Ideengeschichte

Die destruktive Hand des Adam Smith

Mit seinem Konzept der „unsichtbaren Hand“ hat Adam Smith verdeutlicht, wie das menschliche Schwarmverhalten die Wirtschaft antreibt. Allerdings sah er nur die positive Seite – denn selbst wenn wir als Einzelpersonen nach einem besseren Leben streben, können unsere kollektiven Handlungen eine vernichtende Wirkung haben. Ein Beitrag von Frances Coppola.

Menschen sind eine ausschwärmende Spezies. Und Schwärme können gutartig sein – aber auch destruktiv. Foto: Pixabay

Adam Smith` „unsichtbare Hand“ ist vielleicht eines der am häufigsten missverstandenen Konzepte der Volkswirtschaftslehre. Es wird gewöhnlich wie folgt interpretiert: Wenn alle Individuen in ihrem Eigeninteresse handeln, ergänzen sich ihre Handlungen und schaffen so eine gut geordnete, gut funktionierende Gesellschaft, „als würden sie von einer unsichtbaren Hand geführt“.

Und fairerweise muss man zugeben, dass diese aus der Theorie der ethischen Gefühle stammende Aussage über die „unsichtbare Hand“ tatsächlich genau das zu bedeuten scheint:

„[Die Reichen] verzehren wenig mehr als die Armen; trotz ihrer natürlichen Selbstsucht und Raubgier … teilen sie doch mit den Armen den Ertrag aller Verbesserungen. Von einer unsichtbaren Hand werden sie dahin geführt, beinahe die gleiche Verteilung der zum Leben notwendigen Güter zu verwirklichen, die zustande gekommen wäre, wenn die Erde zu gleichen Teilen unter alle ihre Bewohner verteilt worden wäre: und so fördern sie, ohne es zu beabsichtigen, ja ohne es zu wissen, das Interesse der Gesellschaft und gewähren die Mittel zur Vermehrung der Gattung.“

Diese Behauptung hätte schon seit langem angegriffen werden sollen, und zwar wegen des Mangels an kontrafaktischer Evidenz – denn es handelt sich um eine Behauptung, und nicht um eine Tatsache. Dennoch, und trotz der offenkundigen Ungleichheiten, die unsere heutige Welt hat, könnte sie wahr sein.

Die Geschichte der Planwirtschaften des 20. Jahrhunderts ist tatsächlich nicht erfreulich: Die Versuche, die Verteilung von Ressourcen auszugleichen, hat zu Armut für (fast) alle geführt, und das natürliche menschliche Verlangen, Ressourcen für sich auf Kosten anderer zu beschlagnahmen, war unvermeidbar bei jenen am stärksten, denen vom Rest eigentlich aufgetragen worden war, eine gerechte Verteilung sicherzustellen.

Keine sozialistische Revolution hat es geschafft, durch die Vernichtung der Reichen die Lebensstandards aller zu heben – dafür haben die letzten 20 Jahre, in denen die „kommunistischen“ Staaten kapitalistische Praktiken übernahmen und die Zahl der Milliardäre in den sich entwickelnden Volkswirtschaften auf ein Allzeithoch gestiegen ist, die stärkste Verbesserung der Lebensstandards für die Weltbevölkerung seit Menschengedenken gebracht.

Das Problem mit Smith´ Aussage ist, dass sie den Eindruck vermittelt, dass eine gerechte Verteilung nicht nur möglich, sondern unvermeidlich ist. Die „unsichtbare Hand“ führt die menschliche Rasse immer näher an eine vollständige Verteilungsgleichheit heran. Marx wäre stolz auf ihn gewesen.

Aber ich denke nicht, dass Smith das damit gemeint hat. Ich denke, er meinte, dass die beste Verteilung der Ressourcen, die wir als Spezies haben können, erreicht ist, wenn jedes Individuum seine Eigeninteressen verfolgt. Eine ungleiche Ressourcenverteilung ist unvermeidlich, aber deswegen, weil es den Reichen nicht möglich ist, alles zu horten was sie haben. Schließlich bedeutet Horten den Tod, und daher profitieren die Armen vom Egoismus der Reichen. Das ist die Bedeutung des folgenden Absatzes, der aus dem Wohlstand der Nationen, Smith´ bekannterem Werk, stammt.

