Fremde Federn

EU-Haushalt, Brexit interaktiv, Sharing Economy

Diese Woche in den Fremden Federn: Frauendiskriminierung in der Volkswirtschaftslehre, die unklaren Fronten in der Grundeinkommen-Debatte und was man von Marx über die Digitalisierung lernen kann.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Benachteiligung in Zahlen: Ökonominnen bringen Geschlechterfragen auf die Tagesordnung

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Antje Schrupp

Jedes Jahr im Januar treffen sich Wirtschaftswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen der „American Economic Association“ in den USA zu einem Mega-Kongress, um aktuelle Entwicklungen und Forschungen ihres Fachgebietes zu diskutieren.

Im Zuge der aktuellen Debatten über Feminismus und Frauendiskriminierung, die derzeit in den USA in allen gesellschaftlichen Bereichen hohe Wogen schlagen, haben auch hier Frauen auf die ungelösten Probleme in diesem Bereich hingewiesen. Viele Ökonominnen stellten Studien vor, die belegen, wie Frauen im Bereich der Wirtschaftswissenschaften benachteiligt, marginalisiert, nicht wahrgenommen werden.

Dabei spielten auch die Forschungen von Alice Wu über die Frauenfeindlichkeit in wirtschaftswissenschaftlichen Online-Foren eine Rolle, die ich hier schon einmal gepiqt hatte. Weitere Studien beschäftigten sich mit den männerdominierten Sichtweisen in Lehrbüchern und ökonomischen Narrativen, den unterschiedlichen Erwartungshaltungen gegenüber Frauen und Männern auf Ökonomie-Lehrstühlen und vielem mehr.

Dieser Artikel in der New York Times gibt einen Überblick über die einzelnen Forscherinnen, Beiträge und Aspekte des Themas.

Was Marx zur Digitalisierung zu sagen hat

piqer:
Jannis Brühl

Es gibt zig Marx-Texte im Jubiläumsjahr, aber der Transfer seiner Theorie auf die durchdigitalisierte Welt ist meist holprig. Weil es ist ja so: Die Nerds sind zu libertär, um Marx ernst zu nehmen, oder gleich Anarchisten. Und die klassischen Marx-Kenner wissen nicht, wie man einen Computer anschaltet. Hinzu kommt die Tendenz vieler Autoren, mit steiler These um die Ecke zu kommen, statt ein Thema kritisch zu durchdringen. Irgendwie muss man dann zwischen Jeremy Rifkin und Paul Mason selbst deuten, was denn Marx im Zeitalter der Automatisierung und Sharing Economy bedeutet. Einen klugen und kompakten Überblick hat nun der Soziologe und Autor Christopher Wimmer geschrieben. Er schreibt über das relevante Fragment von Marx:

Das Konkurrenzprinzip zwingt Unternehmer ständig dazu, besser zu sein als andere, zu investieren und fehlerhafte Menschen durch scheinbar fehlerlose Maschinen, Algorithmen zu ersetzen. In diesem Prozess nimmt der Anteil der konkreten lebendigen Arbeitskraft im Produktionsprozess immer weiter ab. Der Anteil der Maschinen steigt. […] Im „Maschinenfragment“ spielt Marx nun diese Entwicklung wie ein Mathematiker durch, der eine Kurve gegen null gehen lässt. Was passiert, wenn lebendige Arbeitskraft immer weiter abnimmt und der Anteil des Wissens und der Maschinen immer weiter zunimmt? Die Annäherung an den Nullpunkt wäre die komplett automatisierte Welt mit einem verbliebenen Superroboter, der nur noch einen Arbeiter braucht, der den An-und-Aus-Knopf bedient.

Dann behandelt er die Frage, inwieweit dies auf unsere Welt zutrifft: Ist Wissen die neue Arbeit? Bringt IT Freiheit oder Unterdrückung? Und was sagt Dietmar Dath dazu (Spoiler: „Zerschlagt die Apparate, aber schützt die Bauanleitungen.“)? Und Wimmer erteilt den Marx-Gläubigen, die das Maschinenfragment blind als Beweis seiner Hellsichtigkeit anpreisen, eine Absage. Denn auch im digitalen Zeitalter gilt: Marx lesen ist klug, ihn vergöttern doof.

Keine Morgendämmerung

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Eric Bonse

Was ist von der vorläufigen Einigung der GroKo zu halten? Auf den ersten Blick ist sie gut für Europa, Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron hat sie begrüßt. Aus französischer Sicht ist vor allem erfreulich, dass das 28-seitige Sondierungspapier keine offensichtlichen roten Linien enthält – so wie sie bei “Jamaika” zu befürchten waren.

