Wahlen in Russland

Warum Putins Popularität nicht unter der Wirtschaftskrise leidet

Die Partei von Wladimir Putin wohl erneut als klarer Sieger aus den am kommenden Sonntag stattfindenden russischen Parlamentswahlen hervorgehen – obwohl sich das Land in einer Wirtschaftskrise befindet. Die Gründe dafür liegen vor allem in der ökonomischen Entwicklung der Jahre 2000 bis 2014 und der Schwäche der Opposition.

Wladimir Putin während eines Besuchs auf der Krim-Halbinsel im August 2016. Foto: kremlin.ru

Während der letzten Jahrzehnte hatte Russland wiederholt mit ökonomischen Problemen zu kämpfen. In den frühen 90er Jahren hörte die russische Wirtschaft erst auf zu wachsen und begann dann zu schrumpfen. Dieser Prozess beschleunigte sich nach dem Start der radikalen Reformen von 1992 weiter. Eine leichte Erholung ließ sich kurz vor dem Zahlungsausfall von 1998 beobachten, der erneut das Bruttoinlandsprodukt des Landes reduzierte. Erst im Jahr 2000 begann eine Phase dauerhaftem Wachstums, die bis 2008 anhielt.

Während dieser Jahre litt die russische Bevölkerung sehr stark. Im Vergleich zur Situation im Jahr 1990 fielen die Realeinkommen um fast die Hälfte. Wegen einer chronischen Unterfinanzierung gab es erhebliche Probleme bei der öffentlichen Gesundheitsversorgung und im Bildungssystem. Ende der 90er Jahre wurden Renten und Gehälter im öffentlichen Dienst über Monate hinweg nicht bezahlt, der Schuldenberg wuchs weiter an.

Die sozialen Auswirkungen dieser Situation zeigten sich deutlich in einer sinkenden Geburtenrate und einer vor allem bei Männern im mittleren Alter höheren Sterberate. Dennoch gab es in den 90er Jahren keine größeren sozialen Proteste. Die einzige Ausnahme waren die Bergarbeiter-Streiks von 1997 und 1998. Aber auch diese Proteste führten nicht zu einer Änderung der Sozialpolitik. Stattdessen spiegelten die einzigen Veränderungen Konflikte innerhalb der politischen Elite Russlands wider.

Der Homo sovieticus

Das wirft die Frage auf, warum die russische Bevölkerung trotz der erheblichen Verschlechterung der Lebensbedingungen ihren Unmut gegenüber den von ihren politischen Anführern getroffenen Entscheidungen nicht viel stärker artikulierte. Um diese Frage zu beantworten, muss man das Vermächtnis der Sowjetzeit im Hinterkopf behalten: ein totalitäres Regime hatte es in gewisser Weise geschafft, die Sichtweisen und Weltanschauungen der Mehrheit der Bevölkerung anzupassen. Die Folge dieser Politik war das, was Yuri Levada und seine Kollegen die Erschaffung des Homo sovieticus nennen: vollständig sozialisierte Männer und Frauen, die sich sehr stark an die gegebene und unvermeidliche soziale Realität angepasst hatten.

Sie konstatieren, dass „im Sowjet-System auf individueller Ebene der gesamte Austausch mit der Regierung unvermeidlich zu moralischer Korruption führte, (…) wobei Vetternwirtschaft, Korruption und widersprüchliche Denkweisen eine notwendige Voraussetzung für das Funktionieren von Wirtschaft und Gesellschaft waren.“ Der Kollaps des Sowjet-Systems beendete dies nicht, sondern „schaffte lediglich die sozialen und institutionellen Regulatoren ab, die die Effekte der verderblichen Mechanismen begrenzt hatten“.

In diesem Kontext ist es nicht überraschend, dass Russland keine Politiker hatte, die Proteste organisieren konnten, und es auch keine Individuen gab, die fähig und gewillt waren, sich in einer Oppositionsbewegung zu engagieren – im Gegensatz beispielsweise zu Polen, wo das Sowjet-Regime nur 40 Jahre andauerte und nicht so rigide war wie in der Sowjetunion, und die Situation Raum für die Solidarność-Bewegung bot.

