Es gehört zu den Grundaufgaben von Journalisten, die Relevanz eines Ereignisses einzuordnen und über dessen Nachrichtenwert zu entscheiden. Doch im Internet-Zeitalter wird dieses Prinzip oft ad absurdum geführt: Längst entscheiden auch in den seriöseren Redaktionen Social Media-Manager über den Stellenwert einer Nachricht mit, indem sie diese auf die „Shareability“ in den sozialen Netzwerken abklopfen – und allzu oft wird dann der Entertainment-Faktor und das Aufregerpotenzial eines Ereignisses höher gewichtet als dessen Nachrichtenwert. Auch erhöht sich so die Gefahr, dass Leser durch den Medienkonsum über Facebook und Co. Gefangene ihrer eigenen Filterblase bleiben.
Eine Programmzeitung für guten Journalismus
Als Reaktion auf diese Entwicklung gibt es inzwischen einige Kuratorendienste, die sich explizit gegen die reichweitenoptimierten Algorithmen sozialer Netzwerke stellen. Ein besonders gelungenes Exemplar ist die Webseite piqd.de. piqd versteht sich als „Programmzeitung für guten Journalismus“ – was relevant ist, bestimmen bei piqd ausschließlich ausgewählte Kuratoren. Unter dem Motto „handverlesenswert“ empfehlen Fachjournalisten, Wissenschaftler und andere Experten Inhalte, die sie in den Untiefen des Internets aufgespürt haben.
Das Besondere daran: Die „piqer“ belassen es nicht beim bloßen Verlinken, sondern verfassen zu jeder Empfehlung Rezensionen, Reflektionen und Zusammenfassungen, die für sich genommen oftmals schon einen großen Mehrwert bieten. Insgesamt gibt es bei piqd 17 Themenkanäle – und auch Wirtschaftsthemen kommen dabei nicht zu kurz.
In Kooperation mit piqd haben wir nun eine neue Rubrik ins Leben gerufen: In den „Fremden Federn“ werden wir im Makronom künftig einmal pro Woche eine Zusammenstellung von piqs mit wirtschaftspolitischem Bezug veröffentlichen. Der folgende Beitrag macht den Auftakt.
Männerbiotop Ökonomie: Andreas Sator fasst sich an die eigene Nase
piqer:
Antje Schrupp
Viel geteilt wurde in der letzten Woche dieser Text des Wirtschaftsjournalisten Andreas Sator vom Standard. Jedenfalls in meiner Ecke des Internets. Offenbar sind viele, gerade auch viele Männer beeindruckt von der Offenheit, mit der Sator hier Selbstkritik übt – daran nämlich, dass er bisher in seinen Texten und Podcasts fast nur Männer zu wirtschaftlichen Themen befragt hat.
Anlass für dieses Nachdenken war sein aktueller Podcast-Gast, die Wirtschaftswissenschaftlerin Katharina Mader. Die erste Frau auf seiner Gästeliste, und gleich ist sie die Expertin für Gender-Themen? Ja, denn einen Mann hat Sator zu dem Thema nicht gefunden. Männer fühlen sich für Genderfragen nicht zuständig, denn in der Regel sind sie davon überzeugt, sowas wie „Geschlecht“ nicht zu haben – sind sie nicht einfach neutrale normale Menschen?
Andreas Sator hat sich vorgenommen, als Journalist diese Verzerrungen im Geschlechterverhältnis nicht länger mit zu befeuern. In Zukunft strebt er für seine Interviews eine Frauenquote von 40 Prozent an – ich drücke ihm die Daumen, dass er das durchhält. Und wette, dass seine Sendungen dadurch merklich vielfältiger und thematisch interessanter werden.
Wie Marxismus heute erfolgreich umgesetzt wird
piqer:
Georg Wallwitz
Der Economist widmet in dieser Woche seine Titelgeschichte dem Umstand, dass China auf der Weltbühne keinerlei Interesse an fairen Wirtschaftsbeziehungen zeigt, sondern nur den eigenen Vorteil im Auge hat. Die Haltung der dortigen Regierung geht etwa so: Wirtschaftspolitik ist Machtpolitik. Handel ist ein Nullsummenspiel, bei dem der Gewinn des Auslands der Verlust Chinas ist. Wer über die Produktionsmittel gebietet, kann den anderen seinen Willen aufzwingen. Indem China Schlüsselindustrien und Infrastruktur aufkauft, wird es zum bestimmenden Faktor der Politik.