Das Ergebnis der Sondierung sei für das “europäische Projekt” günstiger als der Jamaika-Entwurf, so Macron. Ähnlich äußerte sich Kommissionschef Jean-Claude Juncker. Beide hoffen, dass Kanzlerin Angela Merkel nun bald in Verhandlungen über die EU- und Euro-Reform einsteigt. Die Zeit drängt, schon im Juni sollen wichtige Entscheidungen fallen.

Doch die Hoffnung ist trügerisch, schreibt der Insiderdienst „EU Observer“. Die Einigung bedeute keine „Morgendämmerung“ für Europa, sondern bestenfalls ein Ende des deutschen Schweigens. Denn in Berlin sei das Misstrauen gegen Frankreich und die EU-Kommission weiter groß. Eine Reform werde es nur nach deutschen Regeln geben.

Außerdem ist die GroKo kein „done deal“. Die SPD ist gespalten, Merkel geschwächt. All dies erklärt der Beitrag für ein ungeduldiges Brüsseler Publikum. Die nüchterne Tonart unterscheidet sich angenehm von der Aufgeregtheit in Berlin. Sie verrät aber auch eine gewisse Ratlosigkeit angesichts der neuen deutschen Unberechenbarkeit.

Welcher Brexit ist im Angebot? – erklärt mit interaktiven Grafiken

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Silke Jäger

Diese Frage möchte sich die britische Regierung gar nicht erst stellen. Sie strebt weiterhin einen bespoke deal an, ein maßgeschneidertes Abkommen. Doch die Signale, die von der EU kommen, weisen in eine andere Richtung.

Die EU-Verhandlungsführer sind zwar interessiert daran, was sich Großbritannien genau vorstellt, betonen allerdings, dass die Rechtsrahmen der EU die Möglichkeiten einschränkt. Barnier machte den EU27-Staatschefs mithilfe dieser Grafik beim letzten EU-Gipfel deutlich: Die roten Linien der May-Regierung führen zu einem Abkommen, das dem mit Kanada oder Korea gleichen würde. Ein solches Freihandelsabkommen zu verhandeln, wird jedoch Jahre dauern. Zu lange, finden die Brexit-Hardliner in der Tory-Partei, die May zufriedenstellen muss, will sie Regierungschefin bleiben. Die reden immer noch von einem harten Schnitt, nach dem man endlich frei sei, eigene Gesetze zu machen und unter eigenen Bedingungen zu handeln.

Philip Hammond, der britische Finanzminister, gab der Welt am Sonntag ein Interview, das heute veröffentlicht wurde (hier in Englisch frei verfügbar). Er galt bisher eher als Soft-Brexiteer, versucht aber die Extrawürste, auf die GB Appetit hat, Deutschland schmackhaft zu machen – und garniert sie mit Kraftausdrücken, für den Fall, dass nette Worte allein nicht reichen sollten. Die Hoffnung dahinter ist, dass Deutschland den Hebel ansetzt und die von der EU geschnürten Päckchen aufbricht. Das zeigt: Die britische Regierung ist (noch) nicht bereit, die Realitäten der EU anzuerkennen.

Wie die aussehen, hat der Journalist Ray Douglas in zwei übersichtliche, interaktive Grafiken gepackt. Die eine zeigt, was der Brexit jeweils bedeutet – von softest bis hard. Die andere Grafik ist ein Flowchart, bei dem man sieht, welche Modelle es gibt, je nachdem, ob Reisefreiheit oder Zugang zum Binnenmarkt eingeschränkt werden. Ich finde diese Übersichten sehr praktisch. Wer Texte lieber mag, hier einer zum Thema in der Financial Times.

Weltbank-Chefökonom Romer sagt, er habe alles nicht so gemeint

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Alexandra Endres

Vor ein paar Tagen gab Paul Romer, der Chefökonom der Weltbank, dem Wall Street Journal (WSJ) ein viel beachtetes Interview (Paywall). Jetzt relativiert er seine Aussagen. Im WSJ-Text hieß es:

The World Bank repeatedly changed the methodology of one of its flagship economic reports over several years in ways it now says were unfair and misleading. (…)The revisions could be particularly relevant to Chile (…)

Denn Chile fiel im wichtigen Doing-Business-Ranking der Weltbank innerhalb kurzer Zeit um mehr als 20 Plätze.

According to a preliminary analysis by Mr. Romer (…), Chile’s drop was driven almost entirely by adding new metrics to the index, and not by changes to standing measures of Chile’s business environment. He added that changes to the methodologies used in the rankings had the appearance of being politically motivated.

