Debatte Haushaltsüberschüsse

Wenn nicht jetzt, wann dann?

Es erscheint als ein Luxusproblem für die Politik: Wohin mit den Überschüssen in den öffentlichen Haushalten? Schulden tilgen, Investitionen erhöhen? Bei genauem Hinsehen ist eine Option den anderen überlegen: Die Zeit ist reif für eine Steuerentlastung, die diesen Namen verdient. Ein Debattenbeitrag von Tobias Hentze.

Die Politik sollte die Steuerschraube lösen und das Geld denjenigen zurückgeben, die es erwirtschaftet haben. Foto: Pixabay

Eine solche Situation ist der heutigen Politikergeneration unbekannt: Die Koalition weiß nicht, wohin mit dem ganzen Geld. Schon im Jahr 2015 konnte der Bund eine Rücklage von 12 Milliarden Euro bilden, jetzt kommen noch einmal 6 Milliarden Euro dazu. Und auch in den meisten Bundesländern steht im Haushaltsabschluss 2016 ein dickes Plus. Diese Überschüsse stellen die Politiker vor die Qual der Wahl. Dabei können sie auf den ersten Blick nicht viel falsch machen. Ob zusätzliche Investitionen oder Schuldentilgung – Applaus sollte ihnen sicher sein, da beides zukunftsgerichtet ist.

Oder sollte das Geld denjenigen zurückzugeben werden, die es erwirtschaftet haben? Viele in der Politik schrecken vor der Aussicht zurück, durch eine Steuerentlastung in Zukunft weniger Mittel zur Verfügung zu haben. Dabei wird umgekehrt ein Schuh daraus: Vor allem eine Steuersenkung kann nachhaltig – nämlich über eine Jahresfrist hinaus – einen wirtschaftlichen Impuls geben.

Die Indizien für die Notwendigkeit einer Steuersenkung sind erdrückend. Der Fiskus hat in den vergangenen zehn Jahren seine Einnahmen aus Steuern um mehr als 50% steigern können. Welcher Arbeitnehmer kann das schon von sich behaupten? Bereinigt um den Preisanstieg bleibt immer noch ein Plus von mehr als einem Drittel. Kein Wunder, dass sich diese Einnahmenentwicklung auch in der Steuerquote ausdrückt. Der Anteil der Steuereinnahmen am Bruttoinlandsprodukt ist in der zwölfjährigen Regierungszeit von Angela Merkel um fast 3 Prozentpunkte gestiegen. Während die Steuerquote im Jahr 2004 laut Finanzstatistik 19,5% betrug, liegt der Wert mittlerweile bei mehr als 22%. Das macht aus heutiger Sicht einen Unterschied in Höhe von rund 90 Milliarden Euro pro Jahr. Und die Steuerschätzung sagt für die kommenden Jahre weitere kräftige Zuwächse voraus.

 In kaum einem anderen OECD-Land werden insbesondere normalverdienende Singles durch das Zusammenspiel von Steuern und Sozialabgaben derart zur Kasse gebeten

So ist es kein Zufall, dass selbst die OECD – normalerweise kein glühender Verfechter von Steuersenkungen – die hohe Belastung in Deutschland anprangert. In kaum einem anderen OECD-Land werden insbesondere normalverdienende Singles durch das Zusammenspiel von Steuern und Sozialabgaben derart zur Kasse gebeten. Mehr als die Hälfte des Jahres arbeiten sie im Grunde nur für den Fiskus. Von dem oft bescheidenen Nettoeinkommen bleibt dann für die Altersvorsorge nicht viel übrig.

Die Politik hat in den vergangenen Jahren wenig bis nichts getan, um diese Fehlentwicklungen zu korrigieren. Deutschlands Mittelstandsbauch wächst seit Jahren. Dieser heißt so, weil der Einkommensteuertarif genau dort eine merkliche Wölbung hat, wo die Einkommen von Normalverdienern liegen. Die Wölbung führt dazu, dass die Mittelschicht besonders stark belastet wird. Eine Diät, also eine Begradigung der Kurve, würde der arbeitenden Bevölkerung mehr Netto vom Brutto lassen.