„Nicht von dem Wohlwollen des Fleischers, Brauers oder Metzgers erwarten wir unsere Mahlzeit, sondern von ihrer Bedachtnahme auf ihr eigenes Interesse. Wir wenden uns nicht an ihre Humanität, sondern an ihre Eigenliebe, und sprechen nie von unseren Bedürfnissen, sondern stets von ihren Vorteilen.“

Die Armen werden also nicht trotz, sondern wegen des Egoismus und der Gier der Reichen ernährt.

Aber das ist nur die halbe Geschichte. Hier kommt die zweite Hälfte, die ebenfalls aus dem Wohlstand der Nationen stammt:

„Allerdings beabsichtigt [jeder] in der Regel weder, das allgemeine Wohl zu fördern, noch weiß er, in welchem Maße er es befördert … er [hat] nur seine eigene Sicherheit vor Augen, und wenn er diesen Gewerbefleiß so lenkt, dass sein Produkt den größten Wert erhält, so bezweckt er lediglich seinen eigenen Gewinn, und wird in diesem wie in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, einen Zweck zu befördern, der ihm keineswegs vorschwebte.“

Smith´ „unsichtbare Hand“ wendet sich nicht an das Individuum, sondern an die Gruppe

Für Smith ist das Eigeninteresse also unvermeidlich gut, unabhängig davon, was damit bezweckt wird. Er ignoriert sowohl die Möglichkeit, dass das Eigeninteresse auch böse Folgen haben kann, als auch, dass Kurzsichtigkeit und Dummheit unerwartete Konsequenzen haben können – und zwar deshalb, weil er in Aggregaten denkt: Smith´ „unsichtbare Hand“ wendet sich nicht an das Individuum, sondern an die Gruppe. Das Individuum tut was immer es will: aber die kollektiven Handlungen von Tausenden oder Millionen von Individuen bringen gemeinsam eine bessere Gesellschaft hervor.

In dem folgenden Video können Sie Adam Smith´ „unsichtbarer Hand“ bei der Arbeit zuschauen:

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Wunderschön, oder? Millionen von Individuen wollen zu Abend essen. Sie alle verfolgen ihren eigenen Vorteil, aber sie wirken so, als wenn sie organisiert und angeleitet wären, ein wundervolles Muster zu kreieren. Sie fliegen, „als wären sie von einer unsichtbaren Hand geleitet“. Und berücksichtigen Sie, dass nur wir dieses Muster sehen können, aber die einzelnen Stare können es selbst nicht.

Für Smith sind Menschen wie die Stare aus dem Video: Menschen, die ihrem Eigeninteresse nachgehen, fliegen, „als wären sie von einer unsichtbaren Hand geleitet“, und zusammen formen sie unbewusst wunderschöne Muster. Als Einzelpersonen können wir die Muster nicht sehen, deren Teil wir sind – aber wenn wir zurück in die Geschichte schauen, können wir aufgrund der Handlungen unserer Vorfahren sehen, wie sich die Muster selbst formen und ausgestalten.

Smith´ Beobachtung ist positiv, optimistisch und für eine ausschwärmende Spezies wie die menschliche sehr akkurat: So lange wie die Mehrheit der Menschen ihren eigenen Vorteil friedlich verfolgt, muss das Ergebnis für die Gesellschaft von Vorteil sein.

Aber auch im folgenden Video können Sie der „unsichtbaren Hand“ bei der Arbeit zuschauen:

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Millionen von Individuen suchen nach einer Mahlzeit – aber dieses Mal formen sie kein harmloses und wunderschönes Muster, sondern ein destruktives und furchterregendes. Heuschrecken sind nicht die einzige Spezies, die eine komplette Volkswirtschaft ruinieren können, wenn sie ausschwärmen. Manche Vögel können das auch. In Afrika wird ein kleiner Vogel namens „Quelea“ überall gefürchtet, weil er ohne Vorwarnung in großen Scharen auftaucht und alles frisst, was ihm begegnet. Die inzwischen ausgestorbene Wandertaube war ein Schwarmvogel, der von den Farmern im Mittleren Westen der USA aus genau dem gleichen Grund gefürchtet wurde.

