Fremde Federn

Die Allmacht der Märkte, Zweidrittel-Gesellschaft, Vera Shlakman

Diese Woche gibt es in den Fremden Federn unter anderem Einblicke in den Zusammenhang von Direktinvestitionen und Offshore-Geschäften, Hintergründe zur Machbarkeit des Kohleausstiegs und einen Leitfaden für den Umgang mit Obdachlosen.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Warum unser Bild von globalen Investitionen ziemlich verwaschen ist

piqer:
Rico Grimm

Die Paradise und Panama Papers haben gezeigt, wie systematisch Unternehmen und Reiche Steueroasen nutzen, um nicht so viel Geld an den Staat abführen zu müssen. Was sie aber auch gezeigt haben – darauf macht dieser wichtige Artikel aufmerksam – dass wir uns nicht darauf verlassen können, was wir über den Welthandel und über Investitionsströme wissen. Denn, wenn man richtig rechnet, ist der zweitgrößte Handelspartner Großbritanniens Großbritannien selbst. Britische Firmen nutzen die Steuergesetze der Niederlande und leiten dann Geld wieder auf die Insel. Acht der zehn größten Investorenländer in Russland sind Steueroasen. Hong Kong steht für die Hälfte der gesamten Investitionen in China usw. usf. Ein Wissenschaftler kommt zu dem Schluss, dass bis zu 50 Prozent der Foreign Direct Investments mit Offshore-Geschäften zu tun haben könnten.

Wenn das stimmt, können wir entsprechende Statistiken eigentlich ignorieren. Denn über den realen Stand sagen sie uns kaum noch etwas.

Karl Polanyi und das Märchen von alternativlosen Allmacht der Märkte

piqer:
Jörn Klare

Der Dramatiker Christoph Nußbaumeder hat sich mit einem weitgehend vergessenen Klassiker der Wirtschaftswissenschaften – The Great Transformation von Karl Polanyi – beschäftigt. Daraus entstand ein längerer lesenswerter Essay, der grundlegende Argumente für ein politisches System aufzeigt, in dem die Gesellschaft über den Markt und eben nicht der Markt über die Gesellschaft bestimmt.

Anfangs referiert Nußbaumeder über die Bedeutung wirtschaftlicher Interessen für die allermeisten kriegerischen Konflikte. Ab dem 3. Abschnitt widmet er sich dem 1944 entstandenen Hauptwerk des 1964 verstorbenen ungarisch-österreichischen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlers Karl Paul Polanyi.

Nußbaumeders Ausgangspunkt ist sein Misstrauen gegenüber der These von der Allmacht der Märkte. Dazu widerspricht Polanyi erst einmal der entscheidend von Adam Smith geprägten Vorstellung, dass der Mensch ein geborener Homo oeconomicus mit einer ausgeprägten Neigung zu gewinnbringenden Tätigkeiten ist. Ein heute kaum noch hinterfragtes Mantra der herrschenden neoklassischen Ökonomie, welche die Marktwirtschaft längst in den „Rang einer weltlichen Religion“ gehoben hat. Polanyi hingegen sieht die wirtschaftliche Tätigkeit des Menschen in erster Linie im Kontext seiner Sozialbeziehungen:

„Sein Tun gilt nicht der Sicherung seines individuellen Interesses an materiellem Besitz, sondern der Sicherung seines gesellschaftlichen Rangs, seiner gesellschaftlichen Ansprüche und seiner gesellschaftlichen Wertvorstellungen. Er schätzt materielle Güter nur insoweit, als sie diesem Zweck dienen.“

Erhellend verweist Nußbaumeder dazu am Ende seiner gut nachvollziehbaren Ausführungen auf die Studien des Direktors des Leipziger Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie Michael Tomasello:

„Die Menschen sind auf dieser Welt nicht die bestimmende Gattung geworden, weil sie als triebgesteuerte Einzelkämpfer gegeneinander ihr Glück gesucht hätten, sondern weil ihr kooperativer Wesenskern überwogen hat.“

Die oberen 40 und die unteren 60 Prozent

piqer:
Antje Schrupp

Wo zieht man sinnvollerweise die Grenze zwischen Arm und Reich? Darauf gibt es viele unterschiedliche Antworten. In den 1980er Jahren war die Rede von der „Zweidrittelgesellschaft“: Das untere Drittel werde von der Entwicklung des Gesamtwohlstandes abgeschnitten, hieß es. Nach der Jahrtausendwende dann wurde häufig das obere 1 Prozent der Super-Reichen ins Visier genommen und von „uns“, den „99 Prozent“, unterschieden.