“Based on the things we were measuring before, business conditions did not get worse in Chile under the Bachelet administration,” Mr. Romer said. “I didn’t do enough due diligence and later realized that I didn’t have confidence in the integrity” of the report’s data.

Am Montag veröffentlichte Romer in seinem Blog nun seine ersten Neuberechnungen. Aus den immer gleichen Variablen berechnet er rückwirkend über fünf Jahre hinweg das Ranking neu – eine mögliche Rechenweise von vielen, wie er bemerkt, weshalb sein Ergebnis auch vom Zufall beeinflusst sein könne. In dieser Rechnung sinkt Chile nur noch um fünf Plätze.

Am Dienstag entschuldigte sich Romer in seinem Blog dann überraschenderweise für seine „unklaren Bemerkungen“. Er habe keine Hinweise auf Manipulation im Index gefunden, die Reporter hätten ihn falsch verstanden. Die Änderungen der Methoden seien „sorgfältig bedacht“ worden. Was er vielmehr habe sagen wollen: Die Weltbank müsse ihre Arbeit besser erklären.

Für mich klingt das, als habe er intern ziemlichen Ärger bekommen. Jetzt bin ich gespannt, was seine weiteren Neuberechnungen ergeben. Falls es sie gibt.

Was die Sharing Economy bedeutet – für Bücher, Musik, Software, Unternehmen und Arbeit

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Cornelia Daheim

Die NZZ widmet sich der vielbeschworenen Sharing Economy in einem ausführlichen Artikel. Der Begriff ist ja umstritten, weil es faktisch weniger um das Teilen, und mehr um das Nutzen statt Besitzen geht. Das wird auch erläutert, und anhand der Unternehmenswerte zentraler Unternehmen der Branche wird ebenso die inzwischen unbestreitbar hohe Marktrelevanz deutlich (Netflix: 81 Milliarden USD; AirBnB: 31 Milliarden USD).

Spannend ist vor allem, dass in der Einleitung über die gesellschaftlichen Auswirkungen reflektiert wird. So hindere Besitz gerade niedrige Einkommensgruppen oft am Konsum (wie viel und welcher Konsum von wem eigentlich sinnvoll oder gesellschaftlich wünschenswert ist, wird hier leider nicht verhandelt). Ein Beispiel: Wenn man sich zum Beispiel kein Auto samt Betriebs- und Instandhaltungskosten leisten kann, erhalten diese Einkommensgruppen jetzt durch Carsharing-Angebote zumindest Zugang zu höherer (Auto-)Mobilität. Als eher negativer Effekt wird – bei zumindest theoretisch möglicher „effektiverer Ressourcen-Allokation“ die möglicherweise doch entstehende höhere Ressourcennutzung angeführt. Denn zum einen gibt es die tendenzielle „Übernutzung“ kollektiv genutzter Güter – weil zum Beispiel kaum einer ein Leihrad so gut behandelt wie ein eigenes, treten eher Schäden und damit höherer Materialverbrauch auf. Zweitens führen günstigere Kosten (im Schnitt) zu höherer Nachfrage und die wiederum zu mehr Ressourcenverbrauch.

Interessant ist zudem vieles in dem darauf folgenden Blick in vier Felder – Bücher, Musik, Software, sowie Unternehmen und Arbeit. Hier wird mit oft noch nicht so viel zitierten Beispielen aufgezeigt, wie sich die Sharing Economy gerade entwickelt. Der Text ist kostenlos verfügbar – allerdings erst nach (einer einfachen und schnellen) Anmeldung.

Zur Identitätskrise der Volkswirtschaft

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Georg Wallwitz

Bis zum 7. Februar ist die aktuelle Ausgabe der renommierten Oxford Review of Economic Policy noch frei lesbar. Darin gehen einige erstklassige Ökonomen mit der eigenen Wissenschaft ins Gericht: Warum hat sie weder die Finanzkrise von 2008/09 vorhergesehen, noch die elend schwache Erholung danach? Was muss sich an den Fundamenten der Wissenschaft ändern? Muss sie sich weniger an der Physik als an der Soziologie ein Vorbild nehmen? Welche Modelle haben sich als sinnvoll erwiesen, welche nicht?

Die Aufsätze sind insgesamt zu lang für den Laien zu lesen, aber einige lohnen sich auch für die interessierten Nicht-Profis (etwa die Texte von Stiglitz und Krugman). Die Einführung der Kuratoren des Projekts lohnt ebenfalls, sie gibt einen zusammenfassenden Überblick.