Das ist der Teil der Geschichte, den Smith weggelassen hat. Menschen sind eine ausschwärmende Spezies. Und Schwärme können gutartig sein – aber auch destruktiv. Und ganz wichtig: Menschen merken es in der Regel nicht, wenn sie ausschwärmen. Sogar wenn sie einer großen Bewegung angehören, die von denen gefürchtet wird, die ihren Weg kreuzen, verfolgen sie immer noch etwas, von dem sie glauben, dass es ihr Eigeninteresse ist. Man sollte sich auch daran erinnern, dass es auch Eigeninteresse ist, bei der Gruppe zu bleiben oder sich in sie einzufügen. Und wenn Menschen in einem Schwarm gefangen sind, benehmen sie sich untypisch und oftmals destruktiv. Der „Wahnsinn der Vielen“ treibt die Raserei voran.

Bösartige Schwärme werden vorsätzlich von mächtigen Einzelpersonen in deren Eigeninteresse angestachelt: die destruktivste Form des bösartigen Schwarms ist die imperialistische Expansion (denken Sie beispielsweise an die Goldene Horde der Mongolen). Aber manche Schwärme sind auch destruktiv, ohne bösartig zu sein. Die transatlantische Kreditblase war ein Musterbeispiel dafür: sie war nicht vorsätzlich angestiftet worden, um das Finanzsystem zu stürzen, aber hatte es trotzdem fast geschafft. Jeder war nur seinem Eigeninteresse nachgegangen, aber kollektiv waren die verfolgten Eigeninteressen keinesfalls so gutartig, wie Smith angenommen hatte, sondern hochgradig destruktiv. Wie gesagt: Wir erkennen nicht die Muster, von denen wir ein Teil sind…

Bisher wissen wir nicht, was das menschliche Schwarmverhalten auslöst, obwohl die Forschung auf diesem Gebiet weitergeht. Aber ob ein menschlicher Schwarm gutwillig oder destruktiv ist, ist auch eine Frage der Wahrnehmung. Wir begreifen den Starenschwarm aus dem ersten Video nicht als destruktiv, weil wir nicht von ihm gefressen werden. Aber die Insekten, die ihm zum Opfer fallen, dürften den Formationsflug (zurecht) als eine furchterregende destruktive Kraft sehen, die darauf aus ist, sie zu vernichten. Auf ähnliche Weise haben die Menschen in China keine Angst vor der jährlichen Migrationswelle, die einsetzt, wenn die Menschen anlässlich des Neujahrsfest nach Hause zurückkehren, was derzeit die größte menschliche Wanderung auf der Erde ist – aber die Menschen im Westen fürchten die Einwanderung von Migranten aus dem von Kriegen zerrissenen Ländern des Nahen Osten.

Selbst wenn wir als Einzelpersonen nur nach einem besseren Leben streben, kann uns die „unsichtbare Hand“ in die Zerstörung führen

Wir fürchten jene Schwärme, von denen wir glauben, dass sie unsere lebensnotwendigen Mittel vernichten oder uns auslöschen könnten. Und unsere Ängste sind begründet. Menschen sind eine ausschwärmende Spezies, und Schwärme können destruktiv sein. Selbst wenn wir als Einzelpersonen nur nach einem besseren Leben streben, kann uns die „unsichtbare Hand“ in die Vernichtung führen.

Zur Autorin:

Frances Coppola arbeitete 17 Jahre lang als Analystin und Projektmanagerin für verschiedene Banken. Mittlerweile ist sie eine renommierte Kolumnistin in zahlreichen internationalen Zeitungen, darunter die Financial Times und der Economist. Außerdem bloggt sie auf Coppola Comment, wo dieser Beitrag zuerst in englischer Sprache erschienen ist.