Man sollte nie vergessen, dass die Kader in Staat und Partei bis heute in Marxismus-Leninismus geschult werden. Das ist zum Verständnis der Wirtschaftspolitik des Landes wesentlich. Und so scheint die Politik dort heute eine interessante Mischung aus marxistischer Wirtschaftsauffassung (Kontrolle über die Produktionsmittel als Schlüssel zur politischen Entwicklung) und Nationalismus zu sein. Fern im Osten ist eine Macht entstanden, die ganz in der Tradition des 19. Jahrhunderts steht.
In Deutschland vernichten Roboter keine Jobs
piqer:
Rico Grimm
Deutschland hat eine der höchsten Automatisierungs-Quoten der Welt – in der Bundesrepublik drehen sich besonders viele Roboter in den Fabriken. Deswegen müsste hierzulande die Zahl der Industrie-Arbeitsplätze eigentlich stetig abnehmen. Tut sie aber nicht, wie dieser Artikel zeigt. Die Autoren glauben, dass das vor allem an den Gewerkschaften liegt, die bereit sind, auf Lohnerhöhungen zu verzichten, um Arbeitsplätze zu sichern.
Mays Rede in Florenz: Plattitüden für Hinterbänkler
piqer:
Silke Jäger
Viel Lärm um nicht viel Neues. Theresa Mays Rede in Florenz hat Heerscharen an enttäuschten Komementatoren hinterlassen. Was sie wohl erwartet hatten? Große Visionen oder konkrete Vorschläge, wie man bei den Knackpunkten der Verhandlungen weiterkommen will?
Ich habe einen Text unter den vielen sarkastisch, zynisch und ratlos eingefärbten Analysen gefunden, der etwas mehr zu bieten hat. 5 Experten schauen im Brexit-Blog der London School of Economics and Political Science aus unterschiedlichen Perspektiven auf die Rede. Wie kann man Mays Formulierungen deuten zur jetzt nun doch spruchreifen transition period? Wie die zu den border issues in Nordirland, wie die zu den Rechten der EU-Expats in Großbritannien? Und warum fehlte in ihrer Rede das Bekenntnis zu der zuvor durchgestochenen Summe von 20 Milliarden Pfund, die Großbritannienen angeblich für langfristige Verpflichtungen bis zum Ende der Übergangsperoide bereit ist zu zahlen?
Erfrischend ist dabei, dass nicht alle Analysen die Rede aus den gleichen Gründen für weitgehend inhaltsleer halten. Außerdem gibt es Stimmen, die auch Lob übrig haben für Mays Ansatz.
Ergänzend dazu hier noch ein Kommentar aus dem gleichen Blog darüber, warum man May als Gefangene ihres Kabinetts bezeichnen kann und was ihre gestrige Rede zu diesem Eindruck beiträgt.
Kann die Arbeit der Tech-Firmen für einen inklusiven Kapitalismus genutzt werden?
piqer:
Ole Wintermann
Der Beitrag von John Battelle ist aus zweierlei Perspektive interessant (wenngleich er inhaltlich gesehen nicht sehr umfangreich geraten ist). Erstens wird deutlich, dass die technikkritische Sicht auf die Internetfirmen den Sprung über den Atlantik geschafft hat. Elemente dieser Technikkritik sind die Vorwürfe, diese Firmen würden nicht auf Kritik reagieren, wären frauenfeindlich (ein eher US-spezifisches Thema) und würden nicht die politischen und sozialen Konsequenzen ihrer Technik bedenken. Er verweist auf die Ansätze der Republikaner, die Firmen stärker regulieren zu wollen (spannenderweise findet man diese Ansätze hierzulande ja auch bei der SPD).
