Grexit

Was uns Verschwörungstheorien über die Politik in Griechenland erzählen können

Gesellschaften mit einer geringen sozialen Kohäsion und hoher Ungleichheit tendieren eher dazu, an Verschwörungstheorien zu glauben. Griechenland passt perfekt in diese Kategorie – und in den letzten Wochen hat im Land erneut eine Verschwörungstheorie die Runde gemacht.

Gewitter über Athen: Haben in Griechenland dunkle Mächte ihre Hand im Spiel? Foto: Pixabay

Vor einigen Wochen habe ich an einem Gespräch zu Verschwörungstheorien teilgenommen. Hugo Drochon, Post-Doc beim Conspiracy and DemocracyProjekt der Universität von Cambridge, präsentierte die Ergebnisse einer YouGov-Umfrage. Dabei ging es darum, in welchem Ausmaß Menschen verschwörungstheoretischen Überzeugen anhängen. Die Ergebnisse zeigten, dass Verschwörungstheorien Anhänger überall in der Gesellschaft haben, unabhängig vom Bildungsgrad, dem Geschlecht, dem Alter und dem Einkommen – allerdings tendieren Gesellschaften mit einer geringen sozialen Kohäsion und höherer ökonomischer Ungleichheit eher dazu, an Verschwörungstheorien zu glauben.

Griechenland passt perfekt in diese Kategorie. Die ökonomische Ungleichheit ist während der vielen Jahre der Rezession seit 2009 gestiegen und spiegelt sich in hohen Arbeitslosenquoten wider. Gleichzeitig hat sich die griechische Gesellschaft stärker polarisiert, wie etwa das Referendum von 2015 zeigte. Und tatsächlich hat eine 2014 von der University of Macedonia durchgeführte Umfrage die Hypothese für Griechenland bestätigt: Demnach glaubten 68,7% der Griechen, dass die 9/11-Anschläge von der US-Regierung aus außenpolitischen Grünen organisiert und – was für Griechenlands missliche Lage am relevantesten ist – dass die Griechenland-Krise von ausländischen Mächten inszeniert worden war.

Will die Syriza-Regierung eine erneute Grexit-Diskussion auslösen?

Und in den letzten Wochen hat eine andere Art von Verschwörungstheorie im Land die Runde gemacht. Die Geschichte geht wie folgt: Die von Syriza angeführte Regierungskoalition hat absichtlich die Umsetzung des im Sommer 2015 mit ihren Gläubigern getroffenen Abkommens sabotiert. Anstatt die vereinbarten Reformen umzusetzen, wurde der Regierung vorgeworfen, sie habe die Beine hochgelegt und die Wirtschaft abschmieren lassen, um eine erneute Diskussion über einen potenziellen Grexit auszulösen.

Laut der Theorie besteht das Ziel dieser Strategie darin, die Stimmung im Land gegen die Mitgliedschaft in der Eurozone zu wenden. Manche glauben, dass Syriza schon immer die Rückkehr Griechenlands zur eigenen Währung wollte, um das Land von der Aufsicht der EU und des IWF zu befreien, die Griechenland dazu gedrängt haben, neben wirtschaftlichen Reformen auch Austeritätsmaßnahmen zu ergreifen, die den Privatsektor anstatt der staatlich getriebenen Wirtschaft förderten.

Das sind alles Dinge, von denen Syriza tatsächlich nicht begeistert ist – manche meinen sogar, die Partei sei überhaupt kein großer Freund der liberalen repräsentativen Demokratien des Westens, von einem liberalen Wirtschaftssystem ganz zu schweigen. Eine Rückkehr zur Drachme würde also nicht nur einen Währungswechsel bedeuten, sondern auch einen Wechsel des politischen Systems.

Das Szenario klingt weit hergeholt, sogar beklemmend. Aber es soll erklären, in was für einer Zwickmühle Griechenland derzeit steckt: Ohne eine Übereinkunft mit den Gläubigern hinsichtlich der Bewertung der Haushaltsmaßnahmen, die eigentlich schon am 20. Februar erreicht werden sollte, wird Griechenland im Sommer wieder vor dem Staatsbankrott stehen. Die Regierung hat inzwischen zugestimmt, weitere Maßnahmen durch das Parlament zu bringen, und die Verhandlungen mit den Gläubigern werden weitergehen – aber das ist keine Garantie, dass es bis zum Sommer tatsächlich zu einem Deal kommt.

Das Szenario bietet auch eine potenzielle Exit-Strategie für Ministerpräsident Alexis Tsipras, der in der Klemme steckt: Tsipras´ Popularität ist in den letzten Monaten erheblich gesunken, und Syriza liegt in den Umfragen deutlich hinter der Oppositionspartei Nea Dimokratia. Einige Beobachter führen Tsipras´ Popularitätsverlust auf den Kompromiss von 2015 zurück, als er einem dritten Rettungspaket mit der EU zustimmte, anstatt die Konfrontationsstrategie, die ihn an die Macht gebracht hatte, bis zu ihrem logischen Schlusspunkt zu verfolgen: dem Grexit.

Verschwörungstheorien und Populismus

In den Diskussionen nach Drochons Vortrag zu den Verschwörungstheorien wurden zwei wichtige Punkte vorgebracht. Erstens: Verschwörungstheorien sind manchmal wahr. Und zweitens: Oftmals lassen sich Ereignisse realistischer dadurch erklären, dass die handelnden Personen schlicht und ergreifend inkompetent waren, und dem ganzen überhaupt kein großer Plan zugrunde lag. Im Englischen nennt man diese Theorien „cock-up theories“, was sich am ehesten als „Mist gebaut“- oder „Pfusch“-Theorie übersetzen lässt.

