Fremde Federn

Oktoberrevolution live, klimaschädliche Bitcoins, Paradise Papers

Diese Woche gibt es in den Fremden Federn unter anderem eine Undercover-Reportage aus dem tschechischen Niedriglohnsektor, eine Krypto-Umweltbilanz und ein – zur Abwechslung mal – gelungenes Streitgespräch zum Grundeinkommen.

Foto: Jojo Bombardo via Flickr (CC BY-ND 2.0)

In den „Fremden Federn“ stellen wir einmal pro Woche in Kooperation mit dem Kuratorendienst piqd eine Auswahl von lesenswerten journalistischen Fundstücken mit wirtschaftspolitischem Bezug zusammen. piqd versteht sich als eine „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen keine reichweitenoptimierten Algorithmen, sondern ausschließlich ausgewählte Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten.

Tschechiens Welt der Erniedrigten und Beleidigten

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Ulrich Krökel

Das Entsetzen im noch immer vorherrschenden EU-Mainstream war groß, also kürzlich der sogenannte tschechische Trump Andrej Babiš mit seiner populistischen Bewegung ANO die Parlamentswahl gewann. In der Zeit fragte Jochen Bittner verstört: Jetzt auch noch die Tschechen? Über die Gründe, warum so viele Menschen in dem wirtschaftlich (angeblich) so erfolgreichen Land unzufrieden sind, herrschte weitgehend Ratlosigkeit.

Dabei hätte man aus der Undercover-Reportage von Saša Uhlová über die Arbeitsbedingungen im tschechischen Niedriglohnsektor schon vor der Wahl einiges über die Welt der Erniedrigten und Beleidigten im Land erfahren können (um es einmal mit Dostojewski zu sagen). Leider habe ich selbst Uhlovás Text auch etwas spät entdeckt, empfehle ihn aber umso dringender, da wir es ja auf absehbare Zeit weiter mit dem Phänomen Babiš zu tun haben werden.

Was Uhlová von der Arbeit in einer Wäscherei, einer Hühnchenfarm, an einer Supermarktkasse und vom Fließband in einer Fabrik zu berichten hat, sprengt vielleicht gar nicht einmal die Vorstellungskraft der Leserinnen und Leser. Aber gerade weil man sich all diese „faszinierenden“ Dinge vorstellen kann, sollten alle Alarmglocken läuten:

The disrespect everyone felt for the work fascinated me. It was not just that I was often issued a task that turned out to be completely pointless, but my colleagues and superiors kept doing work they would eventually themselves undo.

Wie Bitcoin den Klimawandel befeuert

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Daniela Becker

Die virtuelle Währung Bitcoin wirft zahlreiche sicherheitstechnische und rechtliche Fragen auf und nicht zuletzt kann man sie auch wegen ihres Energieverbrauchs als fragwürdig einstufen.

Klar, jede Tätigkeit am Computer verbraucht Energie. Allein eine Anfrage bei Google kostet rechnerisch etwa vier Watt Strom pro Stunde (was umgerechnet zwei Gramm CO2-Ausstoß entspricht). Der Energieverbrauch, um Rechenzentren und Server zu kühlen ist weltweit immens.

Und dazu trägt Bitcoin in wirklich atemberaubendem Ausmaß bei, wie dieser Text von „Motherboard“ schön aufdröselt. Denn: Neue Einheiten des Kryptogeldes werden nach und nach durch das sogenannte Mining (zu Deutsch: schürfen) erzeugt. Das macht die Währung für viele so attraktiv: Die Bitcoin-Teilnehmer schaffen ihre Geld selbst und zwar „nur“ durch die Aufwendung von Rechenleistung. Aus Klimaschutz-Gesichtspunkten kommt dieses „nur“ aber zu einem hohen Preis.

Put another way, global Bitcoin mining represents a minimum of 77KWh of energy consumed per Bitcoin transaction. Even as an unrealistic lower boundary, this figure is high: As senior economist Teunis Brosens from Dutch bank ING wrote, it’s enough to power his own home in the Netherlands for nearly two weeks.

Durch die Gerüchte, Amazon könnte die Währung als Zahlungsmittel zulassen, wird der Hype um Bitcoin weiter angeheizt. Und damit auch das Klima.

Die Oktoberrevolution live

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Simone Brunner

Gestern vor 100 Jahren übernahmen in St. Petersburg die Bolschewiken unter Lenin die Macht. Viele Analysen, Beiträge und Einschätzungen sind hierzu ja schon empfohlen worden. Hier aber noch mein Hinweis auf das Projekt1917: Auf dieser Seite, den sozialen Medien von heute nachempfunden, können die Ereignisse noch heute, am Jahrestag, und wohl auch noch einige Zeit darüber hinaus in Echtzeit mitverfolgt werden. Ein spannendes und auch experimentelles Projekt des russischen Journalisten Michail Sygar, das ich zuletzt für das Osteuropa-Magazin ostpol porträtieren durfte.

Project1917 ist eine schöne, interaktive Ergänzung zur Fülle an Publikationen, die zuletzt zum Thema erschienen sind und der Versuch, sich historischen Großereignissen auf neue Art zu nähern.