Zweitens spricht Battelle ein Thema an, das sehr untypisch für die marktwirtschaftlich fixierten USA ist: Es geht um die (in den 1970ern hätte man gesagt) “Sozialisierung” der Gewinne und Erkenntnisse der genannten Tech-Firmen, um damit einen “progressiven” und “inklusiven” Kapitalismus zu erreichen. Leider wird aber nicht näher ausgeführt, was dies mit sich bringen könnte. Wer speziell in diesen letzten Aspekt tiefer einsteigen möchte, dem sei an dieser Stelle deshalb auch der spannende Beitrag von Nafeez Ahmed bei Motherboard ans Herz gelegt.
Ruhrgebiet: Neue Jobs im Mittelstand als Bollwerk gegen Rechts?
piqer:
Meike Leopold
Für viele steht das Ruhrgebiet immer noch für einen tiefgreifenden Strukturwandel und damit auch für eine hohe Arbeitslosigkeit durch den Niedergang ganzer Industrien wie Kohle und Stahl.
Doch wie so oft muss auch hier differenziert werden. Beispiel Dortmund: Im Gegensatz zu Bochum, das derzeit den Schock über 2000 weitere geplante Massenentlassungen bei ThyssenKrupp zu verdauen hat, scheint die Stadt an der Ruhr in Sachen Zukunft und Arbeit derzeit besser aufgestellt zu sein.
Das notiert zumindest die New York Times in einer sehr fein bebilderten Reportage über erfolgreiche mittelständische Fertigungsunternehmen wie Wilo am Standort Dortmund. Durch diese hätten Blue Collar Worker (auf deutsch nur schlecht mit „unstudierte Fabrikarbeiter“ übersetzt) nach dem Umbruch im Revier neue Chancen und Jobs erhalten.
Die These der NY: Der deutsche Mittelstand, der weltweit als eine Besonderheit gilt, habe in Dortmund den Zusammenbruch alter Industrien kompensiert. Wo es genügend Arbeitsplätze in solchen Unternehmen gebe, hätten populistische und extrem rechts stehende Parteien wie die AfD weniger Chancen, sich einzunisten.
Dass sich neue Fertigungsunternehmen in den vergangenen Jahren in Dortmund etablieren konnten, ist natürlich auch ein Verdienst der lokalen Politik. Diese hat laut NY die Herausforderungen früh erkannt und die entsprechenden Rahmenbedingungen für die Ansiedlung geschaffen.
Immerhin: Gegen den allgemeinen Trend im Ruhrgebiet konnte die SPD bei der Bundestagswahl ihr Direktmandat in Dortmund verteidigen. Es könnte also etwas dran sein an der Einschätzung der NY.
Von der Hausangestellten zur Gewerkschafterin: Der Arbeitskampf einer indischen Maid
piqer:
Natalie Mayroth
Wer in Indien Geld hat, kauft sich nicht unbedingt eine Spülmaschine oder einen Staubsauger. Er legt sich lieber ein oder zwei Hausmädchen zu – zum Putzen, Kochen oder Kinder betreuen. Es sind oft junge Frauen, die vom Land in die Städte ziehen, um für die reiche Mittelschicht Indiens zu arbeiten. Wie hunderttausend Andere ereilte Neelima Tirkey ein ähnliches Schicksal: Von fünf Uhr morgens bis zehn Uhr stand sie der Familie zur Verfügung – für ein geringes Einkommen ohne soziale Absicherung, ohne Urlaub, abhängig von der Willkür ihres Arbeitgebers. Etwas, das sie auf Dauer nicht hinnehmen wollte, weswegen sie sich dem “Domestic Worker Forum“ anschloss, um den Arbeitskampf der Maids in Neu-Delhi zu organisieren.
In den letzten drei Jahren hat ihre Gruppe bei 150 Rettungsaktionen Frauen aus Haushalten befreit, in denen sie diskriminiert, verbal oder körperlich misshandelt wurden.
Sie geben den Frauen eine Stimme, machen sie sichtbar und setzen sich für ihre Rechte ein, in einem Land, in dem Hausarbeit oft nicht als richtige Arbeit angesehen wird.