2011 hat Colin Crouch ein vielbeachtetes Buch mit dem Titel Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus veröffentlicht. Darin diskutiert der britische Politikwissenschaftler, wie es dem Neoliberalismus gelungen ist, dem Tod durch seine scheinbare Nemesis – die globale Finanz- und Wirtschaftskrise – zu entgehen. Der Titel kam mir wieder in den Sinn, als ich kürzlich ein paar Arbeiten prominenter Kommentatoren zur politischen Ökonomie des modernen Kapitalismus im Allgemeinen und speziell zur Europäischen Union gelesen hatte. Es scheint so, als wenn wir (zumindest in der EU) gerade Zeugen des befremdlichen Überlebens der Staatsausgaben werden.
Lassen Sie mich zwei Beispiele für Sichtweisen geben, die viele Leser wahrscheinlich für selbstverständlich halten. In Le Monde Diplomatique hat der bekannte Historiker und Politökonom Perry Anderson kürzlich eine Analyse über die treibenden Kräfte veröffentlicht, die hinter populistischen und Protestbewegungen stehen. Dort schreibt er:
„Mit jedem weiteren Schritt – von der Wirtschafts- und Währungsunion 1990 über den Stabilitätspakt 1997 bis zur Binnenmarktakte 2011 – wurden die Befugnisse der nationalen Parlamente an eine supranationale Bürokratie übertragen, die vom Willen der Wähler abgekoppelt ist – so wie es sich der neoliberale Vordenker Friedrich von Hayek vorgestellt und gewünscht hatte. Mit diesem Mechanismus konnte dem hilflosen Wähler eine drakonische Sparpolitik aufgezwungen werden, gemeinsam durchgesetzt von der EU-Kommission und dem wiedervereinigten Deutschland, das heute der mächtigste Staat der EU ist.“
Auch der deutsche Wirtschaftssoziologe Wolfgang Streeck hatte zuletzt mit einer ähnlichen Argumentation eine erhöhte Medienpräsenz. Wie Streeck in mehreren pessimistischen Büchern und kürzen Publikationen schreibt, wird die Demokratie geschwächt und – insbesondere in der EU – dazu genötigt, eine neoliberale Agenda zu verfolgen, die den Staat zurückdrängt und seine Fähigkeit beschränkt, die Ergebnisse von Marktprozessen im Interesse der Arbeitnehmer zu korrigieren. So schreibt Streeck über den “Aufstieg des europäischen Konsolidierungsstaates“ (eigene Übersetzung):
„Ein etablierter Konsolidierungsstaat ist ein Staat, dem es gelungen ist, ein politisches Commitment zu institutionalisieren und eine politische Kapazität zu schaffen, seine Schulden immer zu bedienen, der eine kompromisslose Entschlossenheit an den Tag legt, die Verpflichtungen gegenüber seinen Schuldnern vor alle anderen Verpflichtungen zu stellen. Er beinhaltet eine Grundausrichtung der politischen Kräfte, die eine Ausweitung der Ausgaben schwierig macht, während Ausgabenkürzungen, außer beim Schuldendienst, leicht werden.“
In einem Interview zum Thema Konsolidierungsstaat schreibt Streeck:
„Die Wahrheit ist natürlich, dass nicht die politische Autonomie das Ziel der Konsolidierung ist, sondern die Verkleinerung des öffentlichen Sektors, eingehergehend mit einer umfangreichen Privatisierung der Sozialversicherung und des öffentlichen Dienstes, sogar inklusive des Militärs. Je kleiner der öffentliche Sektor ist, desto sicherer können sich Finanzinvestoren sein, dass ihr Kapital zurückgezahlt und profitabel sein wird. Typischerweise gehen Ausgabenkürzungen mit Steuersenkungen für Unternehmen und die Reichen einher, was das Defizit wieder erhöht und weitere Ausgabenkürzungen erfordert.“
Ähnlich wie Anderson argumentiert auch Streeck, dass die Dinge in der EU (oder in der Eurozone) noch schlimmer als anderswo seien:
„Das gilt insbesondere für Europa, wo die Konsolidierung mit einer beispiellosen Ausweitung der Macht der politischen Herrschaft unter der Europäischen Währungsunion und einer Transformation letzterer in ein asymmetrisches fiskalisches Stabilisierungsregime zusammentrifft.“
Was sagen die Zahlen?