Wer den Progressionsstufen des Einkommensteuertarifs weiter folgt, stößt zudem viel schneller an den höchsten Punkt als in der Vergangenheit – sofern von der sogenannten Reichensteuer, die bei Jahreseinkommen von mehr als einer Viertelmillion Euro erhoben wird, abstrahiert wird. Denn der Spitzensteuersatz von 42% greift heute relativ betrachtet viel früher als in den ersten Jahren der Bundesrepublik. Wer als Single das 1,6fache des Durchschnitts, also gut 54.000 Euro, verdient, zahlt den maximalen Steuersatz auf den letzten verdienten Euro. Vor rund fünfzig Jahren entfiel der Spitzensteuersatz nur auf Menschen, die etwa das Zehnfache des Durchschnitts verdienten.

Immerhin: Minimal hat sich die Politik schon an den Steuertarif herangewagt und die heimlichen Steuererhöhungen durch die kalte Progression seit 2014 nachträglich zurückgenommen. Doch alleine durch die Inflation der Jahre 2010 bis 2013, in denen es zu keiner Tarifverschiebung kam und die kalte Progression zuschlug, nimmt der Staat heute fast zehn Milliarden Euro jährlich mehr ein.

Die Steuerpolitik sollte nicht nur Gerichtsurteile umsetzen

Wenn es in der jüngeren Vergangenheit zu steuerlichen Entlastungen kam, war zumeist ein Richterspruch der Auslöser dafür. Dazu gehören die vollständige Wiedereinführung der Pendlerpauschale genauso wie die Absetzbarkeit von Vorsorgeaufwendungen für die Altersvorsorge im Rahmen der nachgelagerten Rentenbesteuerung und von Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung, die ansonsten das steuerliche Existenzminium beeinträchtigen würden. Auch die Erhöhungen der Grund- und Kinderfreibeträge folgten einer rechtlichen Vorgabe.

Wer in erster Linie Urteile des Bundesverfassungsgerichts umsetzt und nicht selbst den Anspruch hat, Steuerpolitik zu gestalten, darf sich über unerwünschte Folgen nicht wundern. Denn durch die Verschiebung des Grundfreibetrags bei Beibehaltung der Progressionsstufen verläuft der Einkommensteuertarif steiler und die Grenzbelastung, also die Steuerzahlung auf einen zusätzlich verdienten Euro, geht sprunghaft nach oben. Der Anreiz, einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachzugehen, wird dadurch geschwächt. Dies gilt für Gering- und Normalverdiener, aber auch für nicht oder in Teilzeit arbeitende Ehepartner. Bessere Arbeitsanreize könnten daher einen Beitrag zu mehr Wirtschaftswachstum und Steuereinnahmen leisten.

Wer es trotz hoher Steuer- und Abgabenlast schafft, von seinem Nettogehalt einen Teil für den Ruhestand zur Seite zu legen, muss zusehen, wie sein Geld entwertet wird. Denn die Inflation hat wieder angezogen, während die Europäische Zentralbank (EZB) den Leitzins auf der Nullmarke hält. Das ist in einem System mit einer unabhängigen Zentralbank zwar nicht die Verantwortung der Politik, doch die Regierung hätte alle Möglichkeiten gegenzusteuern. Die Steuereinnahmen schießen wie eine Rakete nach oben, die vor sich hin plätschernden Zinsen sorgen für geringe Kreditkosten. Es ist schon bezeichnend, mit welcher Selbstverständlichkeit der Staat die Vorteile der Niedrigzinsen für sich behält, ohne die Bürger daran zu beteiligen. Zwar weiß niemand, wie sich die Zinsen in den kommenden Jahren entwickeln werden, doch Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung ist nichts Neues.

Es wäre ein positiver Nebeneffekt einer Steuersenkung, dass die Politik ihre Ausgaben stärker hinterfragen müsste

Daher zieht auch das Argument nicht, die Überschüsse seien ja nur temporär. Denn wie sich die Staatsfinanzen weiter entwickeln, hängt nicht nur von der Einnahmenseite ab. Vielmehr ist eine effiziente Verwendung der Ausgaben Tag für Tag Aufgabe der Politik. Sich an höhere Einkünfte zu gewöhnen, ist dagegen keine Kunst. Es wäre ein positiver Nebeneffekt einer Steuersenkung, dass die Politik auf Sicht ihre Ausgaben stärker hinterfragen müsste. Im Klein-Klein der Haushaltspolitik sind an vielen Stellen Effizienzgewinne möglich.