Ich neige dazu, eher an die „cock-up“-Theorien zu glauben. Zunächst gibt einem die bloße Tatsache, dass Verschwörungen tatsächlich gelegentlich vorkommen, keine logische Grundlage um zu glauben, dass immer eine Verschwörung am Werk ist – das wäre lediglich ein Beispiel für faules, induktives Denken.

„Cock-up“-Theorien scheinen realistischer zu sein. Sie nehmen zur Kenntnis, dass die Welt komplex ist und dass sehr häufig schwierige Entscheidungen getroffen werden müssen – und dass die Menschen die Kunst der Politik gewöhnlich nicht sonderlich gut beherrschen. Fehler sind in der Politik normal, entweder wegen eines Mangels an Expertise, ideologischen Blockaden oder weil Politiker zu sehr damit beschäftigt sind, sich um ihre Popularität zu sorgen als um die Lösung von Problemen. Andererseits bieten Verschwörungstheorien einfache Erklärungen für Ereignisse, die viele nicht zusammenhängende Elemente zu einem einzigen Narrativ verbinden, während die Komplexität dieser Ereignisse und die menschliche Fehlbarkeit ignoriert werden.

Aber was bringt die Menschen dazu, an Verschwörungstheorien zu glauben? Die Antwort liegt in einem grundsätzlichen Mangel an Vertrauen. Verschwörungstheorien sind stärker verbreitet in Gesellschaften mit niedrigen Niveaus von sozialer Kohäsion, was in Verbindung zu einem niedrigeren Niveau von Vertrauen steht. Das bedeutet, dass die Menschen sowohl politischen Machthabern als auch Journalisten skeptischer gegenüberstehen. Niemand kann jemals vollkommen sicher sein, dass nicht gerade eine Verschwörung stattfindet – man muss den Menschen in der Regierung schon vertrauen, dass sie ihren Job machen, und dass die Medien sie zur Rechenschaft ziehen, und wir somit erfahren, wenn etwas Unerwünschtes vor sich geht. Ohne diese Sicherheit und ohne dieses Vertrauen können Bürger schnell eine extreme Form des Skeptizismus unterstützen, die sich wiederum für Verschwörungstheorien eignet.

Es war diese Art des extremen Skeptizismus, die Descartes dazu brachte, selbst die banalste Tatsache in Frage zu stellen: dass eine externe Realität existiert. Nachdem er entdeckte, dass viele der Dinge, die er einst für wahr hielt, sich als falsch herausgestellt hatten, vertraute Descartes keiner Quelle mehr, die ihn in der Vergangenheit hinters Licht geführt hatte. Dazu zählten sogar seine eigenen Sinne, und er zweifelte alles an, dessen er sich nicht zu 100% sicher sein konnte.

Wir können uns nie zu 100% sicher sein, dass nicht noch eine Verschwörung stattfindet –  aber das reicht nicht aus um zu glauben, dass tatsächlich eine stattfindet

Aber das ist der Weg in den Wahnsinn. Die amerikanischen Pragmatiker des 20. Jahrhunderts argumentierten, dass diese Form des extremen Skeptizismus nicht die richtige Antwort darauf ist, wenn man herausfindet, dass die Dinge manchmal nicht das sind, was sie zu sein scheinen. Jeder Fall verdient seine eigene Aufmerksamkeit, und für jeden einzelnen Fall müssen wir gute Gründe haben, warum wir eine skeptische Position beziehen – oder, wie in unserem Fall, eine Verschwörungstheorie annehmen. Wir können uns nie zu 100% sicher sein, dass nicht noch eine Verschwörung stattfindet, aber das reicht nicht aus um zu glauben, dass tatsächlich eine stattfindet. Um das zu glauben, müssen positive Gründe angeboten werden.

Dennoch muss ich gestehen, dass ich auch manchmal der Versuchung erliege, mich zu fragen, ob in Griechenland nicht doch eine Verschwörung im Gange ist. Und ich denke, dass es dafür noch einen anderen Faktor gibt: die Tatsache, dass Griechenland eine populistische Regierung hat. Nach dem Brexit und der Wahl Trumps fallen die Logik und die Praktiken populistischer Politik immer mehr Leuten auf: die Erschaffung von Sündenböcken, das Spielen mit den Ängsten der Menschen, das Versprechen einfacher – aber unmöglicher – Lösungen, eine problematische Beziehung zu den Fakten, die Verunglimpfung der Presse und des Rechtssystems.

Griechenland hat damit jetzt bereits eine zweijährige Erfahrung, seit es im Januar 2015 erstmals für eine populistische Regierung gestimmt hat, als Syriza an die Macht kam. Wie es der Politikwissenschaftler Stathis Kalyvas von der Yale University ausdrückt: „Wenn wir eine populistische Regierung beurteilen, ist es immer schwer zu sagen, ob es sich um Inkompetenz oder um dunkle Pläne handelt.“

Populistische Kampagnen basieren auf einem Misstrauen gegenüber der „alten Politik“, „dem System“ und gegenüber elitären, nur sich selbst dienenden Institutionen. Aber das Ergebnis davon, dem Populismus in Aktion zuzuschauen, ist, dass man ein Misstrauen in die Politik und die Politiker entwickelt, das noch viel stärker ist als zuvor. So verschwimmen die Grenzen zwischen einer Verschwörung und einem Fall, wo einfach nur jemand Mist gebaut hat.

 

Zum Autor:

Alexis Papazoglou ist Dozent für Philosophie am Royal Holloway College der University of London.

Hinweis:

Die englische Originalfassung des Textes ist zuerst auf dem EUROPP-Blog der London School of Economics and Political Science (LSE) erschienen. Die Übersetzung erfolgte mit Genehmigung von EUROPP.