Die hier verlinkte Analyse schlägt vor, die Grenze zwischen den oberen 40 Prozent und den unteren 60 Prozent zu ziehen. Anhand verschiedener Statistiken und Grafiken wird deutlich, dass diese beiden Gruppen sich inzwischen so stark voneinander unterscheiden, dass eigentlich von zwei unterschiedlichen Ökonomien gesprochen werden muss. Die Studie bezieht sich auf die USA und lässt sich natürlich nicht einfach auf Europa oder gar Deutschland übertragen, aber interessant ist die Vorgehensweise allemal.

So sind fast alle Zugewinne an Vermögen und Einkommen in den vergangenen zehn Jahren den oberen 40 Prozent zugutegekommen, während die unteren 60 Prozent entweder keine Verbesserungen oder sogar Verschlechterungen ihrer Lebenssituation hinzunehmen hatten. Überproportional traf es dabei die Gruppe der weißen Männer, denen es in absoluten Zahlen zwar immer noch besser geht als Frauen oder anderen Männern, die aber die einzige demografische Gruppe sind, bei denen sich praktisch alle Parameter in letzter Zeit verschlechtert haben.

Und was bedeutet das alles, wenn man bedenkt, dass diejenigen, die in Politik, Medien und Bildungswesen die öffentlichen Debatten prägen, durchgängig zu den oberen 40 Prozent gehören? Sie halten sich selbst ja nicht unbedingt für reich. Aber von der Lebenswirklichkeit der „anderen Seite“ sind sie eben persönlich sehr weit entfernt.

„Bei einem Kohleausstieg drohen Blackouts“ – stimmt das eigentlich?

piqer:
Ralph Diermann

Kürzlich erst wieder Armin Laschet: Kohlekraftwerke seien unverzichtbar, da sie bei Dunkelflauten – wenn mehrere Tage lang kein Wind weht und die Sonne hinter Wolken hängt – Blackouts verhindern, erklärte der NRW-Ministerpräsident im Streit um den Braunkohle-Tagebau Hambacher Forst. Auch bei den Jamaika-Sondierungsgesprächen war dies das Standardargument gegen einen Kohleausstieg.

Aber stimmt das eigentlich? Gehen hierzulande ohne Kohle tatsächlich die Lichter aus? Felix Austen hat jetzt für Perspective Daily eine Reihe von Zahlen zusammengetragen, die diese Fragen kurz und knapp beantworten sollen. Zwar beschränkt er sich in seiner Analyse auf das Abschalten von zwanzig großen Kohlekraftwerken bis 2020, wie es die Grünen gefordert haben. Die spannendere Frage nach den Folgen eines kompletten Kohleausstiegs bis 2030 lässt er aber unbeantwortet – zumindest was die Versorgungssicherheit betrifft. Nichtsdestotrotz liefert Austen damit einen wertvollen Beitrag zur aktuellen Debatte über den Einstieg in den Ausstieg.

Was passiert, wenn ich Wachstumskritik und Migrationspolitik zusammen denke?

piqer:
Rico Grimm

Dieses Interview kann ich empfehlen, aber nicht uneingeschränkt.

Ich kann es empfehlen, weil Alberto Acosta, ein Politiker und Professor aus Ecuador, hier zwei Sachen zusammenbringt, die gerade viel diskutiert werden: Wachstumskritik und Migrationspolitik. Er wendet sich damit gegen jene, die glauben, dass mehr Wachstum (SZ) und mehr Globalisierung (Die Welt) der Schlüssel zur „Bekämpfung der Fluchtursachen“ sei:

Es ist ein Irrtum zu glauben, dass mehr Wirtschaftswachstum die sozialen Probleme auf diesem Planeten lösen wird. Die Wirklichkeit beweist uns ständig das Gegenteil. Wir sehen, dass grenzenloses Wachstum nicht nur die ökologische Ungleichheit weiter vertieft, sondern auch weit davon entfernt ist, Armut und Elend zu lindern.

Dabei weiß Acosta aber, dass Wachstum durchaus sinnvoll sein könne, um grundlegende Mängel bei Bildung und Gesundheit anzugehen. Das ist ein Zeichen intellektueller Aufrichtigkeit.

Was mir Unbehagen bereitet: Dass Acosta davon auszugehen scheint, dass es irgendwo Hebel und Räder gibt, die man nur in Gang setzen muss und schon kann ich Einfluss auf die Gesellschaft nehmen. Er setzt viel Vertrauen in die Steuerbarkeit der Gesellschaft, wenn er sagt:

Wir müssen gleichzeitig dekonstruieren und wieder aufbauen, ohne dabei die Gesellschaften zu brechen.