Das Projekt wartet bislang nicht mit einer neuen einfachen Lösung auf. Vielleicht gibt es auch gar keine einfachen Lösungen. Das Interessante ist hier der Prozess: Was hat sich bewährt, was nicht, und welche sind die neuen Muster, die sich daraus ergeben?

Braucht die EU wirklich mehr Geld?

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Eric Bonse

Die EU-Kommission bereitet einen neuen Finanzrahmen für die Zeit nach 2021 vor. Haushaltskommissar Günther Oettinger sieht eine Steigerung der Ausgaben um rund 10 Prozent vor, um neue Aufgaben zu finanzieren und den Brexit zu kompensieren. Doch braucht die EU wirklich mehr Geld?

Ja, sagen die Anhänger von „mehr Europa“. So fordert Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron ein eigenes Euro-Budget, das sogar noch größer als das EU-Budget ausfallen könnte. Doch das lehnt Oettinger rundheraus ab. Obwohl er für die Eurozone kaum Geld ausgeben möchte, weitet er den EU-Etat aus.

Dies sei völlig unnötig, argumentiert nun Pieter Cleppe vom liberalen Thinktank Open Europe. Denn die größten Budgetposten – Agrarpolitik und Kohäsion – seien anachronistisch. So kassiert sogar die Queen Agrarsubventionen. Und selbst reiche deutsche Regionen werden aus dem Kohäsionsfonds beglückt.

Zwar hat Oettinger auch bei den Kohäsionsfonds spürbare Kürzungen vorgesehen. Aber sie fallen mit 5-10 Prozent gerade so hoch aus, dass auch deutsche Regionen weiter vom Geldsegen aus Brüssel profitieren werden. Aus Sicht von Cleppe und anderen Kritikern ist dies kompletter Nonsense:

Wealthier members currently transfer money to Brussels, which then directs them on how to spend the money in their poorer regions. Brussels does not need to act as a middle-man here — the EU should only be giving its poorest member countries regional support.

Wie gesagt, dies ist eine wirtschaftsliberale, britisch geprägte Sicht. Wer sich für die Budgetdebatte wappnen will, sollte aber auch die Argumente der Kritiker kennen, die Brüssel kurz halten wollen. Es werden immer mehr…

Grundeinkommen – „Die Rückkehr der Verteilungskonflikte im kulturellen Gewand“

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Christian Huberts

Eigentlich würde man erwarten, dass sich die Pro- und Contra-Fraktionen zum Grundeinkommen relativ eindeutig politischen Lagern zuordnen lassen. Hier linke Umverteilungs-Utopisten. Dort konservative Verteidiger der Leistungsgerechtigkeit. Hier die fürsorgliche Hand des Staates. Dort die fordernde Hand des Marktes. Doch die Realität sieht anders aus, wie Marc Saxer von der Friedrich-Ebert-Stiftung beschreibt:

Die Vorstellung, dass die „hart Arbeitenden“ die „faulen Tagediebe“ finanzieren sollen, verletzt in gleichem Maße die Grundwerte sozial Konservativer, liberaler „Leistungsträger“ und stolzer Facharbeiter. Diese seltsamen Diskursallianzen liegen quer zum alten Links-Rechts-Schema.

Statt um die materielle Verteilungsachse, so Saxer, ginge es bei der Diskussion um das Grundeinkommen viel mehr um die kulturelle Anerkennungsachse. Sie reiht sich damit nahtlos in die vielen anderen Kulturkämpfe unserer Zeit ein. Doch anders als viele Kritiker identitätspolitischer Emanzipationsbemühungen, sieht Saxer darin keine bloße »postmoderne Ablenkung von den eigentlichen Interessen der Arbeiterklasse«:

Das Charakteristische an der politischen Formation des digitalen Kapitalismus ist es vielmehr gerade, dass Verteilungsfragen im kulturellen Gewand ausgetragen werden. Wer das nicht versteht, verliert entweder die Anschlussfähigkeit im kulturell kodierten Diskurs, oder, schlimmer noch, versucht die Rechtspopulisten autoritär zu übertrumpfen. […] Mit anderen Worten: Es geht nicht entweder um „Gleichheit“ oder um „Emanzipation“, sondern um konkrete Angebote, wie sich diese beiden progressiven Kernwerte miteinander verbinden lassen.

Das ist eine erfrischende Perspektive, die Kompromisse in der sonst reichlich festgefahrenen Grundeinkommens-Diskussion ermöglicht. Vielleicht lässt sich die Identität der Arbeiterbewegung so doch noch mit neuen Arbeitsbegriffen und dem digitalen Kapitalismus versöhnen. Es muss ja nicht durch den ersten Schnellschuss »solidarisches Grundeinkommen« passieren.