Soziale Folgen der Austeritätspolitik

Was bei den Griechenland-Verhandlungen wirklich auf dem Spiel steht

Die Griechenland-Krise ist wieder im Fokus der internationalen Medien. Aber man sollte sich vergegenwärtigen, dass die Krise für die Menschen in Griechenland nie weg war – tatsächlich werden die Folgen der Austerität Tag für Tag schmerzhafter. Ein Bericht aus der griechischen Provinz.

Blick über Trikala. Foto: Pedro via Flickr (CC BY 2.0)

Die Griechenland-Krise könnte spätestens im Sommer wieder mit voller Wucht zurückkehren. Bei der mit Spannung erwarteten Eurogruppen-Sitzung am Montag gab es in wesentlichen Punkten keine neue Entwicklung. Zwar werden Angaben der griechischen Regierung zufolge in der kommenden Woche wieder Vertreter der Troika nach Athen reisen, um die Durchführung von Reformmaßnahmen zu überprüfen. Allerdings ist nach wie vor offen, ob Griechenland dann auch tatsächlich frische Gelder erhält.

Weiterhin ungeklärt ist vor allem auch, ob der Internationale Währungsfonds (IWF) sich an dem laufenden Programm finanziell beteiligen wird – was unter anderem Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble zur Bedingung für die Fortsetzung des Programms gemacht hat.

Eine erneute Eskalation der Krise ist also weiterhin möglich, Griechenland steht wieder im Fokus der internationalen Öffentlichkeit. Aber man sollte sich vergegenwärtigen, dass die Krise für die Menschen in Griechenland nie weg war. Tatsächlich werden die Folgen der Austerität Tag für Tag schmerzhafter.

Meine Arbeit besteht darin, die Erfahrungen der Einwohner Zentralgriechenlands mit dieser nationalen und internationalen Krise aufzuzeichnen. Seit dem Jahr 2003 habe ich in der 80.000 Einwohner großen Gemeinde Trikala Feldforschung betrieben, die sich in den fruchtbaren Ebenen von Thessalien befindet, einer Region auf dem griechischen Festland. Thessalien wurde 1881 in den modernen griechischen Staat eingegliedert und ist berühmt für die aus der Osmanischen Zeit stammenden großen Gutshöfe. Noch heute gilt Thessalien als der „Brotkorb“ des Landes.

Bevor die Finanzkrise zuschlug, konnte man in den lebhaften Straßen von Trikala die Luft des Wohlstands geradezu einatmen. Die expandierende Bauwirtschaft, ein ausgeprägter öffentlicher Dienst und sichere Agrarmärkte, die von EU-Initiativen und der Euro-Mitgliedschaft gestützt wurden, hatte 30 Jahre nahezu ungebrochenen sozioökonomischen Fortschritts gebracht. Niemand hätte sich vorstellen können, welche furchtbaren Folgen die ökonomische Kernschmelze ab 2009 haben würde.

Im Oktober 2009 „entdeckte“ die griechische Regierung im Zuge der globalen Rezession, dass die griechischen Staatsschulden untragbar und das Haushaltsdefizit nicht zu bewältigen war. Seitdem hat Griechenland von der Europäischen Zentralbank, der EU-Kommission und dem Internationalen Währungsfonds Hilfen in Höhe von 326 Milliarden Euro erhalten und musste sich im Gegenzug zu harten Sparmaßnahmen verpflichten.

Die alltägliche Krise

Die Berichterstattung der auf Athen konzentrierten Medien porträtiert die Folgen der Austeritätspolitik hauptsächlich durch die Bilder von Massenprotesten, den Aufstieg der rechtsextremen Partei „Goldene Morgenröte“ und die Schwierigkeiten bei der Unterbringung von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten. Athen ist das Zentrum der politischen und ökonomischen Macht und die Heimat von ungefähr der Hälfte der griechischen Bevölkerung, daher ist die Fokussierung auf die Metropole verständlich.

Aber das bedeutet auch, dass zugunsten der dramatischen Schlagzeilen oft übersehen wird, was die Krise für das alltägliche Leben bedeutet. In Trikala müssen sich die Menschen jeden Tag damit herumschlagen, ihre Wohnungen zu beheizen, Essen auf den Tisch zu bekommen, ihre Familien zu unterstützen und ihren sozialen Status zu erhalten. Sie haben Angst davor, dass sich die Geschichte wiederholen könnte. Es ist eine Geschichte von Neokolonialismus, Besatzung, und einer vergifteten Zukunft.

Ich habe Dutzende von Menschen interviewt, deren Leben von neuen Steuern, Rentenkürzungen und einer steigenden Arbeitslosigkeit geprägt ist. Sie bemühen oftmals die Geschichtsbücher, um sich einen Reim auf das Leben mit der Austerität zu machen. Die Angst vor der Rückkehr in die Zeit des Hungers, wie etwa während der Großen Hungersnot im Zweiten Weltkrieg, ist weitverbreitet. Und ein EU-Programm, das den nationalen Schuldenstand durch die Installation von Solarpanels auf Ackerboden senken sollte, wird vor Ort als eine Rückkehr zur Ära der deutschen und osmanischen Besatzung angesehen.

