"Soziales Europa"

Ist der EU-Kommission der große sozialpolitische Wurf gelungen?

Mit ihrem Paket zum „sozialen Europa“ wollte die EU-Kommission um Jean-Claude Juncker auf die Vertrauenskrise der EU reagieren – und hat vor allem bei Sozialverbänden und Gewerkschaften für große Enttäuschung gesorgt. Jedoch sollte man nicht vergessen, dass die Kommission auch den schwierigen politischen Rahmenbedingungen Rechnung tragen musste. Eine Analyse von Lukas Nüse.

Straßenszene in Mailand: Die EU will die soziale Konvergenz in Europa erhöhen. Foto: Marco Giumelli via Flickr (CC BY 2.0)

Jean-Claude Juncker wurde 2014 auch wegen seines Versprechens, Europa sozialer zu machen, zum Präsidenten der Europäischen Kommission gewählt. Seit seinem Amtsantritt wiederholt er nun bei fast jeder sich bietenden Gelegenheit sein Mantra vom „sozialen Triple-A-Rating für Europa“.

So nobel Junckers Anliegen auch ist, durch eine Stärkung der sozialen Dimension Europas den Menschen zu helfen, die immer noch von den Auswirkungen der Krise betroffen sind, so riskant ist es auch – es besteht die Gefahr, dass von höchster europäischer Ebene abermals Versprechungen gemacht wurden, die nicht eingehalten werden können und somit den Frust über die EU weiter verstärken.

Am letzten Mittwoch sollte sich nun zeigen, ob er dieses Versprechen wird einlösen können: An diesem Tag präsentierte die EU-Kommission ihre Version für ein soziales Europa in Form der „europäischen Säule sozialer Rechte“ (ESSR) sowie des „Reflexionspapiers zur sozialen Dimension Europas“.

Das Paket zum „sozialen Europa“

Das gesamte von der Kommission vorgelegte Paket zum „sozialen Europa“ umfasst folgende Elemente:

Die ESSR wurde erstmalig am 8. März 2016 von der Europäischen Kommission vorgestellt. Zunächst hatten Mitgliedstaaten, Behörden, Sozialpartner und BürgerInnen im Rahmen eines großangelegten Konsultationsprozesses die Möglichkeit, eine Stellungnahme zum ersten ESSR-Entwurf abzugeben. Etwa 1.000 Online-Antworten und 200 Positionspapiere gingen daraufhin bei der Kommission ein.

Die ESSR ist eine Charta sozialer Grundrechte, formuliert in 20 Prinzipien, welche von (Weiter-)Bildung über Renten und Pension bis hin zur Kinderbetreuung und Wohnraum reichen (eine ausführlichere Darstellung des ESSR-Entwurfs finden Sie hier). Die formulierten Grundrechte sind gleichzeitig Zielwerte bzw. Benchmarks: Langfristig sollen alle an dem Projekt teilnehmenden Mitgliedstaaten ihren Bürgern diese Rechte ermöglichen.

Die parallel zur ESSR vorgestellten Begleitinitiativen sind erste Maßnahmen zur Umsetzung der sozialen Grundrechte. Konkret wird die Kommission dabei lediglich beim Thema „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“. Durch einen Richtlinienvorschlag soll der Zugang zu Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben, wie Elternzeit/-urlaub und flexiblen Arbeitsregelungen, verbessert und die Inanspruchnahme von familienbezogenen Beurlaubungen und flexiblen Arbeitsregelungen durch Männer erhöht werden.

Bereits am 1. März 2017 hatte die Europäische Kommission in ihrem „Weißbuch zur Zukunft Europas“ angekündigt, insgesamt fünf, den Weißbuchprozess begleitende „Reflexionspapiere“ zu veröffentlichen. Das im Rahmen der ESSR veröffentliche Reflexionspapier „zur sozialen Dimension Europas“ ist das Erste aus dieser Reihe. Wie schon im Weißbuch präsentiert die Kommission verschiedene Szenarien für die Zukunft, in diesem Fall der sozialen Dimension Europas. Dabei überträgt sie drei der fünf Szenarien aus dem Weißbuch auf den sozialen Bereich.