Anderson und Streeck besitzen beneidenswerte rhetorische Fähigkeiten und gehen eine große thematische Bandbreite auf intellektuell kohärente Weise an. Das sollte beide aber nicht von der Verpflichtung befreien, ihre Theorien und Argumente mit den Fakten in Einklang zu bringen. Ich bin mir sicher, dass beide das auch so sehen.
Der Neoliberalismus ist ein breites Konzept (bis hin gar zur Nutzlosigkeit), das nicht leicht zu greifen und daher ziemlich schwer zu bewerten ist. Allerdings stellen die oben erwähnten Zitate eine Beziehung zu Austerität und Konsolidierung her, sowohl im Allgemeinen, als auch hinsichtlich der Interessen, denen vermeintlich durch die Struktur der Staatsausgaben gedient wird. Die Aussagen liefern also Hypothesen, die man testen kann.
Und was sagen die Fakten? In der AMECO-Datenbank der Europäischen Kommission gibt es konsistente und vergleichbare Zeitreihen zur Entwicklung der Staatsausgaben, die bis ins Jahr 1995 zurückreichen (für manche Länder gibt es auch weiter zurückgehende Datenreihen, die allerdings unterschiedliche Definitionen verwenden und nicht als europäische Aggregate verfügbar sind). Sie liefern uns einen Überblick über die Entwicklung der Staatsausgaben und wie sich diese unter dem regressiven Einfluss der Währungsunion, des Stabilitätspakts und durch die „Übertragung“ (Anderson) der Macht von den nationalen parlamentarischen Demokratien an die europäischen Institutionen während des letzten Vierteljahrhunderts verändert haben.
Beginnen wir mit der Entwicklung der gesamten Staatsausgaben, gemessen als Anteil am Bruttoinlandsprodukt:
Wir sehen jede Menge Zyklizität: Während des Booms der späten 90er Jahre geht die Größe des Staates zurück – eine Entwicklung, die in der Großen Rezession von 2008/09 praktisch komplett rückgängig gemacht wurde. Seitdem geht der Staatsanteil langsam und in geringem Maße (Skalierung berücksichtigen!) zurück. Für die gesamte EU ist der Anteil am BIP seit dem Beginn der Zeitreihe im Jahr 2001 leicht gestiegen.
Als erstes Zwischenfazit könnte man also festhalten, dass die neoliberale Attacke und die Aussetzung der Demokratie während des letzten Vierteljahrhunderts so gut wie keinen Effekt auf die Größe des Staatssektors in Relation zur Wirtschaftsleistung gehabt haben. Entweder hat die Strategie, den Staat zu schrumpfen, nicht funktioniert – oder aber es hat sie überhaupt nie gegeben.
Wie steht es um den Vorwurf, dass der Sozialstaat Marktprozesse nicht mehr korrigieren würde? In der AMECO-Datenbank gibt es dazu zwei Zeitreihen (Sozialtransfers ohne und mit Sachleistungen), die ich im folgenden Chart stellvertretend für die Sozialausgaben zusammengefasst habe:
Wir sehen, dass die Sozialausgaben von Mitte der 90er Jahre bis zum Beginn der Großen Rezession, von leichten zyklischen Ausnahmen abgesehen, in der Eurozone bei ziemlich konstant 27 bis 28% des BIP und in der gesamten EU etwa um 1 Prozentpunkt niedriger lagen. Durch die Große Rezession stiegen sie dann deutlich an.
Auf den ersten Blick steht dies im Widerspruch zum Verständnis einer drakonischen Austerität, die die Arbeitnehmerrechte oder Umverteilungsziele abschwächte. Allerdings reflektiert der Anstieg der Sozialausgaben das Greifen der sogenannten „automatischen Stabilisatoren“: eine höhere Arbeitslosigkeit bedeutet höhere Staatsausgaben (z. B. für Arbeitslosengeld). Jedoch muss man auch registrieren, dass dieser sprunghafte Anstieg der Sozialausgaben von dauerhafter Natur zu sein scheint – seit 2009 ist der Anteil der Sozialausgaben am BIP nicht zurückgegangen, sondern schwankt in der Eurozone etwa um 30%, was um 2,5 Prozentpunkte höher ist als vor der Krise. Für die EU als Ganzes gilt das gleiche, wenn auch auf einem etwas niedrigeren Niveau.