Zwei diskutieren mal über das Grundeinkommen, ohne aneinander vorbei zu reden

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Antje Schrupp

Die Debatte über das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE) ist eine der interessantesten Kontroversen zurzeit. Die Grenzen zwischen Pro und Contra BGE verlaufen quer zu den gewohnten politischen Lagern, und das Thema verknüpft ökonomische Fragen mit philosophischen: Was sind unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit? Welches Menschenbild haben wir? Aus denselben Gründen, aus denen sie interessant sind, verlaufen BGE-Debatten leider aber oft auch ziemlich unfruchtbar. Es ist eben zu leicht, ständig die Ebenen zu wechseln und aneinander vorbei zu reden.

Dieses Interview ist eine Ausnahme. Es bringt den Politikwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge, einen der engagiertesten linken Gegner des Grundeinkommens, zusammen mit der Kabarettistin und Volkswirtschaftlerin Anny Hartmann, die sich für ein Grundeinkommen einsetzt. Die Fragen von Chrismon sorgen dafür, dass die beiden miteinander reden und aufeinander eingehen. Und es zeigt sich (vor allem gegen Ende des Interviews), dass es bei den Differenzen vor allem um zwei grundlegende Fragen geht:

Erstens: Soll gesellschaftliche Teilhabe weiterhin ganz zentral über Erwerbsarbeit organisiert werden oder müssen wir andere Modelle ausprobieren? Und zweitens: Ist Gerechtigkeit nur möglich, wenn streng zwischen „Bedürftigen“ und „Nicht-Bedürftigen“ unterschieden wird, oder sorgt gerade diese Trennung immer weiter für die Stigmatisierung derer „unten“? Die Debatte wird uns jedenfalls noch eine ganze Weile beschäftigen.

Techkapitalismus: Game over?

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Ali Aslan Gümüsay

In diesem Interview zeichnet Evgeny Morozov ein düsteres Bild – eine digitale Dystopie. Digitalkonzerne werden immer größer und beuten zurzeit die Datenressourcen aus. Seit Beginn des Jahres ist der Marktwert der vier größten Techfirmen in den USA um 450 und in China um 400 Milliarden Dollar gestiegen. In einem illusorischem digitalen Wohlfahrtsstaat geben wir freiwillig Daten heraus, die uns morgen auf die Straße setzen. Und wir werden in der Digitalökonomie zu Nutzern herangezüchtet, die ihr Einkommen zu einem großen Teil darauf verwenden, überhaupt Nutzer sein zu dürfen. Nutzlos und abhängig also.

Es braucht Reformen:

Die Gesundheitsvorsorge, das Bildungssystem, die Zukunft des Verkehrs – all diese Bereiche sind vom Vormarsch selbstlernender Maschinen zutiefst betroffen. Die Menschen werden älter. Millionen Jobs werden verschwinden. Die Einnahmen des Staates aus der Besteuerung von Löhnen werden zurückgehen. Kurz: Der Reformdruck, der auf unseren Gesellschaften lastet, ist enorm.

Er plädiert für eine „ambitionierte, paneuropäische Gesamtstrategie“ und spricht von dezentralen Lösungen. Zurecht fragt Morozov, warum die Infrastruktur (z.B. die Straßen) für alle da ist, die Digitalinfrastruktur dagegen von privaten Unternehmen betrieben wird, die sich darüber hinaus den Kontrollmechanismen des Marktes entziehen.

Sofern also nicht gehandelt wird, werden wenige Unternehmen in den USA und China die digitale Infrastruktur in Deutschland und der Welt kontrollieren, und aufgrund ihres Wissens über uns unsere Entscheidungen so prägen, dass wir aus diesem strukturellem Korsett weder hinaus können noch wollen. Game over.

Kein Geheimtipp, schon klar, trotzdem: die Paradise Papers

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Dirk Liesemer

Man wird in den nächsten Wochen nicht um diese Geschichte herumkommen: Die Paradise Papers, 13,4 Millionen Dokumente zum Thema Steuerflucht – ein Leak, das sich aus 21 Quellen speist. Gepiqd ist eine Einführung: Was zeigen die Unterlagen genau, welche Firmen, Staatschefs und Superreichen werden genannt? Unter dem Text sind dann einzelne Geschichten verlinkt. Es ist nicht der erste und sicher nicht der letzte Skandal über Steueroasen. Und bestimmt wird bald wieder die Frage auftauchen: Was bringen all die Berichte?

Es lohnt sich der Blick zurück: Ein halbes Jahr nach Veröffentlichung der Panama Papers schrieb die Süddeutsche Zeitung unter anderem von Ermittlungen gegen tausende Verdächtige. Und im vergangenen April – ein Jahr nach Bekanntwerden – notierte der an den Recherchen beteiligte NDR: „Zahlreiche Länder, von der Mongolei bis zum Libanon, haben inzwischen effiziente Gesetze auf den Weg gebracht, um Steuerflucht und Geldwäsche zu bekämpfen. Derzeit laufen in weit mehr als 70 Ländern über 7.000 Ermittlungsverfahren, die von den Veröffentlichungen angestoßen wurden. Allein deutsche Steuerfahnder prüfen 500 Verdachtsfälle.“