Das erste Sozialszenario „Begrenzung der „sozialen Dimension“ auf den freien Personenverkehr“ entspricht dem Weißbuchszenario 2 „Schwerpunkt Binnenmarkt“. In diesem Szenario würde sich die EU ausschließlich auf Vorschriften zur Förderung des grenzüberschreitenden Personenverkehrs beschränken. Szenario 2 „Wer mehr im sozialen Bereich tun will, tut mehr“ (vgl. Weißbuchszenario 3 „Wer mehr will, tut mehr“) beschreibt eine Vertiefung der sozialen Dimension in den Staaten der Eurozone sowie gegebenenfalls in einigen anderen EU-Mitgliedsstaaten.

Im letzten Szenario „Die EU-27 vertiefen die soziale Dimension Europas gemeinsam“ (vgl. Weißbuchszenario 5 „Viel mehr gemeinsam handeln“) würde die europäische Rechtsetzung nicht nur Mindeststandards in der EU-27 setzen, sondern in einigen Bereichen auch eine vollständige Harmonisierung von Vorschriften anstreben. Nicht aus dem Weißbuch übernommen wurden die Szenarien 1 „Weiter wie bisher“ und 4 „Weniger aber effizienter“.

ESSR: Hohe Erwartungen und große Enttäuschung

Vor allem die Sozialverbände und Gewerkschaften hatten hohe Erwartungen an die Vorstellung der ESSR. Bereits den ersten ESSR-Entwurf hatten sie als nicht weitgehend genug kritisiert und konkrete Initiativen zur Umsetzung der ESSR-Grundrechte gefordert. Dementsprechend wurden sie nun enttäuscht. So bezeichnete der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes Reiner Hoffmann die Ergebnisse als „unzureichend und enttäuschend“. Die EU-Kommission habe „ihre Chance für mehr Glaubwürdigkeit regelrecht verspielt“.

Der überarbeitete ESSR-Entwurf fällt deutlich zurückhaltender aus als die ursprüngliche Version aus dem März 2016

Tatsächlich fällt der überarbeitete ESSR-Entwurf deutlich zurückhaltender aus als die ursprüngliche Version aus dem März 2016. Im Themenbereich „Gesundheitsversorgung“ etwa ist das Recht auf bezahlten Urlaub im Krankheitsfall im neuen Entwurf nicht mehr enthalten. Weitere Beispiele ähnlicher Art lassen sich problemlos finden. Darüber hinaus ist der Politikbereich „Integrierte soziale Leistungen und Dienste“ ersatzlos weggefallen. Auch die vorgestellten Begleitvorschläge liegen in Anzahl und Tragweite weit hinter den Erwartungen zurück. Der Rechtsvorschlag zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist da nur ein schwacher Trost.

Die Kunst des Machbaren

Auch wenn die Enttäuschung inhaltlich durchaus nachvollziehbar ist – man sollte nicht vergessen, dass die EU-Kommission auch darauf achten muss, die politischen Rahmenbedingungen und Stimmungen zu berücksichtigen. Besonders vor der Stichwahl in Frankreich und dem anstehenden Wahlkampf in Deutschland besteht die Gefahr, dass Eurokritiker Vorstöße aus Brüssel dazu benutzen, um die „Regulierungswut Brüssels“ anzuprangern und damit einen antieuropäischen Wahlkampf zu betreiben.

Die Kommission verfolgt einen Plan: Sie lässt die Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament über den ESSR-Vorschlag beraten und ihn am Ende der Beratungen in Form einer interinstitutionellen, nicht rechtlich bindenden Proklamation verabschieden. Auf Grundlage der Proklamation, so jedenfalls der Plan, wird sie die unterzeichnenden Staaten dann bei der Umsetzung der in der ESSR definierten Grundrechte unterstützen. Ein ebenfalls gerade vorgestelltes „sozialpolitisches Scoreboard“ soll den Fortschritt der Umsetzung anhand diverser Indikatoren überwachen.

Dabei ist die Kommission sich jedoch eigentlich selbst einen Schritt voraus. Mit dem am 1. März 2017 angestoßenen Weißbuchprozess und mit dem nun vorgestellten Reflexionspapier zur sozialen Dimension der EU wollte die Kommission zunächst ja eigentlich herausfinden, ob die Mitgliedstaaten überhaupt mehr Initiativen auf europäischer Ebene wollen. Sollten sich die Mitgliedstaaten am Ende dafür entscheiden, die soziale Dimension der EU auf den freien Personenverkehr zu beschränken (Sozialszenario 1 – Reflexionspapier), dann müsste die Kommission ihren ESSR-Vorschlag konsequenterweise wieder zurückziehen.