Und was ist mit der Idee, dass die Demokratie unterdrückt wurde und ein finanzialisierter Neoliberalismus die Regierungen dazu gezwungen hat, kostbare Ressourcen ins Maul des Finanzmarktungeheuers umzuleiten? Um diese Frage exakt zu beantworten, müsste man wohl tiefer in die detaillierten und nicht-aggregierten Zahlen einsteigen. Aber auch eine simple Berechnung auf Basis der AMECO-Daten kann uns darauf eine erste Antwort geben. Der folgende Chart zeigt, wie sich die Zinszahlungen der öffentlichen Hand als Anteil am BIP entwickelt haben:
Wie der Chart zeigt, ist der Anteil der Zinszahlungen im Verhältnis zum BIP während der neoliberalen Epoche konstant rückläufig gewesen, trotz der gestiegenen Staatsschulden, die Wolfgang Streeck als Vorboten eines Desasters ansieht. Der Zinsanteil hat sich seit Mitte der 90er Jahre mehr als halbiert. Dies ist auf den Rückgang der Zinsen zurückzuführen. Wenn das Finanzkapital also das Ziel hat, den Staat zu plündern, dann macht es keinen besonders guten Job, jedenfalls nicht hinsichtlich der Zinszahlungen.
Ist es in der EU schlimmer als anderswo?
Erinnern wir uns noch einmal: Die Hypothese lautete, dass es in der EU und vor allem in der Eurozone eine besonders regressive und aggressive Form des Neoliberalismus und der Konsolidierung gegeben hat, die auf die Maastricht-Regeln und andere technokratische Prozesse zurückzuführen ist, die die nationalen Parlamente entmachtet haben. Es wäre also zu erwarten, dass die Zahlen für die EU bzw. für die Eurostaaten einen schlimmeren Trend als in Ländern außerhalb der EU zeigen müssten.
Vergleiche mit Ländern außerhalb der EU sollten mit Vorsicht behandelt werden, aber AMECO liefert auch (prinzipiell vergleichbare) Daten zur Entwicklung der Staatsausgaben für die USA, Kanada, Norwegen und die Schweiz, die der folgende Chart zeigt:
Wie wir bereits gesehen haben, ist der Anteil der Staatsausgaben am BIP in der Eurozone keinesfalls erodiert. Dieser Chart zeigt nun, dass die Eurozone von allen berücksichtigten Staaten die höchste Staatsquote hatte – von ein paar wenigen Jahren abgesehen gilt dies selbst im Vergleich mit dem vom Ölreichtum gesegneten, sozialdemokratischen Norwegen. Der Vorsprung auf die Schweiz oder Kanada ist nicht kleiner geworden (leider geht die Kanada-Datenreihe nur bis 2010), trotz des angeblich so bösartigen Einflusses des Euro-Regimes. Der Abstand zu den USA, wo die Staatsausgaben tendenziell gestiegen sind, ist etwas kleiner geworden, liegt aber immer noch bei sage und schreibe 10 Prozentpunkten des BIP.
Die E(W)U: undemokratisch und neoliberal?
Während meiner Karriere habe ich sowohl von Perry Anderson als auch von Wolfgang Streeck sehr viel gelernt, und nach wie vor finde ich Teile ihrer Analysen spannend und überzeugend. Und natürlich sollte und könnte man eine Vielzahl von anderen Indikatoren analysieren, um diese Themen vollständiger auszuleuchten. In der Tat gibt jede es Menge Gründe, sich beispielsweise um verteilungspolitische Entwicklungen Sorgen zu machen.