Mir wird regelmäßig gesagt, dass sich „die Geschichte wiederholt“, „die Zeit stillsteht“ und „wir in die früheren Zeiten des Leids und der Armut zurückgeworfen werden“. Das alles führt dazu, dass heute in Trikala einer Art Schwindelgefühl vorherrscht – eine Konfusion darüber, wo und wann sich die Menschen auf der Zeitschiene des sozialen Fortschritts befinden, der doch einst ein versprochenes Geburtsrecht des neoliberalen Europas war.

Das Gefühl der Besatzung

Insbesondere die Art, wie die Energiepolitik seit der Wirtschaftskrise betrieben wird, verärgert die Menschen. Seit 2011 wurde die Solarenergie sowohl von der griechischen Regierung als auch von der EU als ein Weg gepriesen, um die Staatsschulden zurückzuzahlen. In der ganzen Region wurde ein großes Solar-Programm gestartet, von Hausinstallationen über Entwicklungen auf landwirtschaftlichem Boden bis hin zu großen Solarparks.

Aber trotz der erheblichen Aufnahmekapazitäten haben die lokalen Gemeinschaften kaum etwas von der produzierten Energie. Stattdessen wird sie in Griechenlands urbanen Zentren verbraucht, langfristig soll sie auch nach Deutschland exportiert werden. Das bedeutet, dass die Solarbranche kaum mehr als ein neuer extrahierender Wirtschaftszweig ist.

Weil sich die Menschen nicht länger die hohen Petroleumpreise leisten können, um ihre Zentralheizungssysteme zu befüllen, und die Stadt keine Gasleitungen hat, gab es in den Wintern seit 2012 eine massenhafte Rückkehr zu der Verbrennung von Holz auf offenen Feuern und in Öfen zu beobachten, wie sie zuletzt während der 70er Jahre populär gewesen waren. Dichter Rauch hüllt die Ortschaften in der Region ein, weil die Menschen alles verbrennen was sie nur können, darunter alte Möbelstücke, Schuhe, Kleidungen und ungeeignetes Holz. Die offenen Feuer sind zu einem nationalen Gesundheits- und Umweltrisiko geworden, die Regierung appelliert an die Menschen, zur Petroleumbeheizung zurückzukehren.

Somit sind zwei extrem unterschiedliche Energiequellen – Hightech-Solaranlagen und offene Holzverbrennungen – zu einem sehr sichtbaren Symbol der Wirtschaftskrise geworden: Die eine wird mit sauberer, grüner Energie, einer futuristischen Nachhaltigkeit, Ultramodernität und einem internationalen politischen Energiekonsens assoziiert. Die andere ruft Bilder von prä-moderner Unnachhaltigkeit, Verschmutzung, Armut und einer Rückkehr zum Kleinbauernstatus hervor. Beides ist symptomatisch dafür, wie die Menschen die Austeritätsmaßnahmen sehen – sie erregen Gefühle der Besatzung und des Neokolonialismus.

Was für eine Zukunft?

Die Menschen vor Ort stellen mir oft eine Frage: „Wann hört das auf?“ Für die Menschen ist es schwer, ein Licht am Ende des Tunnels aus ständig steigenden Steuern, Lohnkürzungen und Regierungsversagen zu sehen. Die Erschöpfung nach sieben Jahren der Krise, von der es offensichtlich keine Ruhepause gibt, hat ihre Fähigkeit beeinträchtigt, sich eine bessere Zukunft vorzustellen. Gefühle der Resignation und der Hilflosigkeit werden sowohl von jüngeren als auch von älteren Generationen ausgedrückt. Aber während die Älteren wissen, dass sie die Post-Krisen-Zukunft nicht mehr erleben werden, sind die jungen Menschen voller Misstrauen, Verachtung und Apathie.

„Bürokraten und Politiker in Berlin und Brüssel werden darüber entscheiden, ob ich eine Zukunft habe oder nicht. Sie werden entscheiden, ob ich lebe oder sterbe.“

Verschiedene aufeinanderfolgende Regierungen haben eine Rückkehr zum Wachstum und einen Ausweg aus der Krise versprochen – Versprechen, die sich als leer erwiesen haben. Meine Freundin Stella, eine Ladenbesitzerin in Trikala und Mutter von zwei Teenagern, fasst diese Stimmung so zusammen: „Bürokraten und Politiker in Berlin und Brüssel werden darüber entscheiden, ob ich eine Zukunft habe oder nicht. Sie werden entscheiden, ob ich lebe oder sterbe.“ Das ist es, worum es in den kommenden Monaten bei den Treffen der europäischen Finanzminister geht, und nicht einfach nur um die Aushandlung von Schuldenrückzahlungen – ihre Entscheidungen werden uns etwas mehr Klarheit darüber geben, wie die Zukunft aussehen wird.

 

Zum Autor:

Daniel M. Knight ist Dozent für Soziale Anthropologie an der University of St. Andrews. Seit 2003 forscht er in Thessalien zu den sozioökonomischen Auswirkungen der griechischen Wirtschaftskrise. Seine Ergebnisse hat er unter anderem in der Monografie „History, Time, and Economic Crisis in Central Greece“ aufgeschrieben.

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Dieser Artikel wurde zuerst von The Conversation in englischer Sprache veröffentlicht und von der Makronom-Redaktion unter Zustimmung des Autors und von The Conversation ins Deutsche übersetzt.The Conversation