Am gestrigen Montag sorgte eine Meldung des Statistischen Bundesamtes für Schlagzeilen: „Die“ Geburtenziffer sei auf den höchsten Stand seit 1982 gestiegen, berichtete etwa die FAZ stellvertretend für viele andere Medien.
Die politische Instrumentalisierung der Zahlen ließ nicht lange auf sich warten: Laut einem Bericht der Rhein-Zeitung (Ausgabe vom 18. Oktober) ist Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) der Meinung, dass Studien gezeigt hätten, dass es nur ein einziges familienpolitisches Instrument gebe, das messbar die Geburtenrate erhöht: nämlich die Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur. „Mehr Kitaplätze und mehr Ganztagsschulen führen zu mehr Kindern“, so die Ministerin. Mit Maßnahmen wie dem ElterngeldPlus und dem weiteren Ausbau der Kinderbetreuung läge man also auf dem richtigen Weg.
Das ist nun – nett formuliert – eine überambitionierte Zusammenfassung der vielen Studien, die sich in den vergangenen Jahren mit der schwierigen Frage beschäftigt haben, welche Einflussfaktoren wie, wo und wann auf die Entscheidung zur Familiengründung einwirken – auch (und gerade) wenn man selbst ein Befürworter des Ausbaus der familienunterstützenden Infrastruktur ist, zu der aber eben nicht nur Kitas oder sogenannten Ganztagsschulen gehören, sondern selbstverständlich auch die Frage der materiellen Ausstattung der Familien. Zu behaupten, die Gleichung „mehr Kitas = mehr Babys“ könne aus der gegebenen Forschungslage eindeutig abgeleitet werden, ist schlichtweg falsch.
Es ist nicht schwer zu erraten, von welcher Seite die Zahlen ebenfalls sehr reflexhaft instrumentalisiert wurden: Es seien die ausländischen Frauen und „natürlich“ die Flüchtlinge, die hier „bei uns“ für mehr Kinder sorgen, war in den sozialen Netzwerken und einschlägigen Medien kurz nach der Veröffentlichung zu lesen (auf eine Verlinkung wird hier bewusst verzichtet). In der Ursprungsmeldung des Statistischen Bundesamtes hieß es dazu: „Vor allem bei den Frauen mit deutscher Staatsangehörigkeit nahm die Geburtenziffer nur geringfügig von 1,42 Kindern je Frau im Jahr 2014 auf 1,43 Kinder je Frau im Jahr 2015 zu. Bei den Frauen mit ausländischer Staatsangehörigkeit stieg sie dagegen deutlich von 1,86 auf 1,95 Kinder je Frau und trug damit zum Anstieg der zusammengefassten Geburtenziffer aller Frauen wesentlich bei.“ – was natürlich reichlich Munition für das Schüren von Überfremdungsängsten liefert.
Allerdings lohnt auch hier ein genauerer Blick in die Statistik. So teilte eine Sprecherin des Statistischen Bundesamts mit, dies sei vor allem auf die Zuwanderung von Frauen aus Südosteuropa zurückzuführen. Aus früheren Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamts vom September gehe hervor, dass im Vergleich zu 2014 im vergangenen Jahr vor allem mehr Frauen rumänischer Herkunft und früher angekommener Syrerinnen mehr Kinder bekommen hatten. Bei Frauen türkischer Staatsangehörigkeit seien die Zahlen hingegen zurückgegangen.
Es gibt nicht „die“ Geburtenrate
Einleitend hatte ich das „die“ vor der Geburtenrate in Anführungszeichen gesetzt – und zwar aus dem Grund, dass es eben nicht die eine Geburtenrate gibt. In der öffentlichen Debatte wird derzeit eine ganz bestimmte Geburtenrate herangezogen, bei deren Interpretation man einiges beachten sollte. Das Statistische Bundesamt schreibt dazu: „Die zusammengefasste Geburtenziffer wird zur Beschreibung des aktuellen Geburtenverhaltens herangezogen. Sie gibt an, wie viele Kinder eine Frau im Laufe ihres Lebens bekommen würde, wenn ihr Geburtenverhalten so wäre, wie das aller Frauen zwischen 15 und 49 Jahren im jeweils betrachteten Jahr.“
Wir haben es also mit einer Querschnittaufnahme aller Frauen zwischen 15 und 49 Jahren in einem Jahr zu tun. Nun gibt es nicht sonderlich viele Mädchen, die bereits mit 15 oder 16 Jahre Mutter werden. Außerdem steigt die zusammengefasste Geburtenziffer im Vergleich der (wohlgemerkt) Querschnittsaufnahmen eines jeden Jahres, wenn nicht nur einige, sondern viele Frauen ihren Kinderwunsch erst in einem höheren Alter realisieren. Dann tauchen sie in den vorherigen Jahren als „geburtenratensenkende“ Kinderlose auf, „korrigieren“ das aber zu einem späteren Zeitpunkt. Damit korrespondiert dann auch das (weiter) ansteigende Alter der Mütter bei der Geburt der Kinder.
Das heißt: Die Frage nach der Zahl der Kinder, die Frauen im Laufe ihres Lebens tatsächlich bekommen haben, kann ausschließlich für Frauenjahrgänge beantwortet werden, die das Ende des gebärfähigen Alters erreicht haben, das statistisch mit 49 Jahren angesetzt wird.
Die Abbildung verdeutlicht die langfristige Entwicklung dieser Geburtenrate. Und offensichtlich ist bis zum aktuellen Rand der Zeitreihe ein Sinkflug nach unten zu erkennen.
Noch Ende des vergangenen Jahres berichtete das Statistische Bundesamt: „Seit der deutschen Vereinigung sank diese sogenannte endgültige Kinderzahl je Frau um 19%.“ Aber auch diese – sachlogisch immer lange nachlaufenden – Werte für die endgültige Kinderzahl können nur das Gesamtbild relativieren. Somit sollte man in der Demografie-Debatte mit Behauptungen wie einer „Trendwende bei der Geburtenrate“ sehr vorsichtig sein. Es mag zwar Anzeichen für eine solche Trendwende geben, allerdings haben wir noch nicht genügend Fakten, um diese wirklich als vollzogen zu betrachten und bewegen uns teilweise im sehr spekulativen Bereich.
Zum Autor:
Stefan Sell ist Professor für Volkswirtschaftslehre, Sozialpolitik und Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz und Direktor des Instituts für Sozialpolitik und Arbeitsmarktforschung (ISAM). Außerdem betreibt Sell das Portal Aktuelle Sozialpolitik, auf dem dieser Beitrag in einer früheren Form erschienen ist.