wildwest-Marktplatz „Silk Road“, der ohne jede Bürokratie und ohne klassische Währungen auskommen wollte, eine Organisation geworden ist, die in fast jeder Hinsicht selbst einem Staat immer ähnlicher wurde. Bis hin zum Einsatz physischer Gewalt, um die Bürokratie zu verteidigen.
Wie der Klimawandel zur Gentrifizierung beiträgt
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Ralph Diermann
Little Haiti und Little Havana, zwei Stadtteile von Miami, zählen nicht gerade zu den bevorzugten Wohnorten der Reichen und Schönen – zu weit entfernt sind sie vom Meer. Doch die Viertel haben einen Vorteil, der mit dem Klimawandel einen großen Wert bekommt: Sie liegen auf einem Hügel. Damit könnten sie zu begehrten Quartieren der Besserverdienenden werden, wenn deren Strandvillen eines Tages absaufen.
„Climate Gentrification“ nennen Wissenschaftler dieses Phänomen. CBS stellt eine Harvard-Studie vor, die untersucht, inwieweit der Klimawandel Einfluss auf die US-Immobilienpreise hat und zur Verdrängung sozial schwächerer Mieter führt. Das Ergebnis: Der Klimawandel werde in den nächsten Jahren mehr und mehr Spuren auf dem Immobilienmarkt hinterlassen, bis ein „Tipping Point“ erreicht sei, an dem gefährdete Gebäude innerhalb kurzer Zeit massiv an Wert verlieren. Das habe große Folgen für die Sozialstruktur – in gefährdeten wie in nicht gefährdeten Gebieten. Diese Entwicklung gelte nicht nur für Immobilien in Küstennähe, sondern auch für solche, die vermehrt von Waldbränden bedroht seien. Allein in den USA werde der Klimawandel bis 2100 insgesamt 13 Millionen Menschen zwingen, ihre Heimat zu verlassen.
Drei Formen der „Klima-Gentrifizierung“ machen die Studienautoren aus:
- Immobilien in wenig gefährdeten Vierteln oder Gegenden gewinnen stark an Wert, weil sie für Bewohner von Risiko-Regionen attraktiv werden. So werden die dort ursprünglich ansässigen Haushalte verdrängt.
- Wegen steigender Versicherungsbeiträge und anderer Kosten wird das Leben in Risiko-Gebieten so teuer, dass sich das nur noch Reiche leisten können. Bislang noch sozial gemischte Viertel werden zu Enklaven der Besserverdienenden.
- Staatliche Investitionen in den Schutz gegen die Auswirkungen des Klimawandels lässt die Immobilienpreise in den betroffenen Regionen steigen. Das zwingt sozial schwächere Bewohner zum Wegzug.
Der Aufstieg des Populismus oder: Wie die liberale Demokratie sich selbst zerstört
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Keno Verseck
In der Debatte um den Aufstieg des Populismus und in der berechtigten Sorge um den Erfolg von Politikern wie Trump oder Orbán geht die Frage nach den Ursachen meines Erachtens bisher noch zu oft unter. Ich persönlich denke, dass beispielsweise Viktor Orbán viele richtige Fragen stellt und reale Probleme thematisiert, aber die falschen Antworten gibt (weil es ihm um seine Macht geht, und nicht darum, die Probleme, die er anspricht, zu lösen). Was, wenn die so genannte liberale Demokratie gar nicht mehr liberal und demokratisch ist und dadurch den Aufstieg des Populismus erst ermöglicht?
Darüber spricht in einem Interview der Süddeutschen Zeitung der Politikwissenschaftler und Philosoph Yascha Mounk, einer der zur Zeit führenden Experten zur Krise der liberalen Demokratie. Er erklärt, wie in demokratischen Staaten immer mehr weitreichende Entscheidungen getroffen werden, die nicht mehr demokratisch legitimiert sind, und wie dadurch das Vertrauen der Bürger in das demokratische System untergraben wird – weshalb viele dann populistische, extremistische Kräfte wählen, obwohl sie selbst keine Extremisten sind, sondern einen legitimen Wandel wollen. Wie der aussehen könnte und was das „Establishment“ tun müsste, um den Zerfall der liberalen Demokratie aufzuhalten, dazu hat Mounk einiges an Rezepten anzubieten. Sehr lesens- und bedenkenswert.
Fast unbemerkt hat Großbritannien den Anteil des Kohlestroms drastisch reduziert
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Daniela Becker
Beim Thema Klimaschutz wird Deutschland inzwischen von Ländern überrundet, die lange als hoffnungslose Nachzügler galten. Zum Beispiel Großbritannien, dem Mutterland der Industrialisierung.
Ende 2017 war der Anteil von Kohlestrom am britischen Strommix gar auf ein historisches Tief von sieben Prozent gefallen, während Kohle zum deutschen Strommix immer noch gut 40 Prozent beiträgt. Damit hat Großbritannien binnen fünf Jahren die CO₂-Emissionen aus seiner Stromerzeugung halbiert – eine Verringerung, von der Deutschland nur träumen kann.
Die Briten haben das gemacht, was Klimaschützer seit Langem fordern: Einen saftigen Preis auf CO2 festgelegt. Dabei haben sie sich nicht auf den zahnlosen Tiger des EU-weiten Zertifikatehandels verlassen, sondern ein eigenes Gesetz erlassen.
Am 1. April 2013 trat das System namens „carbon price floor“ in Kraft. Es verteuerte den Kohlestrom drastisch und macht ihn damit unattraktiv. Seither sinkt sein Anteil an der gesamten Stromerzeugung in rasanten Schritten, gleichermaßen steigt der Anteil der Erneuerbaren.
Bis 2025 will das Land den Kohleausstieg abgeschlossen haben.