In der Debatte um die Zukunft der sozialen Dimension Europas gibt die ESSR Aufschluss darüber, welches Szenario die Kommission präferiert. Die ESSR soll zunächst nur für die Eurostaaten gelten, andere EU-Staaten können sich freiwillig anschließen. Dieser Ansatz entspricht dem Sozialszenario 2 des Reflexionspapiers („Wer mehr im sozialen Bereich tun will, tut mehr“).

Auch die Staats- und Regierungschefs der EU-27 hatte sich in der Erklärung von Rom für die Möglichkeit eines Europas der mehreren Geschwindigkeiten ausgesprochen. Die Bundesregierung hatte sich zu der Frage, ob die Vertiefung der sozialen Dimension Europas von allen Mitgliedstaaten gemeinsam oder nur von einer Gruppe von Mitgliedstaaten angestrebt werden soll, in ihrer Stellungnahme zum ersten Entwurf der ESSR vorsichtig positioniert. Sie begrüßte zwar den Ansatz, die ESSR zunächst nur auf die Eurozone anzuwenden und eine freiwillige Teilnahme der restlichen EU-Mitglieder vorzusehen, jedoch betonte sie gleichzeitig, dass ein Europa der zwei Geschwindigkeiten in der europäischen Sozialpolitik vermieden werden müsse.

Soziale Grundrechte für alle, stärkere (soziale) Konvergenz für die Eurozone

Es ist grundsätzlich nicht falsch, die ESSR vor allem für die Staaten der Eurozone voranzutreiben – in einer Währungsunion besteht eine spezielle Notwendigkeit zur Konvergenz der einzelnen nationalen Sozialsysteme und Arbeitsmärkte. Eine gemeinsame Geldpolitik etwa kann nur dann effektiv sein, wenn die Mitgliedstaaten ähnliche Inflationsraten haben.

Der Weg zu einer Annäherung der einzelnen Volkswirtschaften führt an einer Konvergenz im Bereich der Sozial- und Beschäftigungspolitik nicht vorbei. Die anhaltende Arbeitslosigkeit in den südlichen Eurostaaten ist  u.a. auch dadurch begründet, dass sich etwa die Leistungsfähigkeit der nationalen Arbeitsagenturen, aktive und passive Arbeitslosenleistungen und Ausbildungssysteme innerhalb der Eurozone massiv unterscheiden. Darüber hinaus besteht dringender Handlungsbedarf, weil sich die Mitgliedstaaten der Eurozone in sozialer Hinsicht seit der Krise sogar weiter voneinander entfernt haben, wie die folgende Abbildung veranschaulicht:

Die Abbildung zeigt die Konvergenz bzw. Divergenz im Euroraum im Hinblick auf den Anteil der von Armut und sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen an der Gesamtbevölkerung. Konvergenz wird als invertierte Standardabweichung dargestellt. Ein Wert von 100 bedeutet vollständige Konvergenz (gleiche Werte). Die Methodik folgt auf dem Brinke, Enderlein und Fritz-Vannahme (2015), S.12. Betrachtet wurden die 12 Länder, die seit 2005 Mitglied des Euroraums sind (Belgien, Deutschland, Irland, Griechenland, Spanien, Frankreich, Italien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Portugal, Finnland). Quellen: Eurostat, eigene Berechnungen

Und trotzdem: Es ist nicht vermittelbar, wieso grundlegende soziale Rechte, etwa hohe Arbeitsschutzstandards, nur für Menschen gelten sollen, die in der Eurozone leben. Die EU ist eben auch ein Versprechen hoher allgemeiner Lebensstandards. Außerdem gilt z.B. im Fall des Arbeitsschutzes das Argument, dass gleiche Standards in allen Mitgliedstaaten zu einer besseren Funktionsweise der Wirtschafts- und Währungsunion führen würden, nur begrenzt. Eine Harmonisierung von Arbeitsschutzstandards trägt nicht in gleichem Maße zur volkswirtschaftlichen Konvergenz bei, wie es etwa gut funktionierende Aus- und Weiterbildungssysteme tun würden.