Trotz ihrer demokratischen und ökonomischen Reformen der 90er Jahre war die neue russische Regierung im Umgang mit der Opposition vollkommen unflexibel. Wladimir Putins Amtsantritt im Jahr 2000 schien ein Zeichen des Wandels zu sein. Der Führungswechsel hatte kurzfristige stabilisierende Effekte, nicht zuletzt auch deshalb, weil er sich in einer Zeit rasant steigender Ölpreise vollzog. Das bot der Regierung die Möglichkeit, das Problem der ausstehenden Pensions- und Lohnverpflichtungen zu lösen und die Sozialprogramme zu verstärken.

Selbst die Wirtschaftskrise von 2008 bis 2010 konnte den neuen russischen Optimismus nicht abschwächen

Laut den offiziellen inflationsbereinigten Zahlen waren 2008 die Haushaltseinkommen und durchschnittlichen Rentenzahlungen um das 2,2fache höher als noch im Jahr 2000, die Durchschnittsgehälter waren um das 2,8fache gestiegen. Die Menschen fingen an, Autos zu kaufen, Wohnungsbaukredite aufzunehmen und in den Urlaub zu fahren, während die Geburtenzahlen zu steigen begannen. Es sah so aus, als wenn diese sozialen Fortschritte auf absehbare Zeit weitergehen würden. Der Glaube daran war so stark, dass auch die Wirtschaftskrise von 2008 bis 2010 den neuen Optimismus in der russischen Gesellschaft kaum abschwächen konnte. Der Staat griff ein, um eine Verschlechterung der sozialen Verhältnisse zu verhindern – in vielerlei Hinsicht verbesserten sich die Bedingungen bis 2014 weiter.

Aber dieses Bild war nicht von Dauer und seit mittlerweile zwei Jahren erlebt die russische Bevölkerung sinkende Reallöhne und -Gehälter und ein Gesundheitssystem, dass immer weniger bezahlbar wird. Allerdings ist das Ausmaß dieser Verschlechterung nicht sonderlich groß. Beispielsweise betrug der Abfall des Realeinkommensniveaus der Bevölkerung 2014/15 nur 5% – das ist wesentlich weniger, als das extreme Wachstum seit dem Jahr 2000 zuvor aufgebaut hatte.

Schwache Opposition

Aber es gibt noch einen anderen Grund, warum soziale Proteste in der russischen Bevölkerung nicht sonderlich populär sind: das Fehlen einer authentischen Opposition, die Bürger dazu inspirieren könnte, ihren Unmut zu äußern. Das spiegelt zum Teil die Transformation wider, die die staatlichen Behörden im Wesen des politischen Systems vollzogen haben. So hat die russische Regierung eine erfolgreiche Informations- und Propaganda-Kampagne geführt, die die Bürger davon überzeugte, dass der Großteil der momentanen Probleme nicht von Dauer sein wird. Putin wurde der Bevölkerung als charismatischer Anführer präsentiert, der in der Lage ist, trotz aller Schwierigkeiten einen Weg nach vorne zu finden. Und die Kombination dieser Faktoren sorgt dafür, dass es auf absehbare Zeit in Russland aller Voraussicht nach keine Massenproteste geben wird.

Alle makroökonomischen Prognosen, inklusive der offiziellen russischen, gehen davon aus, dass das Wachstum in den nächsten 10 bis 15 Jahren kaum stärker als 1,5% pro Jahr sein wird. Für die Mehrheit der Bevölkerung bedeutet das – im besten Fall – stagnierende Lebensstandards. Falls die Regierung jedoch ihre Reformanstrengungen verstärkt – und zwar nicht nur die ökonomischen, sondern auch die der politischen Institutionen – könnte das Bild ein positiveres sein.

Aber diese Reformen würden höchstwahrscheinlich sozial schmerzhaft sein, wenn beispielsweise ineffiziente Arbeitsplätze gestrichen werden, die derzeit vielen Menschen eine Anstellung bieten. Es bleibt eine offene Frage, ob das aktuelle Regime unter diesen Bedingungen auch langfristig die Unterstützung der Öffentlichkeit erhält oder ob es nicht doch auf „ukrainische Weise“ ersetzt wird. Die Antwort auf diese Frage werden wir nicht in den Wahlen am 18. September finden, sondern erst in den nächsten Jahren erhalten.

 

Zum Autor:

Evgeny Gontmakher ist Vizedirektor des Primakov National Research Institute of World Economy and International Relations an der Russischen Akademie der Wissenschaften.

Hinweis:

Die englische Originalfassung des Textes ist zuerst erschienen auf dem EUROPP-Blog der London School of Economics and Political Science (LSE). Die Übersetzung erfolgte mit Genehmigung von EUROPP.