Der Mann, den Merkel UND Lindner umwerben

piqer:
Eric Bonse

Marc Rutte ist den meisten Deutschen kein Begriff. Dabei schätzen sowohl Kanzlerin Angela Merkel und FDP-Chef Christian Lindner den niederländischen Regierungschef. Merkel sieht in ihm einen Partner, wenn es gilt, unerwünschte Vorstöße aus Italien oder Frankreich abzuwehren und mehr Disziplin im Euro durchzusetzen. Lindner mag seine EU- und Euro-skeptische Grundhaltung.

„Mehr Integration ist nicht die Antwort“, sagte Rutte nach der visionären Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron in der Sorbonne. Er will nicht „mehr Europa“, sondern ein liberaleres Europa. Allerdings hat er dafür andere Gründe als Merkel oder Lindner. Denn die Regierung in Den Haag hat mehrere EU-Referenden verloren, die Niederländer wenden sich von Europa ab.

CDU und FDP müssen deshalb aufpassen, dass sie nicht auf die falschen Freunde setzen …

Nicht nur von historischem Interesse: Zum Tod von Vera Shlakman

piqer:
Antje Schrupp

Sie war engagiert für die „soziale Frage“, schrieb ihre Dissertation über weibliche Fabrikarbeit und unterrichtete Ökonomie am New Yorker Queens College – bis sie 1952 gefeuert wurde, weil sie sich weigerte, vor den McCarthy-Tribunalen Auskunft darüber zu geben, ob sie einmal Mitglied der kommunistischen Partei war. Die Wirtschaftswissenschaftlerin Vera Shlakman ist im November im Alter von 108 Jahren gestorben, und die New York Times hat ihr einen ausführlichen Nachruf gewidmet.

Die Sache könnte eigentlich eine Randnotiz sein, zumal Shlakman nach ihrem Berufsverbot nicht mehr weiter im Bereich der Wirtschaftswissenschaften forschte. Allerdings führt die Erinnerung an diese Lebensgeschichte zurück in eine Zeit, die viel mit der ideologischen Weichenstellung zum heutigen neoliberalen Ökonomismus zu tun hatte: Kann eine Kommunistin Wirtschaftswissenschaften unterrichten? Oder auch: Darf es im akzeptierten Mainstream andere ökonomische Erzählungen geben als die von der Alternativlosigkeit des Kapitalismus? Diese Frage ist auch heute nicht nur von historischem Interesse.

Wie im Alltag mit Obdachlosigkeit umgehen? – Ein Leitfaden

piqer:
Christian Huberts

Im Jahr 2016 waren rund 860.000 Menschen in Deutschland wohnungslos, davon 52.000 dauerhaft auf der Straße lebend. Zahlen, die sich unmittelbar im Stadtbild von Berlin, München, Frankfurt am Main etc. widerspiegeln. Keine Fahrt mit der U-Bahn ohne Bettler und kaum ein Sparkassen-Foyer ohne Obdachlose, die den Bankkunden die Tür aufhalten. So kommt es immer wieder zu Alltagsbegegnungen, die unterschiedlichste Reaktionen hervorrufen können. Mitgefühl, Überforderung, Relativierung, Ekel.

Auf staatlicher Ebene wird Wohnungslosigkeit nicht wirksam bekämpft und Einzelmenschen wissen oft nicht, wie sie Obdachlose effektiv unterstützen können oder warum sie ihnen überhaupt helfen sollten. Um diese Unsicherheit zu reduzieren und gleichzeitig Vorurteile abzubauen, hat der Caritasverband für die Stadt Köln e.V. einen Leitfaden für die Begegnung mit bettelnden Menschen entwickelt. Dieser liefert nicht nur viele Hintergrundinformationen und Verhaltensempfehlungen, sondern räumt auch mit potenziell gefährlichen Mythen auf. Etwa dass es sinnvoll sei, obdachlosen Bettlern nur Lebensmittel und Kleidung zu schenken, da Bargeld bestehende Suchterkrankungen aufrecht erhalten würde.

Das ist nicht ganz falsch, allerdings kann ein erzwungener kalter Entzug gerade im Winter lebensbedrohlich sein. Besser ist es, nach konkreten Notwendigkeiten zu fragen und im Zweifelsfall eben auch bedingungslos Geld zu schenken, selbst wenn dafür Alkohol gekauft wird. Und was der Leitfaden leider nicht anspricht: Es kostet keine Mühe, die Telefonnummer des örtlichen Kältebusses im Handy abzuspeichern – zum Beispiel für Berlin: 0178/5235838.