Fazit

Auf dem EU-Jubiläumsgipfel in Rom hatten sich 27 Staats- und Regierungschefs dazu bekannt, sich für ein soziales Europa einzusetzen und widmeten dem Thema immerhin einen von vier Abschnitten der Abschlusserklärung. Die Erklärung dürfte jedoch weniger als ein Arbeitsauftrag an die EU-Kommission gemeint gewesen sei, sondern ein Versprechen, sich auf nationaler Ebene für dieses Ziel einzusetzen. Es herrscht also Einigkeit darüber, dass Europa sozialer werden soll. Über die Frage aber, welche Rolle den europäischen Institutionen dabei zukommen soll, gibt es bisher keine Klarheit.

Mit dem Weißbuchbuchprozess und dem Reflexionspapier zur sozialen Dimension Europas spielt die Europäische Kommission den Ball nun an die Mitgliedstaaten zurück. Diese sind dazu aufgerufen, sich zu einem oder einer Mischung aus mehreren der Zukunftsszenarios zu bekennen und der Kommission so indirekt einen Arbeitsauftrag zu erteilen.

Die ESSR legt den Grundstein für den wahrscheinlichen Fall, dass sich die Mitgliedstaaten nicht für eine generelle Aufhebung der Sozialgesetzgebung auf EU-Ebene entscheiden. Die Frage bleibt jedoch, wie viel „soziales Europa“ es braucht und ob die EU-Staaten in verschiedenen Geschwindigkeiten voranschreiten sollten.

Zu hoffen ist, dass die Mitgliedstaaten und das europäische Parlament sich auf eine starke ESSR einigen. Der aktuelle Entwurf sollte nicht weiter abgeschwächt werden. Danach kann die Europäische Kommission in den Bereichen, in denen die EU keine Rechtssetzungskompetenzen hat, und das sind eine ganze Menge, die Mitgliedstaaten dabei unterstützen, sich auf konkrete Maßnahmen zu verständigen.

Der große sozialpolitische Wurf ist der Europäischen Kommission mit dem „Sozialpaket“ vom 26. April sicherlich nicht gelungen. Jedoch sollte man bei der Bewertung auch berücksichtigen, unter welchen Umständen das Paket entwickelt wurde – denn immer noch herrscht zwischen und sogar innerhalb der nationalen Regierungen zu viel Uneinigkeit darüber, ob die Lösungen für die sozialen Probleme in Europa von europäischer oder nationaler Ebene kommen sollen.

Auf nationaler Ebene gibt es teils erhebliche Unstimmigkeiten innerhalb der jeweiligen Regierungen. So sind sich bekanntermaßen beispielsweise in Deutschland SPD- und CDU/CSU-geführte Ministerien uneins, welches Maß an europäischer Sozialpolitik das Richtige ist. Auf europäischer Ebene gibt es erhebliche Meinungsverschiedenheiten zwischen den süd- und osteuropäischen Regierungen. Diesen Konflikten musste die EU-Kommission mit ihrem abgemilderten Vorschlag Rechnung tragen. Nicht unerwähnt bleiben sollte zudem, dass es auch in der Kommission selbst unterschiedliche Auffassungen zur ESSR gibt.

Eine rasche Vertiefung der sozialen Dimension Europas ist vorerst nicht zu erwarten

Somit ist eine rasche Vertiefung der sozialen Dimension Europas vorerst nicht zu erwarten. Weitaus wahrscheinlicher ist es, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten nach bewährtem Schema vorgehen werden: Warten bis es fast zu spät ist, um sich dann auf eine zweitbeste Lösung zu verständigen. Für das von Jean-Claude Juncker angestrebte „soziale Triple-A-Rating“ wird das nicht reichen, aber es könnte immerhin genug sein, um zumindest für die soziale Lage der Menschen in einigen EU-Staaten ein Upgrade aus dem Junk-Status zu bewirken.

 

Zum Autor:

Lukas Nüse ist Student an der Hertie School of Governance in Berlin und hat zuvor Volkswirtschaftslehre an der Universität Bonn studiert. Außerdem hat er u.a. bei der Bertelsmann-Stiftung in Brüssel sowie im Bundesfinanzministerium gearbeitet. Derzeit ist er im Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) tätig. Dieser Artikel gibt ausschließlich die Sichtweise des Autors wider und nicht die des BMAS. Auf Twitter: @LukNse