Dennoch komme ich um die Feststellung nicht umhin, dass ihre lautstarken Behauptungen, die meiner Meinung nach auch in der akademischen Welt vertreten und immer wieder großen Widerhall in öffentlichen Debatten finden, in einigen wichtigen Punkten im Widerspruch zu den Fakten stehen. Der Neoliberalismus, was auch immer man unter dem Begriff verstehen mag, dürfte tatsächlich einen schädlichen Einfluss gehabt haben – aber dieser Einfluss zeigt sich nicht in der Entwicklung der europäischen Staatsausgaben, obwohl diese These in den Argumentationslinien von Streeck und anderen eine wichtige Rolle spielt.
Ich möchte deutlich betonen, dass diese Kritik nicht als pauschale Verteidigung der Politik der EU oder der Eurozone verstanden werden sollte. Seit Beginn der Rezession gab es – von anfänglichen Versuchen der haushaltspolitischen Stabilisierung abgesehen – eine Austeritätspolitik. In manchen Ländern war die Austerität – oder genauer gesagt: die prozyklische fiskalische Konsolidierung – sehr heftig und extrem schädlich. Meine IMK-Kollegen und ich haben darauf auch immer wieder hingewiesen.
Aber dabei reden wir über eine spezifische Periode, und nicht über eine neoliberale Ära. Und auch mit Blick auf diese spezifische Periode müssen die Argumente von Kommentatoren wie Anderson oder Streeck hinterfragt werden, allerdings in einem anderen Sinne: hinsichtlich des Prozesses und nicht des Ergebnisses. Zur Wahrheit gehört nämlich auch, dass in Europa eine Vielzahl von bedauerlichen ökonomischen Entscheidungen von demokratisch gewählten nationalen Regierungen getroffen worden sind, die manchmal kollektiv gehandelt haben, und manchmal im Alleingang: somit hat genau jene Institution die Wähler – angeblich gegen ihren Willen – mit einer neoliberalen Politik überzogen, die uns eigentlich vor den gesichtslosen und nicht gewählten Büro- und Eurokraten hätte schützen sollen.
Ich möchte dieses Argument nicht vollständig durchdeklinieren, ein paar Beispiele sollten an dieser Stelle reichen: Die Austerität in Großbritannien wurde von einer gewählten rechten Regierung gemacht. Die europäischen Fiskalregeln zwingen Deutschland nicht dazu, eine Politik der Schwarzen Null zu betreiben oder die öffentlichen Investitionen so niedrig zu halten, dass sie nicht einmal den Kapitalstock erhalten – das ist zwar eine schlechte, aber doch eine demokratisch legitimierte Entscheidung der deutschen Regierung. Und die selbe Regierung – und nicht die Technokraten in Brüssel oder Frankfurt – blockiert Eurobonds oder die Vollendung der Bankenunion.
Der Fiskalpakt war ein intergovernmentales Abkommen zwischen nationalen Regierungen. Es ist vor allem die Eurogruppe, sprich die von Wolfgang Schäuble angeführten Finanzminister der gewählten Regierungen der Eurostaaten, die die harten (und kontraproduktiven) Forderungen gegenüber Griechenland vorantreiben. Andererseits war es die EU-Kommission, die (wenn auch verspätet) von Deutschland eine expansivere Fiskalpolitik verlangt und den viel zu großen deutschen Leistungsbilanzüberschuss kritisiert.
All diese Ergebnisse kann man inhaltlich kritisieren. Allerdings ist es alles andere als bewiesen, dass das Problem eine neoliberale Technokratie wäre, die gegenüber demokratisch rechenschaftspflichtigen Regierungen die Oberhand gewonnen hätte – vielmehr könnte man sogar argumentieren, dass mehr Supranationalität auf vielen Gebieten zu einer besseren Politik geführt hätte.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir sowohl für die Analyse einzelner Politiken, wie auch für die des gesamten politischen Systems der EU einen differenzierteren Ansatz brauchen. Es werden in Politik wie Forschung Fehler gemacht werden, wenn wir uns von intellektuellen Gedankengebäuden leiten lassen, deren empirische Basis wacklig ist.
Zum Autor:
Andrew Watt ist Abteilungsleiter des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung. Außerdem betreibt Watt den Blog €-Vision, wo dieser Beitrag zuerst in englischer Sprache erschienen ist.