Für Normalsterbliche ist es immer wieder beruhigend, wenn auch die Götter an den Finanzmärkten nicht so genau wissen, was gerade passiert ist. Die jüngste Beruhigungspille in dieser Hinsicht gab es heute Mittag anlässlich der Bekanntmachung der geldpolitischen Beschlüsse der Europäischen Zentralbank.
Der Euro-Dollar-Kurs ist wohl das beste Echtzeit-Barometer dafür, wie die Finanzmärkte eine EZB-Maßnahme aufnehmen. Fällt der Euro, bewerten die Märkte die Entscheidungen in der Regel als Lockerung der Geldpolitik. Steigt er, wird eher eine Beibehaltung oder Straffung des bisherigen Kurses angenommen.
Heute ist nun Folgendes passiert: Zunächst legte der Euro kräftig zu, um dann doch kräftig zu fallen:
Der Grund dafür lag in der zunächst wie üblich per Pressemitteilung gemachten Ankündigung der EZB, ab dem April 2016 im Rahmen ihres QE-Programms nur noch monatlich Papiere im Wert von 60 Milliarden Euro aufzukaufen. Der bisherige Plan der EZB sah vor, bis März 2017 Anleihen im Wert von 80 Milliarden zu erwerben.
An den Märkten machte sofort ein Schlagwort die Runde: Tapering. Dieses Wort bezeichnet in einem finanztechnischen Sinne nach allgemeiner Auffassung die Reduzierung eines Anleihekaufprogramms durch eine Zentralbank – eine Definition die Draghi heute auch selbst verwendet hat. Das prominenteste Beispiel für eine solche Politik stammt aus dem Mai 2013. Damals deutete Ben Bernanke, der damalige Chef der US-Notenbank Federal Reserve, vor dem US-Kongress an, dass die Fed ihr QE-Programm in absehbarer Zeit zurückfahren könnte.
Und im Prinzip ist das, was die EZB heute verkündet hat, nichts Anderes. Aber eben nur im Prinzip. Denn der Unterschied zwischen den US-amerikanischen QE-Programmen und dem der EZB besteht unter anderem darin, dass die Fed von Anfang an darauf verzichtet hat, einen Endtermin für ihre Käufe anzukündigen. Es war also ein Open-End-QE-Programm und Bernankes Botschaft im Mai 2013 war, dass er es langsam auslaufen lassen könnte. Tapering eben.
Verlängerung oder Tapering?
Im Fall des europäischen QE-Programms liegt die Sache etwas anders. Die EZB hatte bei der Bekanntmachung des Programms im Januar 2015 zunächst den September 2016 als Endtermin festgelegt. Das monatliche Kaufvolumen sollte ursprünglich 60 Mrd. Euro betragen. Im März 2015 erfolgte dann eine Aufstockung der monatlichen Käufe auf 80 Milliarden, als neuer Endtermin wurde der März 2017 kommuniziert.
Die Schwierigkeit bei der Kommunikationsstrategie der EZB bestand darin, dass sie nie gesagt, was nach dem jeweils konkret festgelegten Endtermin passieren würde. Sie hatte immer nur gesagt, dass sie die Käufe „wenn nötig“ auch verlängern könnte. Eine schrittweise Rückführung der Käufe war also (theoretisch) genauso denkbar wie ein abruptes Ende.
Die Interpretation der heutigen Entscheidung hängt also sehr stark davon ab, welche persönliche Erwartung man an diesen Tag X hatte: Wenn man bisher der Auffassung war, dass die EZB nach dem genannten Enddatum Ihre Käufe abrupt einstellen würde, dann ist die heutige Entscheidung tatsächlich das, als was sie Draghi verkaufen will: eine Verlängerung.
Wenn man aber der (naheliegenden) Meinung war, dass die EZB nach dem Enddatum nicht unvermittelt ihre Shopping-Tour beendet, sondern sie langsam hätte auslaufen lassen, müsste die Bewertung der Entscheidung doch eher lauten, dass die Zentralbank heute die Reduzierung ihrer monatlichen Käufe verkündet hat. Die Schlussfolgerung hieße dann: Tapering.
Draghi selbst outete sich auf der heutigen Pressekonferenz übrigens mindestens indirekt als Anhänger der zweiten Theorie – kam aber zu jenem Schluss, der sich eigentlich nur aus der ersten Lesart ergibt. So sagte er auf Nachfrage, das QE-Programm sei „in gewisser Weise open-end“ gewesen und verwies auf die oben erwähnte „wenn nötig dann kaufen wir halt auch länger“-Formulierung. Übersetzt heißt das: Wir wussten doch alle, dass im März nicht Schluss sein würde. Gleichzeitig betonte er aber gefühlt ein Dutzend Mal, man habe noch nicht einmal über Tapering diskutiert und die Beschlüsse seien eine „Verlängerung“ des bisherigen Programms.
Es gibt eigentlich nur einen Hintergrund, der es trotzdem erlaubt, die heutige Entscheidung nicht als Tapering zu interpretieren. Dieser besteht darin, dass die EZB wohl relativ bald an die Grenzen ihrer selbstgesteckten Ankaufgrenzen gekommen wäre, wenn sie ihre bisherigen Kaufvolumina beibehalten hätte und schlicht zu wenig aufkaufbare Anleihen auf dem Markt gewesen wären bzw. sie den Markt zu stark ausgetrocknet hätte. Für diese Sichtweise spricht, dass die EZB heute ihr potenzielles Ankaufuniversum ausgedehnt hat. Sie erlaubt sich künftig, auch Anleihen mit kürzeren Laufzeiten zu kaufen. Außerdem hält sie sich die Option offen, anders als bisher auch Papiere mit einer Rendite unterhalb des derzeitigen Einlagenzinses (-0,4%) zu erwerben.
Aus der „Das-ist-kein-Tapering“-Fraktion kamen im Laufe des Nachmittags auch einige Charts, die zeigen, dass sich die EZB-Bilanz auch im kommenden Jahr weiter vergrößern wird. Das ist natürlich richtig, aber für die Frage „Tapering ja oder nein?“ keinesfalls der springende Punkt: Tapering bedeutet – jedenfalls laut der bisher gängigen Lesart – nicht, dass die Bilanz der Zentralbank zu schrumpfen anfängt – es bedeutet, dass sie weniger stark wächst, weil die Zentralbank ihre Bilanz durch zusätzliche Käufe nicht noch stärker ausweitet. Auch ein „getapertes“ QE-Programm ist immer noch ein QE-Programm.
Es wird jedenfalls hoch spannend zu sehen, wie Draghi irgendwann tatsächlich das offizielle Auslaufen der QE-Programme einleiten will. Wenn er seine heute angewendete Logik beibehält, wird er wahrscheinlich verkünden, die EZB werde das QE-Programm weiter fortsetzten, aber eben nur noch Anleihen im Wert von nullkommanull Euro pro Monat kaufen.
Auf den Märkten hatte der begnadete Kommunikator mit seiner Strategie jedenfalls offenbar Erfolg. Der Euro verlor gegenüber dem Dollar im Laufe des Nachmittags weiter an Wert, die europäischen Aktienmärkte schafften es, die in der ersten Schockreaktion erlittenen Verluste bis zum Handelsschluss weitgehend wieder wettzumachen. Und die Götter werden schon wissen, was sie da tun.