Scheinargumente gegen Steuerentlastung

Es gibt eine Reihe weiterer Scheinargumente, mit denen sich einige Politiker gegen jede Änderung am Steuertarif wehren: Eine Absenkung des Steuertarifs sei nicht gerecht, weil dann Gutverdiener in Euro gerechnet stärker profitierten als Geringverdiener. In einem progressiven Steuertarif ist das naturgegeben. Wer mehr verdient, zahlt auf jeden verdienten Euro ja genau aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit einen höheren Steuersatz. Daher sollte das Augenmerk eher auf der relativen Entlastung liegen – und die lässt sich durch Korrekturen an der richtigen Stelle steuern.

Auch die unendliche Geschichte des Solidaritätszuschlags zeigt eindrucksvoll, wie schwer sich Politiker von liebgewonnen Töpfen trennen können. Mehr als 25 Jahre nach der Wiedervereinigung zieht das Argument des Aufbaus Ost nicht mehr – das war damals die Begründung für die Einführung des Soli. Von den voraussichtlich 17 Milliarden Euro Einnahmen in diesem Jahr fließt nicht einmal mehr jeder dritte Euro in die ostdeutschen Bundesländer – der Rest fließt in den Staatshaushalt. Ab dem Jahr 2020 landet sogar alles zur freien Verfügung beim Finanzminister. Die Abschaffung des Soli steht derweil in den Sternen.

Es ist eine Grundsatzfrage, ob sich der Staat dafür rechtfertigen muss, den Bürgern Geld in Form von Steuern abzunehmen oder ob die Bürger begründen müssen, warum sie es denn behalten wollen. Nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit – Stichwort Berliner Flughafen oder Elbphilharmonie – spricht vieles dafür, dass der Staat in Erklärungsnot ist.

Und dabei gehen dem Staat die Argumente aus, sich an die Einnahmen zu klammern, zumal sich Alternativen zu einer Steuersenkung nicht aufdrängen. Denn kurzfristig sind die Investitionen offensichtlich bereits am maximal Möglichen angelangt. Die Planungskapazitäten in den Verwaltungen sind vielerorts erschöpft – so schnell kann das Defizit in der Infrastruktur also gar nicht behoben werden. Ohnehin bereitgestelltes Geld fließt zurzeit teilweise gar nicht ab. Eine weitere Ausweitung um jeden Preis würde vor allem die Gewinne der Auftragnehmer steigern. Gleiche Leistung für mehr Geld ist aus Sicht des Steuerzahlers jedoch kein guter Deal. Eine antizyklische Investitionsstrategie wird dafür umso wichtiger, wenn die Konjunktur einmal nicht mehr so rund läuft wie derzeit.

Eine einmalige Chance

Und auch wenn der Schuldenberg in Deutschland, der zweifelsfrei riesig ist, bisher kaum durch Tilgung abgebaut wird, sinkt immerhin bei ausgeglichenem Haushalt die Staatsschuldenquote, die den Anteil der Schulden am Bruttoinlandsprodukt angibt. Die Regierung rechnet damit, im Jahr 2020 auch ohne Tilgung das Maastricht-Kriterium einer Staatsschuldenquote von unter 60% zu erreichen. Damit steht die Bundesrepublik im Vergleich zu den europäischen Nachbarn alles andere als schlecht da.

Vielleicht handelt es sich angesichts der derzeitigen Haushaltsüberschüsse auf absehbare Zeit um eine einmalige Chance, nach Jahren des Nichtstuns einige Systemfehler zu beheben und wirtschaftliche Impulse durch eine Steuerentlastung zu setzen. Politische Mehrheiten dafür finden sich – wenn überhaupt – nur in guten Zeiten.

 

Zum Autor:

Tobias Hentze ist Experte für Finanz- und Steuerpolitik am arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW).

Hinweis:

Dieser Beitrag ist Teil einer Debattenserie zu der Frage, was der deutsche Staat mit seinen Haushaltsüberschüssen tun sollte. Hier finden Sie die anderen beiden Beiträge aus dieser Serie.